Die letzten Wahlen in Bosnien und Herzegowina fanden vor vier Jahren statt. Das war 2018 – im gleichen Jahr, in dem der 21-jährige David Dragičević in Banja Luka, der Hauptstadt im Landesteil Republika Srpska, ermordet wurde.
Dass beides miteinander zu tun hat, liegt nicht nur an der zeitlichen Überschneidung. Im Fall Dragičević kulminieren eine Reihe politischer Konflikte, die Bosnien und Herzegowina auch in diesem Wahljahr wieder beschäftigen. Sie haben das Potential, den Staat, der sich aus der von Serb:innen dominierten Republika Srpska und der kroatisch und bosnisch-muslimischen Teilrepublik Föderation Bosnien und Herzegowina zusammensetzt, grundlegend zu verändern.
Alles begann am 18. März 2018, als der damals 21-jährige David Dragičević aus Banja Luka nach dem Ausgang nicht nach Hause kam. Sechs Tage blieb er verschwunden, dann wurde seine Leiche im flachen Wasser eines Flusses gefunden. Hinweise auf eine Straftat wurden von der Polizei ignoriert, der Tod blieb unaufgeklärt.
Nicht nur für die Familie lag die Vermutung nahe, dass David durch Polizeigewalt gestorben war und die Tat vertuscht werden sollte. In der Bevölkerung regte sich Widerstand.
Angeführt von Davids Vater Davor Dragičević kam es zu ersten Protesten, die sich schnell auf das ganze Land ausweiteten und für merkliche Verluste im Lager der regierenden nationalistischen Partei SNSD des Vorsitzenden Milorad Dodik sorgten. Aus den Protesten ging die Organisation Pravda za Davida (Gerechtigkeit für David) hervor, die bis heute Aufklärung fordert und sich gegen Korruption in der Politik und für Rechtsstaatlichkeit engagiert.
Vier Jahre später ist der Fall David Dragičević noch immer unaufgeklärt. Im Oktober 2022 wird wieder gewählt. Zeit, nachzufragen, wo Pravda za Davida heute steht.
Ein Herz aus Steinen und Blumen
Die Spurensuche beginnt am Tatort. An der Mündung des Flusses Crkvena in den Vrbas. Dort erinnert ein aus Steinen und Blumen gelegtes Herz an Davids Tod.
Sofija Grmuša kommt gelegentlich hier vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Die 32-Jährige, eine Bekannte von David und seiner Familie, hat Pravda za Davida vor vier Jahren mitbegründet. 2018 organisierte sie wöchentliche Demonstrationen auf dem Krajina Platz in Banja Luka und gilt seit dem als eine Sprecherin von Pravda.
Für Grmuša ist klar: „Wenn dieser Fall irgendwann aufgeklärt wird, braucht Bosnien und Herzegowina keine weiteren Reformen. Dann kommt das ganze korrupte System von selbst ins Wanken.“ Darin sieht sie auch den Grund, weshalb bis heute von staatlicher Seite kaum etwas unternommen wurde. Zu viele Offizielle hängen mit drin.
Die Polizei von Banja Luka versuchte anfangs, Davids Tod als eine Verkettung unglücklicher Umstände abzutun und ihn selbst als Kleinkriminellen zu diskreditieren. In einer Pressekonferenz vom 26. März 2018 behauptete Polizeichef Darko Ilić, es gäbe keine Hinweise auf ein Verbrechen.
David wäre am Vorabend seines Verschwindens in eine Kneipenschlägerei geraten, was die zahlreichen Blutergüsse an seinem Körper erkläre, und hätte danach auf dem Heimweg eine Wohnung ausgeraubt. Später sei er unter Alkohol- und Drogeneinfluss von einer Brücke gefallen und im Fluss ertrunken.
„Nichts davon wurde bewiesen“, sagt Grmuša. „Die Indizien zeigen viel mehr in eine andere Richtung.“
Untersuchung bestätigt Ermordung
Folgt man der Polizeitheorie, wäre Davids Körper sechs Tage im Wasser gelegen. Die Leiche wies bei ihrer Entdeckung jedoch keine entsprechenden Spuren auf. Auch der Gerichtsmediziner Željko Karan, der eigentlich einen Unfall diagnostiziert hatte, musste auf Anfrage von Journalist:innen einräumen, dass nicht mit Sicherheit gesagt werden könne, woher Davids Verletzungen stammten.
Pravda za Davida und ihre Unterstützer:innen sind sich darum sicher, dass David ermordet wurde. Eine parlamentarische Untersuchung in der Republika Srpska vom Mai 2018 gab ihnen Recht, konnte aber keine Verantwortlichen benennen.
Die Aktivist:innen vermuten: David war den Beamt:innen mit seinen Dreadlocks und dem legeren Auftreten ein willkommenes Ziel für Schikane und unbegründete Kontrollen. Eine dieser Kontrollen könnte aus dem Ruder gelaufen sein. David wurde geschlagen und gefoltert und starb an seinen Verletzungen.
„Die meisten jungen Menschen hier haben ständig Probleme mit der Polizei“, sagt Grmuša und verweist auf einen für die Balkanregion typischen Generationenkonflikt: Viele ältere Menschen stemmen sich gegen eine vermeintliche „Verwestlichung“ der Jugend. „Alles, was anders ist, wird verachtet und verfolgt. Die Behörden und Politiker:innen verstehen nicht, dass hier eine neue Generation herangewachsen ist, die nicht mehr ihre alten Werte teilt.“
Zwar gibt es auch für die Theorie eines Todes durch Polizeigewalt keine endgültigen Beweise. Doch alleine die Tatsache, dass in den letzten vier Jahren fast nichts geschehen ist, um den Fall aufzuklären, ist vielen Menschen in Bosnien und Herzegowina ein Anzeichen dafür, dass etwas vertuscht wird. Dass Beamt:innen ihre Kolleg:innen decken – bis in die höchsten Ebenen der Politik.
Den Protest in die Parlamente tragen
Entsprechend richteten sich die Demonstrationen für die Aufklärung der Todesumstände von Anfang an auch gegen die politische Klasse. Bei den Wahlen von 2018 machte sich das in Banja Luka mit Verlusten für die extrem nationalistische Partei SNSD von Milorad Dodik bemerkbar.
Jetzt, da es wieder auf Wahlen zugeht, will die Organisation Pravda za Davida das politische Moment bewusst nutzen, um Gerechtigkeit für David zu erreichen und die starren gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern.
Auftrieb gibt eine Entwicklung aus dem vergangenen Jahr: Nachdem selbst der Staatsanwalt der Republika Srpska den Fall David als Mord eingestuft hatte und es trotzdem zu keinen neuen Ermittlungsergebnissen gekommen war, übernahm Anfang 2021 der höhergestellte Bundesstaatsanwalt aus Bosniens Hauptstadt Sarajevo.
Parallel dazu ging aus der Organisation Pravda za Davida die politische Partei Pokret Pravde (Bewegung für Gerechtigkeit) hervor, die den Kampf gegen Polizeigewalt und Korruption von der Strasse in die Parlamente tragen will. Beteiligt sind Menschen aus ganz Bosnien und Herzegowina, die oft ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie David und seine Familie. Unter ihnen auch Angehörige des 2016 ermordeten Dženan Memić, dessen Tod ebenfalls nie aufgeklärt wurde.
Sie alle eint, dass sie die Politik des Ausgleichs zwischen den Ethnien, die unter anderem für die Korruption verantwortlich gemacht wird, satt haben. Statt Ausgleich zwischen ethnischen Gruppen sucht Pokret Pravde nach einer die Ethnien verbindenden Gerechtigkeit. „Das könnte eine Revolution werden“, meint Grmuša, „eine Revolution für das Hier und jetzt, die umsetzt, was Bosnien und Herzegowina immer schon sein sollte: ein friedlicher Vielvölkerstaat.“
Die nationalistische Karte ziehen
Bosnien und Herzegowina hat eines der kompliziertesten politischen Systeme Europas. Das Staatsoberhaupt wird durch ein sogenanntes Staatspräsidium vertreten, in dem je ein:e gewählte:r Repräsentant:in serbischer, kroatischer und muslimischer Bosniak:innen sitzt. Momentan sind das Milorad Dodik für die Serb:innen, Dragan Čović als Kroate und Šefik Džaferović für die muslimischen Bosniak:innen. Den Vorsitz hat turnusgemäss Džaferović inne.
Besonders Dodik und der nationalistische HDZ-Politiker Dragan Čović nutzen ihr Vetorecht regelmässig, um Reformen hin zu einem funktionierenden Staatsgebilde zu blockieren. Sofija Grmuša nennt das „die nationalistische Karte ziehen“.
Der Nutzen für die alten Herren liegt auf der Hand: Sie schüren rassistischen Hass unter ihren Anhänger:innen und halten den Staat Bosnien zugunsten der von ihnen kontrollierten Teilrepubliken funktionsunfähig. Ihre Macht gründet im desolaten Zustand des Gesamtstaats. Dementsprechend müssen sie von Zeit zu Zeit an dessen Grundpfeilern rütteln.
Milorad Dodik hat gerade erst wieder vorgemacht, wie das funktioniert. Ende 2021 erklärte er, für die serbische Teilrepublik Republika Srpska ein eigenes Militär und eine eigene Polizei sowie eine unabhängige Finanzbehörde schaffen zu wollen, was einer weitgehenden Abspaltung und einer Zerstörung des Gesamtstaats gleichkäme.
Das Parlament der Republika Srpska forderte daraufhin von der Regionalregierung, innerhalb von sechs Monaten ein entsprechendes Gesetzespaket vorzulegen. Diese Drohung hängt nun wie ein Damoklesschwert über dem Land und hilft im Wahlkampf den Nationalist:innen. Insbesondere Dodik, der für seinen Kurs Unterstützung aus Serbien, Ungarn und von Putins russischer Regierung bekommt.
Seit Dodik auch noch eine sogenannte „Anti-Terror-Übung“ in den Jahorina Bergen abhalten liess, liegt sogar wieder Krieg in der Luft. Von Jahorina aus schossen serbische Scharfschütz:innen bei der Belagerung Sarajevos im Bosnienkrieg zwischen 1992 und 1996 auf Zivilist:innen in der Stadt. Die Symbolik könnte also nicht drastischer gewählt sein. Und natürlich erhielt auch diese Aktion Unterstützung aus Serbien und Russland.
Nationalist:innen in die Enge gedrängt
Sofija Grmuša glaubt dennoch nicht an einen Krieg. So sehr die Nationalist:innen gegen den gemeinsamen Staat wettern, so sehr sind sie auf dieses grosse Feindbild angewiesen. Ein Muster, das sich vergleichbar auch bei dem mit Dodik verbündeten Populisten Viktor Orban und seinem Verhältnis zur EU findet.
Trotzdem ist bemerkenswert, wie Dodik sein Auftreten in den letzten vier Jahren radikalisiert hat. Der Grund – da sind sich die meisten Kommentator:innen einig – liegt in der schwindenden Zustimmung für seine Partei, die wiederum mit den bis heute anhaltenden Protesten von Pravda za Davida zu tun hat. Die Nationalist:innen fühlen sich von der ungekannten Macht auf der Strasse in die Enge gedrängt.
Um den Druck zu erhöhen und gleichzeitig an einem neuen System mitzuarbeiten, geht Pravda za Davida mit Pokret Pravde nun in die Politik und vernetzt sich mit anderen progressiven Kräften der Westbalkan-Region. Momentan tauscht man sich mit den beiden links-grünen Bündnissen Ne Davimo Beograd aus Belgrad und Možemo! aus Kroatien aus.
Ihnen allen geht es um eine grundsätzliche Alternative zu den im ethnischen und nationalistischen Denken der 1990er-Jahre verfangenen Parteien. Oder, wie Grmuša es ausdrückt: „Die wichtigste Protestform ist immer noch die Abwanderung. Junge Menschen verlassen das Land. Das müssen wir ändern. Die Jungen müssen hier bleiben und aktiv werden.“
Der Kampf um Gerechtigkeit für David hat diesen Aktivismus von Anfang an befeuert. Er ist bis heute treibende Kraft hinter den Bemühungen um eine neue Politik und wird es auf absehbare Zeit wohl auch bleiben.
Am 27. März 2022 zogen die Aktivist:innen von Pravda za Davida vor das Bundesgericht in Sarajevo und schlugen dort ein Protestcamp auf. Ganz vorne mit dabei ist wie immer Davids Vater Davor, der seit vier Jahren nach Antworten sucht. Er hat angekündigt, diesmal so lange vor dem Gericht auszuharren, bis aufgeklärt ist, wer seinen Sohn ermordet hat.
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