Oh du fröh­liche, oh du selige Familienaufstellung!

Feier­tage mit der Familie. Es ist die aufrei­bendste Zeit des Jahres – und doch meldet sich danach keiner fürs nächste Jahr ab. 
Drei Generationen Zukker! (Foto: Familie Zukker)

Es beginnt meist beim Christ­baum. Baum? Kein Baum? Wer schmückt ihn? Wer wischt die Nadeln zusammen? Also kein Baum. Oh, die Gans muss bestellt werden.

Der Whatsapp-Chat der Verwandten explo­diert, insbe­son­dere seit die Frau des Onkels die Emojis entdeckt hat. Aber sie ist ange­hei­ratet, darf also nicht wirk­lich mitreden. Wie wäre es mit asia­tisch? Oder indisch? Nein! Seit 30 Jahren gibt es die Gans, da kann man nicht mal schnell mit einem anderen Vorschlag um die Ecke kommen und Tradi­tionen bachab schicken.

Und dann diese leidigen Geschenke. Wir schenken uns nichts, hiess es letztes Jahr. Haupt­sache, wir sind alle zusammen. Und dann konnten es doch nicht alle lassen – ausser ich, die sich daran hielt und super­blöd dastand. Ich lerne schnell und suche dieses Jahr für alle drei (Vater, Mutter, Bruder) ganz indi­vi­du­elle Geschenke aus. Ich bekomme Reka-Checks (wünsch ich mir immer, find ich super nice), aber auch ein CK One Eau de Toilette (diesen Duft trage ich, seit ich sieb­zehn bin, nicht mehr) und eine straf­fende Body­lo­tion (inner­lich singe ich laut­stark: Was soll das bedeuten?). Aber Mutter hat sich dabei nichts gedacht, wirk­lich nicht. Es war die einzige, die es von Nivea noch gab. Alles wirk­lich gut gemeint, und wäre nicht Weih­nachten, würde ich mich auch nicht unver­hält­nis­mässig gekränkt fühlen.

Trotzdem kommen in meinem Hirn natür­lich die grossen Fragen: Wie gut kennen mich meine Eltern wirk­lich? Lasse ich sie zu wenig an meinem Leben teil­haben? Warum habe ich keine eigenen Kinder (auch wenn der Uterus gerade an Heilig­abend „Go go go!“ schreit)? Für die würde man das ganze Heiss­assa nämlich wieder machen: Baum, Krippe, Weih­nachts­lieder, Besche­rung (der Vater wäre dann das Christ­kind mit dem Glöck­chen und dem Engels­haar aus der Migros, das er am Baum vergisst), Geschenke (Lego, wo dann alle zusammen auf dem Boden bauen) und im Schlaf­anzug einen Weih­nachts­film für die ganze Familie schauen. Jetzt sind da aber keine Kinder oder Enke­lInnen, und ich sitze mit den Eltern und dem Bruder beim Essen. Kein Baum. Keine Gans. Und ohne Schnee draussen könnte man meinen, es sei ein ganz normaler Abend, an dem gerade alle Zeit hatten.

Um der drohenden Trost- und Bedeu­tungs­lo­sig­keit etwas entge­gen­zu­wirken, will ich die offenen Fragen klären am Heilig­abend. Die Eltern nach ihrer Kind­heit befragen, nach Tradi­tionen meiner Vorfahren. Fami­li­en­for­schung ist jetzt, mit über dreissig, für mich ein Thema, um besser zu verstehen. Um mich in Bezie­hungen besser zu verstehen und heraus­zu­finden, ob Vater oder Mutter auch hoch­sen­sibel waren. Oder ob es eine Streit­kultur gab in unserer Familie oder eher geschwiegen und abge­wartet wurde.

Aber auch dieses Jahr traue ich mich nicht zu fragen. Ich erzähle von der Arbeit (natür­lich habe ich zu allen Anfragen ja gesagt und bin ganz froh, dass ich über die Fest­tage arbeiten muss), der Bruder erzählt von der Arbeit, die Eltern erzählen von der Arbeit – aber auch von der drohenden Verän­de­rung durch die Pensio­nie­rung. Obacht, aufge­la­denes Thema! Themen­wechsel: Kommt Mutter morgen mit, wenn wir Oma im Pfle­ge­heim besu­chen? Nein. Jetzt wäre der Moment für eine Frage, was denn die Mutter von der Herkunfts­fa­milie des Vaters hält. Aber ich frage wieder nicht. Nach dem Dessert bin ich sehr müde. Ich fahre nach Hause und tele­fo­niere mit einer Freundin, die auch bereits fertig ist mit der Feierei.

Am 25. Dezember wird die Oma in Deutsch­land besucht. Sie ist 97, kann aber noch alle Lieder aus dem Kirchen­ge­sang­buch auswendig. Vater, Bruder und ich singen, was das Zeug hält, die Oma ist entzückt und will dann wieder alleine sein.

Am 26. Dezember kommt die Schwe­ster der Mutter zum Essen. Sie hat ein Gedächtnis wie ein Elefant und wüsste viele Geschichten aus der Kind­heit meiner Mutter, aber ich frage wieder nicht. Ich erzähle von der Arbeit, der Bruder erzählt von der Arbeit, die Tante und die Eltern erzählen von der Arbeit – und der drohenden Verän­de­rung durch die Pensio­nie­rung. Obacht... Nach dem Dessert bin ich sehr müde. Ich fahre nach Hause und tele­fo­niere mit einem Freund, der heute zwei Fami­li­en­essen (ein Patch­work­kind) hatte und mich nach Tipps gegen massive Über­fres­sen­heit fragt.

Am 27. Dezember stehe ich gera­dezu eupho­risch auf. Fühle mich unglaub­lich unab­hängig und weiss gar nicht, was ich als erstes machen will: Sauna, Film schauen, Cham­pa­gner trinken, bei Pfister ist alles 50%, bei Globus ist Sale – halt, arbeiten muss ich. Das habe ich mir ja gut einge­richtet, denke ich mir, und werde richtig wütend auf mich, dass ich nicht besser haus­halte mit den eigenen Ener­gien. Dass ich keine Luft habe, um Freun­dInnen zu treffen, weil ich so darauf bedacht war, ja nicht ins Prä- und Post-Weih­nachts-Loch zu fallen. Auf einem Post-it in der Küche notiere ich Ideen für Weih­nachten 2018: Pfarrer Sieber unter­stützen an Heilig­abend, in die Wärme fliegen, bei einer anderen Familie unter den Christ­baum sitzen, krank sein…

Und dann ist der 28. Dezember. Ich werfe das Post-it weg und denke, ach, es ist ja noch ein Jahr hin, so schlimm war’s gar nicht. Im Grunde wollen es doch alle einfach zusammen schön haben, und unsi­cher sind wir alle. Wir suchen uns ja gegen­seitig nicht aus. Ich mir nicht die Eltern und meine Eltern sich auch nicht mich als Tochter. Dann werde ich melan­cho­lisch und schreibe auf ein neues Post-it: Fragen stellen, kein Frosch sein, trau dich, was kann dir schon passieren?

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