Nicht vergessen und Druck aufbauen!

Mani ist in der irani­schen Diaspora in Zürich aufge­wachsen. Aus Angst vor Konse­quenzen hat sich Mani bisher aller­dings nicht zu den Prote­sten geäus­sert. Eine Refle­xion über die irani­sche Revo­lu­tion und darüber, was wir tun können, um sie zu unterstützen. 
Die feministische Revolution im Iran hält seit Monaten an. (Bild: Craig Melville / Unsplash)

Jîna Amini wurde am 16. September 2022 ermordet. Sie war eine junge Frau aus der west­ira­ni­schen Stadt Saqqez, gerade zu Besuch in Teheran, als sie von der Sitten­po­lizei darauf hinge­wiesen wurde, dass sie ihr Kopf­tuch nicht ange­messen tragen würde. Aus diesem Grund wurde sie auf die Poli­zei­sta­tion mitge­nommen, wo sie kurze Zeit später zusam­men­brach und plötz­lich verstarb.

Offi­ziell heisst es, dass sie unter Vorer­kran­kungen litt, die zum Tod geführt hätten. Sehr viel wahr­schein­li­cher ist jedoch, dass sie mittels Schläge auf den Kopf in Poli­zei­ge­wahrsam umge­bracht wurde. Dieser Vorfall war der Tropfen, der das Fass zum Über­laufen brachte und eine Protest­welle auslöste, wie sie die isla­mi­sche Repu­blik seit ihrer Grün­dung nicht gesehen hat.

Wenn man wie ich in der irani­schen Diaspora aufwächst, dann wächst man mit Geschichten von Doppelbürger*innen auf, die im Gefängnis gelandet sind, weil sie sich trauten, über Miss­stände im Iran zu schreiben.

Ich habe lange zur Situa­tion im Iran geschwiegen. Um genau zu sein, mein ganzes Leben lang. Ich hatte Angst, dass ich nicht mehr einreisen könnte. Noch mehr Angst hatte ich aber davor, nicht mehr ausreisen zu können.

Wenn man wie ich in der irani­schen Diaspora aufwächst, dann wächst man mit Geschichten von Doppelbürger*innen auf, die im Gefängnis gelandet sind, weil sie sich trauten, über Miss­stände im Iran zu schreiben. Damit bringt man nicht nur sich selbst in Gefahr, sondern auch die eigene Familie, die dort lebt. Diese könnte jeder­zeit verhört und dazu gezwungen werden, sich von „Vater­lands­ver­rä­tern“ zu distan­zieren. Aus diesem Grund vermied ich es bisher, mich öffent­lich zur Regie­rung und der poli­ti­schen Situa­tion im Iran zu äussern.

Ange­sichts der aktu­ellen Gewalt­ex­zesse kann ich aber nicht länger schweigen. Ich möchte nicht länger in meiner Ohnmacht gefangen sein und zusehen, ohne aktiv zu werden, weil ich mich ständig um meine Familie sorgen muss.

Es geht um mehr als das Kopftuch

Die erste Frage, die mir Personen hier in der Schweiz jeweils stellen, wenn wir auf den Iran zu spre­chen kommen, ist, ob ich ein Kopf­tuch tragen muss, wenn ich meine Familie besu­chen gehe. Meistens bleibt das die einzige Frage.

In meiner Familie tragen viele das Kopf­tuch frei­willig. Alle sind aber der Meinung – wie die meisten Iraner*innen –, dass Frauen nicht vorge­schrieben werden darf, wie sie sich zu kleiden haben. Die jetzigen Proteste sind deshalb selbst­ver­ständ­lich femi­ni­sti­sche Proteste gegen Klei­der­vor­schriften. Die patri­ar­chale Unter­drückung von Frauen und (gender-)queeren Menschen geht aber weit über den Kopf­tuch­zwang hinaus und betrifft alle Lebens­be­reiche. Beispiels­weise zählt die Stimme einer Frau vor Gericht nur halb so viel wie die eines Mannes.

Die Proteste richten sich aber auch gegen die jahre­lange Unter­drückung von reli­giösen und ethni­schen Minder­heiten, die Verfol­gung von poli­ti­schen Aktivist*innen, gegen ihre Folter und Tötung. Auch die Miss­wirt­schaft und Abschot­tung sowie unwür­dige Arbeits­be­din­gungen tragen dazu bei, dass die jetzigen Demon­stra­tionen seit über drei Monaten nicht abreissen.

Poli­ti­sche Aktivist*innen und Strei­kende im Iran halten uns dazu an, die Aufmerk­sam­keit nicht zu verlieren. Druck von aussen – von den Strassen und sozialen Medien – kann einen Beitrag dazu leisten, das Regime im Iran zu beeinflussen.

Bestimmt habe ich es mir auch bis zu einem gewissen Grad einfach gemacht, indem ich bisher nicht über die Situa­tion im Iran geschrieben und mich auch auf Social Media nicht dazu posi­tio­niert habe. Obwohl ich selbst­ver­ständ­lich eine klare Posi­tion vertrete.

Ich habe mich bis anhin auch deshalb nicht posi­tio­niert, weil es nicht einfach ist, an vertrau­ens­wür­dige Infor­ma­tionen heran­zu­kommen. Die irani­sche Regie­rung sorgt dafür, dass in kriti­schen Momenten der Inter­net­zu­gang einge­schränkt oder komplett einge­stellt wird. Beson­ders in den Regionen, die von Minder­heiten bewohnt werden, wie etwa Kurdi­stan, Belut­schi­stan oder Khuzestan werden so die schlimm­sten Gräu­el­taten verschleiert. Auch Jîna Amini stammte aus Kurdistan.

Durch diesen Mangel an Infor­ma­tion erfahren wir in der Schweiz auch erst im Nach­hinein davon, wenn an Demon­stra­tionen im Iran geschossen wurde oder gar ganze Gebiete bombar­diert wurden. Neben dem Gebrauch von Muni­tion werden Verge­wal­ti­gungen als Abschreckungs­taktik einge­setzt und bevor­zugt gegen Frauen und Kinder einge­setzt. Bisher weiss man von über 400 Toten, davon über 50 Kinder und Jugend­liche. Weitaus mehr wurden verletzt. Jedes Mal, wenn ich denke, dass die Gewalt ein Ausmass erreicht hat, dass nicht mehr zu über­bieten ist, errei­chen mich neue, noch schockie­ren­dere Nachrichten.

Protest­ak­tionen von Studie­renden und Streiks von Arbeiter*innen

Es ist nicht schwer, sich vorzu­stellen, dass der Rück­halt, den das Regime in der Gesell­schaft noch geniesst, verschwin­dend gering ist. Der Unmut ist in allen Gesell­schafts­schichten gross. Schü­le­rinnen und Studie­rende prote­stieren und streiken genauso wie etwa Arbei­te­rinnen der Ölfirmen. Während es in Teheran immer wieder Momente der Ruhe gibt, kennen einige der Rand­re­gionen, die schon lange unter­drückt werden, seit drei Monaten nichts als den Ausnah­me­zu­stand. So auch Saqqez, die Herkunfts­tadt von Jîna Amini, in der haupt­säch­lich Menschen aus der Arbeiter*innenklasse leben.

Poli­ti­sche Aktivist*innen und Strei­kende im Iran halten uns dazu an, die Aufmerk­sam­keit nicht zu verlieren. Druck von aussen – von den Strassen und sozialen Medien – kann einen Beitrag dazu leisten, das Regime im Iran zu beein­flussen. Es ist daher wichtig, dass die Menschen im Iran nicht in Verges­sen­heit geraten. Auch wenn die mediale Aufmerk­sam­keits­spanne gene­rell sehr gering ist, selbst bei lebens­be­dro­henden Umständen und revo­lu­tio­nären Protesten.

Ich habe lange zur Situa­tion im Iran geschwiegen. Um genau zu sein, mein ganzes Leben lang.

Tausenden poli­ti­schen Gefan­genen wird im Moment mit Exeku­tionen gedroht. Es herrscht die begrün­dete Angst, dass diese ausge­führt werden, sobald die Welt wieder wegschaut. Unter den Gefan­genen, denen der Tod droht, sind auch die beiden Journalist*innen, die die Ermor­dung von Jîna Amini publik gemacht haben.

Gegen die Ohnmacht und das Vergessen

Was können wir also als Einzelne tun, um den Menschen im Iran zu helfen? Der Zahlungs­ver­kehr in den Iran ist extrem einge­schränkt oder gar komplett blockiert, was die finan­zi­elle Unter­stüt­zung der Menschen vor Ort erheb­lich erschwert. Das ist eine Folge von jahre­langen Sank­tionen. Trotzdem gibt es einige Orga­ni­sa­tionen, die nicht im Iran ansässig sind und zum Beispiel Demon­stra­tionen orga­ni­sieren, an die man Geld spenden kann: Da wären beispiels­weise Freeiran.ch in der Schweiz oder Femi­nista Berlin in Deutschland.

Es ist eben­falls möglich, poli­tisch aktiven Menschen im Iran einen VPN zu kaufen, um ihnen einen unab­hän­gigen Inter­net­zu­gang zu ermög­li­chen. Eine Orga­ni­sa­tion, die ein solches VPN-Projekt unter­hält, ist zum Beispiel Disco Teheran.

Politiker*innen in der Schweiz müssen sich dafür einsetzen, Konten von Menschen, die wich­tige Rollen im irani­schen Regime einnehmen, einzu­frieren und diese Menschen ausserdem mit Einrei­se­sperren in die Schweiz zu belegen. 

Für Leute, die tech­nisch versiert sind, gibt es auch die Möglich­keit, selbst Proxy-Anbieter*in zu werden, damit Menschen vor Ort verschlüs­selt kommu­ni­zieren können und nicht Gefahr laufen, ins Visier der Sicher­heits­kräfte zu gelangen. Proxies sind Programme, die dabei helfen können, Internet-Sperren zu umgehen.

Während ich allge­meinen Sank­tionen sehr kritisch gegen­über­stehe, da sie meist die Zivil­be­völ­ke­rung und damit die Falschen treffen, erachte ich gezielte Sank­tionen als sinn­voll und ziel­füh­rend. Das bedeutet, dass sich Politiker*innen in der Schweiz dafür einsetzen müssen, Konten von Menschen, die wich­tige Rollen im irani­schen Regime einnehmen, einzu­frieren und diese Menschen ausserdem mit Einrei­se­sperren in die Schweiz zu belegen. So kann gezielt Druck auf die Macht­ha­benden ausgeübt werden. Und dazu braucht es Druck auf unsere Politiker*innen.

Wer kann, sollte deshalb unbe­dingt an Soli­da­ri­täts­kund­ge­bungen und Demon­stra­tionen in der eigenen Umge­bung teil­nehmen. Einer­seits werden so Menschen in der Schweiz auf die Situa­tion im Iran aufmerksam, ande­rer­seits ist es für die Menschen im Iran unglaub­lich wichtig zu sehen, dass sie nicht vergessen werden und ihre Revo­lu­tion auch im Ausland unter­stützt wird.

Wer selbst auf Social Media aktiv ist, kann Inhalte teilen, damit die Revo­lu­tion nicht in Verges­sen­heit gerät. Ozi Ozar infor­miert aus Berlin sowohl auf Insta­gram als auch auf Tiktok über die aktu­elle Situa­tion. Ozi ist vor einigen Jahren aus Teheran nach Deutsch­land gekommen. Auch die Jour­na­li­stin Daniela Sepehri infor­miert vertieft über Themen wie die Revo­lu­ti­ons­garde oder das Frau­en­ge­fängnis in Qarchak. Das Coll­ec­tive for Black Iranians macht aufmerksam auf Streiks und Proteste sowie auf jene Menschen, denen die Todes­strafe droht, wie etwa Niloofar Hamedi und Elham Moham­madi, die als Erste über die Ermor­dung von Jîna Amini berichtet haben. Um auch im digi­talen Raum Druck aufzu­bauen, kann man Politiker*innen in Beiträgen taggen, um sie auf spezi­fi­sche Posts aufmerksam zu machen.

Ich wünsche mir nichts sehn­li­cher, als dass die mutigen Menschen, die im Moment ihr Leben riskieren, um gegen ein unmensch­li­ches Regime zu prote­stieren, erfolg­reich sind und ich eines Tages in ein freies Land einreisen kann, um meine Familie wieder in die Arme schliessen zu können.


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