Im Zuge der aktuellen Lage wurden verschiedenste Rückstände staatlicher Administration bekannt. Mitte April zeigte sich, dass in so gut wie allen Asylunterkünften des Kantons Zürich die nötigen Hygieneregeln nicht eingehalten werden konnten. Erste Covid-19-Fälle tauchten in der Notunterkunft Adliswil auf, und zunächst passierte wenig. Nach ein paar Tagen kündigte die Sicherheitsdirektion des Kantons an, man würde zusätzliche Herbergen für Infizierte und Risikogruppen schaffen. Kurze Zeit später entzog der Kanton dem in Adliswil zuständigen Arzt das Mandat, nachdem die Missstände in der Notunterkunft öffentlich gemacht wurden.
Die WOZ wandte sich daraufhin mit einem ausführlichen Fragenkatalog an die vom Sozialdemokraten Mario Fehr geleitete Direktion. Als Antwort kam: nichts. Auch das Lamm fragte blauäugig, für wie viele Personen diese „besonderen Herbergen“ eingerichtet seien. Als Antwort bekamen auch wir ein grosses Schweigen. Die WOZ bemerkte entsprechend, dass derzeit die Pressefreiheit extrem leide. Verweigerter Zutritt für Journalist*innen, fehlende Anerkennung des Presseausweises, der eigentlich Bewegungsfreiheit garantieren soll, sowie unbeantwortete Fragen bei virtuellen Pressekonferenzen seien laut Impressum, dem grössten Berufsverband für Medienschaffende, und der Gewerkschaft Syndicom an der Tagesordnung.
Die Situation Geflüchteter in der Schweiz und insbesondere an der EU-Aussengrenze bleibt weiterhin desaströs. Während hier auf jedem zweiten Werbeplakat vom „Retten von Menschen“ zu lesen ist, wird dort das massenhafte Sterben willentlich in Kauf genommen. Um zu zeigen, dass dies nicht hinnehmbar ist, wurde für den 18. April zu einer Autodemo aufgerufen. Hierzu kommentierte Kira Kynd im Lamm: „Die Autodemo zeigte: Corona-Regeln gelten für alle ausser die Polizei“. Die Autodemonstration wurde im Keim erstickt. Es scheint, als sei der Stadt die Pandemie als Rechtfertigung dafür gerade recht gekommen. In Deutschland mussten unlängst Gerichte die Behörden dazu anweisen, auch während Corona demokratische Grundrechte zu garantieren.
Das Debakel vom Juchhof
Ein besonderes Spektakel lieferte das Sozialdepartement der Stadt Zürich in der vergangenen Woche. Am 20. April wurde bekannt, dass das von SP-Politiker Raphael Golta geführte Departement zusammen mit der Asylorganisation Zürich (AOZ) den im Oktober besetzten Juchhof in Altstetten räumen lassen wollte. Als Begründung wurden Abbrucharbeiten und eine zukünftige Nutzung angebracht. Wie diese aussehen soll, wollte die Stadt partout nicht sagen. Der Tages-Anzeiger titelte: „Stadt verheimlicht Pläne zum Juch-Areal“, und auch gegenüber dem Lamm wurden nur ungenaue Aussagen gemacht. Nach mehreren Mails an das Sozialdepartement, die AOZ und einem Kontaktversuch mit Raphael Golta erhielten wir einen Anruf von Mediensprecherin Heike Isselhorst. „Wir machen keine weiteren Aussagen zu dem Thema“, sagte sie. Und auch warum man nicht sagen wolle, wer das Areal zukünftig benutzen soll, wollte das Sozialdepartement nicht sagen. „Sie werden es bald erfahren“, hiess es schlichtweg.
„Eine solche Informationsverweigerung widerspricht grundsätzlich dem Öffentlichkeitsprinzip, welches auch im Kanton Zürich gesetzlich verankert ist“, meinte Martin Stoll am 24. April. Er ist Geschäftsführer von Öffentlichkeitsgesetz.ch, einer Vereinigung von Medienschaffenden für Transparenz in der Verwaltung. Die beim Bund und in den meisten Kantonen implementierten Gesetze sollen garantieren, dass öffentliche Debatten auf der Basis von Informationen stattfinden können, die der Verwaltung vorliegen. „Eine solche Offenlegungspflicht, die im öffentlichen Interesse ist, wurde hier offensichtlich eigenmächtig ignoriert“, kritisiert Stoll. Das Öffentlichkeitsprinzip ist mit mehreren Gesetzen auf Bundes- und kantonaler Ebene festgeschrieben. Bei all diesen Gesetzen gilt grundsätzlich: Behördliche Informationen sollen immer zugänglich sein, ausser dies würde andere Rechte – wie etwa den Datenschutz – einschränken.
Mit den Vorwürfen konfrontiert beruft sich das Sozialdepartement in einer Stellungnahme vom 28. April auf das Informations- und Datenschutzgesetz (IDG). Man orientiere sich „bei der Information der Öffentlichkeit in puncto Zeitpunkt und Detailierungsgrad in erster Linie am IDG, aber auch jeweils an den aktuellen Umständen“. Es sei zu dem Zeitpunkt darum gegangen, „den medialen Diskurs nicht weiter zu befeuern“, man sei am Donnerstag schon im Dialog mit Vertreter*innen der Besetzer*innen „sowie anderen involvierten Stellen“ gewesen.
Die linken Parteien im Gemeinderat fühlten sich bei dem Entscheid übergangen. Zuerst zeigten sich am 23. April die Grünen der Stadt in einem Medienschreiben erstaunt über das intransparente Vorgehen von Golta. Gerade in Zeiten von Corona und während der Frühlingsferien sei es völlig unangebracht, eine solche Massnahme zu vollziehen, ohne den Gemeinderat oder die Presse zu informieren. Zwei Tage später veröffentlichten die SP, die AL und die Grünen der Stadt ein gemeinsames Presseschreiben. Sie forderten den Stadtrat auf, von der Räumung abzusehen, und kritisierten das intransparente Vorgehen. In einem Interview vom Donnerstag, dem 23. April, vermutete die Gemeinderätin der Grünen Elena Marti, dass der Abbruch eventuell mit dem Bau des Eishockeystadions neben den Baracken des Juchhofs zu tun haben könnte. „Ohne die Besetzer*innen, die das Schreiben der Stadt öffentlich gemacht haben, hätten wir nicht bemerkt, dass die Stadt hier klammheimlich die Nutzung öffentlicher Grundstücke verändert.“ Könnte hier insgeheim ein Grundstück an einen privaten Akteur verschachert werden? Wird so die Stadt gleichzeitig ungemütliche Besetzer*innen los? Nutzt sie dafür die ungewisse Zeit der Corona-Pandemie? Wir wussten es nicht – bis zum Freitagnachmittag.
Ein Rückzieher in letzter Minute
Während sich die Besetzer*innen auf eine kommende Räumung vorbereiteten, das Ajour-Magazin eine erhöhte Polizeipräsenz und willkürliche Kontrollen um den Juchhof kritisierte, und wir dem Sozialdepartement gerade eine Mail mit dem Vorwurf, es verstosse gegen das Öffentlichkeitsgesetz, abgeschickt hatten, vollzogen die Behörden plötzlich eine Kehrtwende.
Kurz nach 16 Uhr veröffentlichte das Sozialdepartement eine Medienmitteilung: Die Räumung werde um einen Monat verschoben, hiess es darin. Aufgrund der aktuellen Lage und weil man gemerkt habe, dass sehr viel mehr Menschen auf dem Areal leben würden „als ursprünglich angenommen“. Eine äusserst erstaunliche Erkenntnis, wenn es doch in einer vorherigen Mail hiess, man sei im „regelmässigem Kontakt mit den Besetzer*innen gewesen“. Die Medienmitteilung beinhaltete ausserdem die Lösung des Rätsels um die Zukunft des Areals: Die Stadt plant, die Baracken abzureissen und hat das Grundstück für die Bauzeit des benachbarten Eishockeystadions an die Baufirma HRS Real Estate AG vermietet. Aufgrund ungenügender Platzverhältnisse auf der Baustelle. Gegenüber dem Lamm erklärt das Sozialdepartement, dass die Gespräche betreffend der Nutzung seit November 2019 laufen und ein Vertrag „Anfang April“ unterschrieben worden sei. Aufgrund der aktuellen Umstände habe man einzig die Übergabe um einen Monat verzögert.
Ein Hauch von Transparenz wehte durch die Gänge der Zürcher Stadtverwaltung. Es bestätigte sich aber auch: Die Exekutive hatte versucht, ein städtisches Gelände an private Akteure zu vergeben, unliebsame Besetzer*innen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zu entfernen und erst im Nachhinein die Öffentlichkeit über die Vorgänge in Kenntnis zu setzen – ohne Debatte, Konflikte oder Kompromisse. Transparenz ist in einer funktionierenden Demokratie unabdingbar. So hätten, laut Elena Marti, „der Gemeinderat und die Bevölkerung zumindest über das Nutzungskonzept des Areals informiert werden sollen“. Der Stadtrat ging anscheinend davon aus, dass die Räumung des besetzten Juchhofs zugunsten einer Baustelle auf grosse Kritik gestossen wäre. Der Schuss ging nach hinten los: „Der Stadtrat ist hier sehr ungeschickt vorgegangen und hat damit nicht nur die Besetzer*innen vor den Kopf gestossen“, so Marti.
Ein weiterer Clou der Geschichte: Während die Stadt vehement betont, sie habe regelmässigen Kontakt mit den Besetzer*innen gehabt, wird dies von anderer Seite verneint. „Unser Kontakt war bisher sehr spärlich und beschränkte sich vor allem auf die AOZ“, so die Besetzer*innen. „Wir hatten wenig Mailkontakt wegen der Bezahlung von Strom und Wasser und die wenigen Besuche dienten ausschliesslich der Vermessung der Gebäude.“
Die Kommunikationspolitik des Sozialdepartements war also mehr als fragwürdig. Dabei sollte gerade in Zeiten von Corona und Regierungsoberhäuptern mit Allmachtsphantasien besonders auf die Einhaltung demokratischer Grundregeln geachtet werden. Dazu gehört auch – so möglich –, heimlich gezeichnete Verträge rückgängig zu machen, Debatten über die Zukunft städtischer Grundstücke öffentlich zu führen und alles daran zu setzen, das Versammlungsrecht auch in diesen Zeiten irgendwie gewähren zu können.
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