Schreibst du schon oder unter­rich­test du noch?

Unter­richten wird von frei­schaf­fenden AutorInnen häufig als notwen­diges Übel abgetan. Stimmt nicht, finde ich. Ein kurzes Loblied auf die Tragi­komik des Schulzimmers. 
Symbolbild (Foto: Eline Rijpers)

7:00 Uhr, Mail von Lena: Sorry Frau Zukker, ich habe den Eisprung und komme heute nicht in die Schule. Was antwortet man da? Liebe Lena, ich menstru­iere gerade und habe über­haupt keine Lust zu unter­richten! Oder: Liebe Lena, lieber Eisprung als schwanger, gell. Oder: Liebe Lena, das ist kein Grund dem Unter­richt fern zu bleiben. Wie willst du so eine Lehr­stelle finden, hä? Nein. Man schreibt: Liebe Lena, vielen Dank für deine Mail. Ich werde Jasmin die Arbeits­blätter für dich geben. Liebe Grüsse, Nora.

Unter­richten lenkt vom Wesent­li­chen ab

Einige Kolle­gInnen, die schreiben, sagen gerne: Nein, also unter­richten könnt ich nicht. Das lenkt mich vom Wesent­li­chen ab, da falle ich aus der Konzen­tra­tion, die ich fürs Schreiben brauche. Und wenn es mit den Förder­bei­trägen weiterhin gut klappt, brauche ich sowieso keinen anderen Job. Das finde ich ziem­lich gefähr­lich. Nicht zuletzt für die seeli­sche Gesund­heit dieser Menschen. So wird dann das Einkaufen zur Tages­auf­gabe, die Rech­nungen werden erst mit der zweiten Mahnung bezahlt und die Kopf­schmerzen, die verdammten Kopf­schmerzen vom Nach­denken, hören einfach nicht auf. Komisch, nicht?

Aber da ich eh nicht als „rich­tige“ Autorin durch­gehe, weil mein Debüt noch immer nicht erschienen ist, muss ich es denen ja nicht nach­ma­chen. Und sowieso: Weil mir einiges an mir liegt, will ich gerne gesund bleiben. AutorInnen, die in Inter­views sagen, dass die besten Geschichten auf der Strasse liegen (aber selber nicht vor die Tür gehen), dürfen gerne einmal zu mir in die Schule kommen. Jeden Mitt­woch. Es ist wohl was vom Aller­be­sten in meinem Alltag als frei­schaf­fende Autorin. Das Schreiben hat auch etwas Sinn­stif­tendes, zwei­fellos, aber junge Menschen ein Stück auf ihrem Weg zu begleiten, gibt mir das Gefühl wirk­lich etwas beizutragen.

Sie sind schlau, die jungen Menschen zwischen 16 und 20 Jahren. Denen kann ich nichts vorma­chen. Da werd ich morgens um acht Uhr im Klas­sen­zimmer auch mal mit „Ui, Frau Zukker, sie sehen mega schlecht aus. Sind Sie krank?“ begrüsst. Oder: „Haben Sie einen Mann? Sie sind ja fast 32ig und da müssen Sie sicher auch langsam schauen, dass Sie nicht alleine bleiben. Also ist lieb gemeint, gell.“ Wenn diese Dinge geklärt sind, werden Komma­re­geln gelernt, Bewer­bungs­schreiben geschrieben und Vorstel­lungs­ge­spräche geübt. Allge­mein­bil­dung ist mein Fach.

Vor und nach dem Unterricht

Was vor und nach dem Unter­richt verhan­delt wird, ist aller­dings meine wirk­liche Arbeit. Mut machen, zuver­sicht­lich und ruhig bleiben, auch wenn das Leben bei den jungen Menschen richtig zuschlägt.

Zum Beispiel bei Anna. Sie ist seit 3 ½ Jahren mit ihrem Freund zusammen. Also seit sie 13 ist. Und jetzt will er nach­denken, weil er sich seiner Gefühle nicht mehr sicher sei. Seit sechs Wochen denke er jetzt schon nach und Anna hängt in der Luft. Und gestern schrieb er dann: Hey, du darfst mir ab jetzt wieder schreiben. Aber Anna will sich auf die Schule konzen­trieren, sie liebt ihn, sie findet das, was sie zusammen haben im Moment ganz gut. Dann schaut sie mich mit grossen blauen Augen an und fragt, was sie machen soll.

Anna ist zwar erst 16 und ich könnte ihr sagen, dass sie in fünf Jahren denken wird, hach, was war das nur. Aber ich will sie ernst nehmen. Also erzähle ich ihr, dass es auch erwach­sene Männer gibt, die nach­denken müssen und einen in den Schwe­be­zu­stand schupsen. Dass auch erwach­sene Männer sich ihrer Gefühle nicht sicher sind, und dass auch ich nicht mehr machen kann, als mich auf meine Dinge zu konzen­trieren. Und ja keinen Druck aufbauen, weil sonst gehen sie, die Männer. Anna über­legt und fragt mich, ab wann man sich selber nicht mehr treu ist, ab wann man eine Entschei­dung einfor­dern muss? Ich weiss es nicht und bleibe ihr eine Antwort schuldig. Anna bedankt sich und sagt, es sei tröst­lich zu wissen, dass es nicht einfa­cher werde.

Dies gilt übri­gens auch fürs Unter­richten, wie ich im Inte­gra­ti­ons­be­trieb mit Jugend­li­chen im Einzel­set­ting gelernt habe. Wer dort landet, weiss: Es ist fünf vor zwölf. 50 Prozent schaffen es, die anderen gehen dahin zurück, wo sie schnelles Geld verdienen.

Zum Beispiel Ben. 18, Südkurven-Fan, Kiosk über­fallen und eine alte Frau nieder­ge­schlagen. Einmal fragte er mich, ob sich Frauen zum 18. Geburtstag über ein Gold­kett­chen mit Engel­an­hänger freuen. Ich antwor­tete, das sei kind­lich, schenk ihr lieber Unter­wä­sche und koch für sie. Danach hatte ich ihn auf meiner Seite und wir konnten an seinem Abschluss­pro­jekt arbeiten. Er hatte dafür etwas utopi­sche Ideen. Ein Film sollte es werden, der im Abaton gezeigt wird. Einen Wutaus­bruch später sah er dann aller­dings ein, dass ein Video­pro­jekt mit dem Handy der bessere Einstieg ist. Aber das war ihm dann zu lame. Und über­haupt, was soll er denn in diesem Betrieb, er wolle doch gar nicht Elek­triker werden. Er möchte schnell viel Geld verdienen.

Natür­lich habe ich ihm gesagt, wie wichtig eine Erst­aus­bil­dung ist, aber ich konnte ihm den Wunsch nach Geld, Mädchen und Party nicht aberkennen. Nur der Zeit­punkt sei jetzt halt eher blöd. Ben nahm sich zusammen, versprach mir vieles und machte grosse Fort­schritte. Bis sich die Freundin trennte. Sein bester Freund hatte sie ihm ausge­spannt. Ben wusste sich nicht zu helfen, war traurig, fand Trau­rig­keit aber unmänn­lich. Er war auf Krawall gebür­stet, zettelte eine Schlä­gerei an und wurde von der Schule geschmissen.

Ein halbes Jahr später stieg er in die gleiche S‑Bahn wie ich und setzte sich gechillt zu mir ins Abteil. Kurz vor meiner Station zog er eine Plastik­tüte mit Pillen aus seiner Hosen­ta­sche und schaute mich durch­drin­gend an. „Ich mach dir einen Freund­schafts­preis, ja?“ Wirk­lich über­rascht war ich nicht, als er aus der anderen Hosen­ta­sche Hunder­ter­noten zog und mir damit Luft zu fächerte. Ich stieg aus und liess ihn weiterfahren.

Wo Ben heute ist, weiss ich nicht. Ab und zu überleg ich mir schon, wie lange das mit dem schnellen Geld und den Mädchen bei Ben gut gehen wird. Das muss man als Lehrerin eben auch aushalten, weil es geht ja nicht um Rettung. Eines ist sicher; Ben wird nie ein Gold­kett­chen mit Engel­an­hänger verschenken.

 


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