„Beim Matri­ar­chat haben wir es mit einer Art Ideo­logie zu tun“

Das Matri­ar­chat gilt in femi­ni­sti­schen Kreisen als gerechter, sozialer und konsens­de­mo­kra­ti­scher Gegen­ent­wurf zum Patri­ar­chat. Weshalb es sich dabei mehr um Wünsche als um Fakten handelt, erklärt Kultur­wis­sen­schaft­lerin Meret Fehl­mann im Interview. 
Ist das Matriarchat die Lösung auf das Problem namens Patriarchat? (Illustration: Anna Egli)

Das Lamm: Meret Fehl­mann, was müssen wir uns unter dem Konzept des Matri­ar­chats vorstellen?

Meret Fehl­mann: Seit etwa 160 Jahren spre­chen wir vom Matri­ar­chat. Vergleicht man die Debatte des späten 19. mit jener des 20. Jahr­hun­derts, merkt man, dass derselbe Begriff für zwei unter­schied­liche Vorstel­lungen von Matri­ar­chat verwendet wird.

Für welche?

Die frühen Theoretiker*innen des Matri­ar­chats meinten damit eigent­lich nur die Matri­li­nea­rität, also die Verwandt­schaft, die über die Mutter­linie weiter­ge­geben wird, während die Familie des Vaters mehr­heit­lich unwichtig ist. Aller­dings sagt Matri­li­nea­rität noch nichts Konkretes über die soziale Stel­lung der Frau aus.

Für Feminist*innen der zweiten Welle, die in den Sech­zi­ger­jahren statt­fand, bedeutet der Begriff Matri­ar­chat aber zum Beispiel sehr viel mehr als ledig­lich die Abstam­mung oder Besitz­an­sprüche der Mutter­seite. Sie verstanden darunter eine Gesell­schaft, die auf Frauen zentriert ist. Mutter­schaft nimmt dabei eine hoch­ge­schätzte Funk­tion ein und die Vorstel­lung von einem anderen sozialen Umgang mitein­ander ist zentral. Manchmal war damit auch der Kult einer grossen Göttin gemeint.

Dieser Text erschien zuerst in einer gemein­samen Ausgabe von das Lamm und dem Kultur­ma­gazin 041.

Was hat es mit der „grossen Göttin“ auf sich?

Es gibt die Vorstel­lung, dass man einmal nicht den grossen Gott – Vater unser und so weiter – verehrt habe, sondern dass es eben Göttinnen gegeben habe, die in verschie­denen Formen aufge­treten und alle Teil einer grossen Göttin gewesen seien. Diese Göttin habe die ganze Welt geboren und sei für alles verant­wort­lich. Und weil diese Göttin die Welt geboren habe, seien auch alle Frauen Göttinnen, weil sie zumin­dest theo­re­tisch gebären könnten.

Sowohl die Fokus­sie­rung auf die Gebär­fä­hig­keit als auch die Vorstel­lung, dass eine matri­ar­chale Gesell­schaft per se gerechter sei, da Frauen von Natur aus sozialer und fairer seien, ist sexi­stisch, trans­feind­lich sowie essentialistisch.

Ja, es ist wahr­lich keine eman­zi­pa­to­ri­sche Vorstel­lung, die auch nicht mit modernen Queer-Theo­rien zusam­men­zu­bringen ist. Wenn man sich ansieht, wie die Vorstel­lungen von einer matri­ar­chalen Gesell­schaft oft konstru­iert werden, dann findet man auch hier das Bild der nährenden, tröstenden Frau, die für die sozialen und emotio­nalen Belange zuständig ist. Die Frau gilt auch oft als spiri­tuell höher entwickeltes Wesen – als Heilerin und Pflegerin.

Die bürger­liche Rollen­ver­tei­lung wird hier also zemen­tiert. Es findet einfach eine Umwer­tung statt: Weib­liche Attri­bute werden positiv konno­tiert, männ­liche gelten im besten Fall als neutral – oder direkt als Ursache für den schlechten Zustand der Welt.

Eine matri­ar­chale oder matri­li­neare Gesell­schaft ist also nicht unbe­dingt erstrebenswert?

Es gibt Personen, die sagen, dass uns die patri­ar­chale Gesell­schaft in den Ruin getrieben habe und es deshalb Zeit für eine matri­ar­chale Ordnung sei. Das finde ich unsinnig und denke: Nein, räumt den Mist doch selbst auf (lacht).

Meret Fehl­mann ist eine Schweizer Kultur- und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin, die sich vor allem durch ihre Forschungen zur Gebrauchsgschichte des Matri­ar­chats einen Namen im wissen­schaft­li­chen Diskurs gemacht hat.

Woher kommt die Idee einer matri­ar­chalen Gesellschaft?

Die Matri­ar­chats­ge­schichte beginnt irgend­wann im 19. Jahr­hun­dert. Damals ging man von der Idee der Mutter-Kind-Bezie­hung als Ursprung von Gesell­schaft aus. Denn wer die Mutter ist, ist meistens klar – der Vater ist schwie­riger fest­zu­stellen. Die Mutter-Kind-Bezie­hung diente also als Ausgangs­punkt, auch für die staat­liche Ordnung. Man stellte sich die Frage, was alles vor dem Konzept der patri­ar­chalen Klein­fa­milie hatte passiert sein müssen, und landete beim Matri­ar­chat – oder eben bei der Matri­li­nea­rität, die man der Vergan­gen­heit zuordnete.

Und inwie­fern sollte diese Gesell­schafts­form gerechter sein?

Es gibt das Bild der grossen Mutter, die alles weiss und gerecht ist. Sozia­li­sti­sche Denker wie Fried­rich Engels oder August Bebel meinten, dass man zur Zeit des Matri­ar­chats noch kein Privat­ei­gentum kannte und die Gesell­schaft noch gerecht war.

Man bezog sich also auf ein Modell, von dem nicht sicher war, ob es über­haupt jemals existierte?

Es ging darum, sich Alter­na­tiven zur herr­schenden Gesell­schaft auszu­denken. Das Matri­ar­chat mit dem Bild der gerechten Mutter bot sich da gut als Symbol an. Es ging also um Fanta­sien, Vorstel­lungen und Wünsche, die darauf proji­ziert wurden. Das sollte mit Skepsis betrachtet werden.

Wieso?

Die Sozialist*innen bedienten sich beim Gedan­ken­kon­strukt des kultu­rellen Evolu­tio­nismus, um zu illu­strieren, dass die unter­drücke­ri­sche patri­ar­chale Gesell­schaft mit dem Privat­ei­gentum keine unan­tast­bare Instanz sei, sondern dass es Zeiten gegeben habe, in denen es anders gewesen sei – und dass nach diesem Vorbild die Zukunft errichtet werden könnte. Aus diesen Umständen auf das Matri­ar­chat als Lösung zu schliessen, zeigt für mich, dass wir es beim Matri­ar­chat mit einer Art Ideo­logie zu tun haben.

Ein rück­wärts­ge­wandtes Konzept also?

Vor allem eines, das nicht auf Fakten beruht, sondern auf Wünschen und Ideen, die man in der Vergan­gen­heit verortet. Viele Feminist*innen der ersten Welle wollten wieder zurück­haben, was sie vermeint­lich einmal hatten. Also Anspruch auf Eigentum und die Verwandt­schaft mit ihren Kindern.

Hat die Verklä­rung des Matri­ar­chats­be­griffs auch etwas Gutes?

Es offen­baren sich neue Vari­anten, wie wir unser soziales und gesell­schaft­li­ches Leben gestalten können. Es zeigt sich, dass nicht alles so sein muss, wie wir es in bürger­lich-libe­ralen Demo­kra­tien gewohnt sind. Es gibt noch ganz andere Möglich­keiten als die Kern­fa­milie mit Mutter, Vater und Kindern – und zwar schon seit sehr langer Zeit.

Auch in Zusam­men­hang mit soge­nannten indi­genen Bevöl­ke­rungen spricht man vom Matri­ar­chat. Ist dort klarer, was damit gemeint ist?

Bei einigen indi­genen Völkern wurde der Begriff des Matri­ar­chats verwendet. Wenn man aller­dings genauer hinsieht, merkt man, dass es sich eher um eine Art der Matri­li­nie­arität handelt.

Dann gibt es auch Gesell­schafts­mo­delle, die soge­nannt matrif­okal orga­ni­siert sind. Das beschreibt ein soziales Gefüge, in dem die Männer in die Fami­lien der Frauen wech­seln und ihre Familie verlassen.

Ich bin der Meinung, dass dieje­nigen Gesell­schaften, die als Matri­ar­chat bezeichnet werden, eigent­lich matri­li­near oder matrif­okal orga­ni­siert sind. Teil­weise haben dort die Frauen viel im fami­liären Bereich und im Haus­halt zu bestimmen, aber trotzdem sind es die Männer, die zum Beispiel das Geld nach Hause bringen.

Gibt es ein konkretes Beispiel dafür?

Ein Beispiel, das immer kommt, wenn es ums Matri­ar­chat geht, sind die Irokesen in Nord­ame­rika. Diese hätten einmal ein goldenes, matri­ar­chales Zeit­alter gehabt, irgend­wann im 18. Jahr­hun­dert. Dabei gab es dort schon früh eine sehr klare Rollen­ver­tei­lung zwischen Männern und Frauen. Die Männer lebten noma­di­sie­rend, betrieben Krieg und Handel. Die Frauen hingegen waren sess­haft und haben inner­halb der Familie Land­wirt­schaft betrieben und den Ton ange­geben, weil die Männer gar nicht da waren.

Und dann?

Sie wurden kolo­nia­li­siert und die Männer gezwungen, eben­falls sess­haft zu werden. Danach hat sich das Macht­ver­hältnis verän­dert und die Männer hatten minde­stens gleich viel zu sagen wie die Frauen. Das zeigt uns, dass die Macht­ver­tei­lung zwischen den Geschlech­tern viel damit zu tun hat, wie wir unsere Gesell­schaft organisieren.

Wird die Idee des Matri­ar­chats heute wieder brisanter, viel­leicht auch im Zusam­men­hang mit den vorherr­schenden Krisen?

Meinem Empfinden nach wieder­holt sich gerade vieles aus den Sieb­zi­ger­jahren, auch wie der Femi­nismus gelebt wird. Natür­lich hat er sich auch weiter­ent­wickelt, aber gewisse Elemente kommen wieder auf. Deshalb erwarte ich eigent­lich, dass das Matri­ar­chat wieder einen Aufschwung erlebt. In welcher Form ist eine andere Frage – auch im Hinblick auf die LGBTQ-Theorie. Ich bin mir nicht sicher, wie das zusam­men­ge­bracht werden könnte, um anschluss­fähig zu sein. Aber eigent­lich müsste das in einem weiteren Entwick­lungs­schritt kommen. Bis jetzt ist es mir aber noch nicht begegnet.

Kann es matri­ar­chale Gesell­schaften inner­halb eines globalen Patri­ar­chats über­haupt geben?

Mir fällt diese Vorstel­lung schwer. Wiederum stellt sich auch hier die Frage: Was meinen wir mit „Matri­ar­chat“? Und auch: Was bringt uns diese Frage? Meiner Meinung nach brau­chen wir weder Matri­ar­chat noch Patri­ar­chat, sondern eine Gesell­schaft, die den Menschen in den Fokus nimmt.

Wie befreien wir uns dann, wenn nicht durch die Errich­tung eines Matriarchats?

Durch die Aufhe­bung von Macht­struk­turen und Ungleich­heiten im Allge­meinen. Ich denke, dass vielen Menschen klar ist, dass wir nicht in der besten aller mögli­chen Gesell­schaften leben. Aber da bringt die Umkehr der Vorherr­schaft nichts, sondern Macht müsste grund­le­gend breiter verteilt werden.

Wenn wir uns als Gedan­ken­ex­pe­ri­ment das Szenario ausmalen, dass plötz­lich sämt­liche Macht­po­si­tionen mit Frauen besetzt wären, würde sich wahr­schein­lich vorüber­ge­hend viel verän­dern – aufgrund der unter­schied­li­chen Sozia­li­sie­rung der Geschlechter. Aber wenn ich bestimmen dürfte, würde ich keine Macht­po­si­tionen aufgrund des Geschlechtes verteilen, sondern aufgrund von Inter­essen und Fähigkeiten.


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