„Epidemische Ausmasse“, schreibt die Kampagne 16 Tage gegen Gewalt an Frauen, die vom 25.11. bis 10.12. schweizweit Aktionen gegen Gewalt an Frauen organisiert hat. Mindestens jeder zweiten Frau in der Schweiz werde sexualisierte Gewalt angetan. Diese Zahlen sind nicht neu, aber die öffentliche Aufmerksamkeit ist nach wie vor gering.
Aber welche Art der öffentlichen Aufmerksamkeit kann Betroffenen von sexualisierter Gewalt helfen? Zu dieser Frage war letzte Woche in Zürich und Bern Lilian Schwerdtner im Rahmen der 16-Tage-Kampagne zu Gast. In ihrem Buch Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt stellt sie fest, dass das gesellschaftliche Sprechen über sexualisierte Gewalt selbst von Gewalt geprägt ist, die Betroffene zum Schweigen bringt. Schwerdtner analysiert die Mechanismen der „Entstimmlichung“ und fragt danach, wie ein anderes, erfolgreicheres Sprechen über sexualisierte Gewalt aussehen könnte. Anlässlich der Buchvorstellung in Zürich hat das Lamm Lilian Schwerdtner zum Gespräch getroffen.
Das Lamm: Lilian Schwerdtner, die feministische Bewegung und Kampagnen wie #MeToo haben dafür gesorgt, dass das Thema sexualisierte Gewalt auch in Europa breit diskutiert wird und als gesellschaftliches Problem anerkannt wird. Sind wir auf dem richtigen Weg?
Lilian Schwerdtner: Ja. Tatsächlich gibt es mittlerweile ein gesellschaftliches Einverständnis darüber, dass sexualisierte Gewalt schlecht und zu bekämpfen ist. Das war lange nicht selbstverständlich. Dieses Einverständnis ist aber hauptsächlich abstrakt. Wenn man sich dann konkret anschaut, wie Betroffene behandelt werden, zeigt sich, wie oberflächlich dieser scheinbare Konsens ist. Betroffenen wird nach wie vor oft nicht geglaubt oder sie werden allein gelassen.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die mediale Berichterstattung auch problematisch ist. Warum?
Es sind oft spektakuläre und aufsehenerregende Geschichten, wenn in den Medien über sexualisierte Gewalt berichtet wird. Dabei wird die eigentliche Normalität vergessen, etwa dass viele Menschen zu Hause von ihren Partner:innen vergewaltigt werden. Weil es Normalität ist, hat es keinen Nachrichtenwert. Gleichzeitig kratzt dies am Selbstbild der Gesellschaft, dass man natürlich gegen sexualisierte Gewalt ist und auch genug dagegen tut. Da hört man solche Geschichten natürlich nicht gerne.
Wie wirkt sich diese Art der Darstellung auf Betroffene aus?
Ich kenne Leute, die ihre Erfahrungen von sexualisierter Gewalt lange nicht als solche benennen konnten, weil ihnen gewissermassen die „Vorbilder“ dazu fehlten. Etwa wenn der Täter oder die Täterin aus dem sozialen Nahbereich stammt. Da kann es schwerfallen, eine Tat als „Vergewaltigung“ zu bezeichnen, weil man mit diesem Begriff etwas ganz anderes assoziiert: den fremden Täter, von dem man nachts auf der Strasse überfallen wird.
Es gibt in der Gesellschaft die Vorstellung, dass Betroffene von sexualisierter Gewalt nicht über ihre Erfahrungen sprechen wollen und man sie deshalb dazu auffordern muss. In vielen Fällen ist es aber so, dass Betroffene durchaus sprechen, auch wenn es ihnen vielleicht schwerfällt. Ihnen wird aber nicht zugehört. Oder es wird ihnen mit Vorurteilen begegnet.
Lilian Schwerdtner ist Aktivistin, Podcasterin und Autorin. Sie ist Teil des Berliner Kollektivs Actions against Rape Culture, welches Workshops und Vorträge zum Umgang mit sexualisierter Gewalt entwickelt. Seit September 2020 produziert sie gemeinsam mit Birte Opitz den Podcast Not your Opfer. Ihr Buch Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt erschien im Mai 2021 bei Edition Assemblage.
Was sind das für Vorurteile, mit denen Betroffene zu kämpfen haben?
Es gibt die klassischen Vorurteile und Vergewaltigungsmythen, etwa wenn gefragt wird, ob die Betroffene nicht vielleicht mitschuldig ist an der Tat. Was hat sie gemacht? Wie war sie angezogen? Hat sie zu viel getrunken oder Drogen konsumiert? Hat sie die Tat irgendwie provoziert? Oder Betroffenen wird gesagt, dass das, was sie beschreiben, gar keine Gewalt war, sondern einfach schlechter Sex. Auch solche Umdeutungen sind eine Form der sprachlichen Gewalt.
„Sprachliche Gewalt“ ist der zentrale Begriff Ihres Buches. Was macht das Sprechen zu Gewalt?
Für Betroffene von sexualisierter Gewalt kann das Schweigen, das Nicht- oder Falschverstehen bis hin zum bewussten Umdeuten des Erlebten genauso schlimm oder sogar schlimmer sein als die Tat selbst. Auch die Instrumentalisierung von Betroffenen ist problematisch, zum Beispiel wenn rassistische Vorurteile geschürt werden, dass sexualisierte Gewalt vermeintlich von Fremden eingeschleppt wird. Das widerspricht dem, was die Betroffenen wollen und brauchen, komplett: Sie wollen, dass der gewaltvolle Normalzustand anerkannt wird. Sprachliche Gewalt bringt Betroffene so systematisch zum Schweigen, indem ihre Geschichten nicht gehört oder umgedeutet werden. Die Betroffenen fragen sich dann, ob es sich überhaupt lohnt, zu sprechen, oder sie fühlen sich (erneut) ohnmächtig und entmündigt. Es fällt ihnen dadurch schwerer, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das behindert auch die Verarbeitung.
Laut der Kampagne 16 Tage wird in der Schweiz mindestens jeder zweiten Frau sexualisierte Gewalt angetan. Wir alle müssten also Betroffene kennen. Trotzdem ist das Thema im Alltag und im sozialen Umfeld kaum präsent. Sie sagen, das liegt auch an der sprachlichen Gewalt. Wie lassen sich diese Mechanismen vermeiden?
Das Wichtigste ist, dem Stigma zu begegnen, mit dem Betroffene von sexualisierter Gewalt belegt sind, denn da gehört es nicht hin. Das Stigma gehört zu den Täter:innen, nirgendwo sonst. Es fällt uns ausserdem schwer, Betroffene zu erkennen, weil sie vielleicht nicht dem Bild entsprechen, das wir uns von ihnen machen. Man betrachtet sie als traumatisiert, als Menschen, die gebrochen sind. Man erwartet Symptome von posttraumatischen Belastungsstörungen, oder dass sie wenig belastbar sind und plötzlich anfangen zu weinen. Häufig entsprechen sie aber keinem dieser Opferklischees. Mit unserem Podcast Not your Opfer setzen wir genau da an: Wir überlegen uns, wie ein Sprechen über sexualisierte Gewalt funktionieren kann und den Betroffenen und ihren Erlebnissen Raum gibt und nicht Klischees reproduziert.
Es ist schwer, Betroffene zu erkennen. Aber man kann Menschen auch nicht dazu überreden, sich als solche zu outen. Wie lässt sich ein Raum schaffen, in dem Betroffene sich ermutigt fühlen, über ihre Erfahrungen zu sprechen?
Sexualisierte Gewalt ist ein Verbrechen, das Leute wahnsinnig vereinzelt. Als Betroffene bist du in der Regel allein in der Gewaltsituation, zudem betrifft es unmittelbar deine Intimsphäre. Das macht es schwierig, mit anderen darüber zu reden. Es ist deshalb sehr wichtig, Betroffenen die Hand zu reichen, damit sie das Gefühl der Vereinzelung hinter sich lassen können.
Viel sexualisierte Gewalt findet in Beziehungen statt, wird beispielsweise von Partner:innen oder Ex-Partner:innen verübt. Da kann man Leute sehr wohl etwa auf ihre Beziehungsdynamik ansprechen, wenn man mitkriegt, dass etwas nicht stimmt. Man muss sich einfach bewusst sein, dass das auch im eigenen Umfeld ein Thema ist, auch wenn man es selbst nicht weiss. Ich finde es auch wichtig zu betonen, dass es nicht nur FLINTA-Personen betrifft und nicht nur sie sich damit beschäftigen sollen.
In der Öffentlichkeit wird sexualisierte Gewalt vor allem von Feminist:innen und Linken thematisiert. Trotzdem schreiben Sie in ihrem Buch, dass gerade die linke und feministische Szene in Bezug auf sexualisierte Gewalt eher der Kirche ähnelt: Die Tabuisierung ist besonders stark. Was haben Predigt und Plenum gemeinsam?
Die Parallelität zur Kirche liegt im ausgeprägten Selbstbild der linken Szene: „Wir sind die Guten. Es gibt bei uns keine sexualisierte Gewalt. Wir sind alle Feminist:innen, haben natürlich nur konsensuellen Sex und achten die Grenzen anderer.“ Dieses Selbstverständnis macht es so schwer, sexualisierte Gewalt in linken, feministischen Kreisen anzusprechen.
Ein anderer Faktor, der die Tabuisierung begünstigt, ist der starke Zusammenhalt der Szene. Man versteht sich als anders, als besser als der Rest der Gesellschaft und regelt deshalb Probleme unter sich. Wenn in deiner Politgruppe etwas passiert, gibt es nur eine sehr beschränkte Zahl von Leuten, an die du dich wenden kannst. Wenn die scheisse reagieren, bleiben dir wenig Optionen, denn zur Polizei willst du aus guten Gründen vermutlich nicht gehen.
Sexualisierte Gewalt in linken Zusammenhängen wird in letzter Zeit vermehrt thematisiert. Teilen Sie diesen Eindruck?
Ja. Ich habe auch mitgekriegt, dass es in den letzten Jahren in verschiedenen Städten sehr viele Outcalls gab. Kneipenkollektive, Clubs und andere Szene-Zusammenhänge wie Hausprojekte mussten sich mit Tätervorwürfen auseinandersetzen. Oft wurde dadurch die ganze Szene einer Stadt erschüttert, weil es unglaublich viele Vorwürfe waren.
Vonseiten der Betroffenen und ihren Strukturen hört man dann aber, dass die Themen teilweise schon vor Jahren angesprochen wurden. Einfach im kleineren Rahmen. Meist wurde da aber nicht angemessen darauf reagiert und deshalb gibt es jetzt diese Welle. Und trotzdem beschweren sich immer noch viele über fehlende Resonanz und mangelndes Engagement bei der Aufarbeitung.
Kann es sein, dass die Abwehrhaltung auch so stark ist, weil das Vergehen aufgrund des linken Selbstbildes viel schwerer wiegt? Gerade linke Männer fürchten sich oft eher davor, der sexualisierten Gewalt, der Mitwisserschaft oder des Täterschutzes bezichtigt zu werden, als dass ihre Genoss:innen davon betroffen sein könnten. Wie kommen sie da raus?
Das stimmt auf jeden Fall. Ein Teil der Erklärung ist vermutlich die automatische Identifikation mit der Person des eigenen Geschlechts und die reflexhafte Frage: „Was, wenn ich so einen Vorwurf bekommen würde?“ Dies obwohl da ja eigentlich gar keine Gefahr besteht, wenn man selbst auch keine Gewalt ausübt. Falschbeschuldigungen sind einfach ein Mythos.
Ein paar Unterscheidungen sind aber hilfreich: Es gibt sexuelle Grenzüberschreitungen, die unabsichtlich geschehen können. Es kann vorkommen, dass du nicht verstanden hast, dass eine Person etwas nicht will, und das dann auch bereust. Darum ist es umso wichtiger, darüber zu sprechen und einander beim Erlernen konsensueller Sexualität zu unterstützen.
Was heisst das ganz konkret?
Da können alle bei sich selber anfangen: tief in sich hineinhören, das eigene Verhalten reflektieren und nicht vor dem zurückschrecken, was zum Vorschein kommt. Man muss ehrlich zu sich selbst sein und sich eingestehen, dass niemand davor gefeit ist, andere zu verletzen.
Es ist aber auch wichtig, diese unabsichtlichen von den bewussten Verletzungen abzugrenzen. Wenn eine Person sich dazu entscheidet oder in Kauf nimmt, die Grenzen einer anderen Person zu überschreiten, dann kommst du damit nicht weiter. Da kann man noch so sehr auf sie einreden, man wird kein gutes Ergebnis kriegen. Gemeinsam mit solchen Menschen kann man nicht für eine bessere oder gerechtere Welt kämpfen.
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