„Sink the rich“: Orcas gegen Yachten

Vor der Küste Spaniens stoppen und beschä­digen Orcas Luxus­yachten. Das ist für sie wohl nur ein Spiel, kein Protest. Trotzdem sollte uns der vermeint­liche Wider­stand der Tiere zu denken geben, meint unser Kolumnist. 
Revolutionäre Orcas im Anmarsch? (Foto: Mike Doherty / Unsplash)

Die Aktion erfolgt in fünf Schritten:

  1. Vom Heck her nähern sich die Orcas unbe­merkt dem Boot an.
  2. Unter dem Boot ange­kommen, drehen sie sich zur Seite und schlagen mit der Schwanz­flosse ans Boot, während sie es umkreisen.
  3. Dann drücken sie das Ruder mit dem Kopf oder dem ganzen Körper in immer neue Rich­tungen, was das Steuern verunmöglicht.
  4. Irgend­wann hält das Boot an, weil entweder das Steu­er­sy­stem kaputt ist oder der Mensch aufgibt.
  5. Dann schwimmt die Gruppe weiter.

Nach diesem Schema gibt es bei der Strasse von Gibraltar seit 2020 immer wieder Konflikte zwischen zwei unglei­chen Parteien. Auf der einen Seite sind Boote von bis zu fünf­zehn Metern Länge, auf der anderen eine kleine, vom Aussterben bedrohte Subpo­pu­la­tion von 39 iberi­schen Orcas.

Etwa 500 Inter­ak­tionen fanden bisher statt. Bis zum eigent­li­chen Schiff­bruch kam es dabei zwar nur drei Mal, zu mensch­li­cher Panik und erheb­li­chem Sach­schaden aber prak­tisch immer. Einmal nahmen die Orcas das abge­bro­chene Ruder einfach mit.

Manche Forschenden vermuten, dass eine bestimmte Orca­dame namens White Gladis nach einer Kolli­sion mit einem Fischer­boot auf Rache aus sei. Jetzt instru­iere sie Jung­tiere, sich zu wehren. Das ist aller­dings reine Spekulation.

Im Netz – ich meine das Internet, kein Fischer­netz – wurden die Orca-Zwischen­fälle sofort als Wider­stands­hand­lung inter­pre­tiert. Und gefeiert. Das ameri­ka­ni­sche Magazin Jezebel titelte etwa: „Soli­da­rität! Orcas versenken die Reichen“. Im Etsy-Online­shop wimmelt es von kitschigen Orca-Aufkle­bern mit dem Slogan „Sink the Rich“.

Das Bild ist allzu verlockend: Der Mensch breitet sich nach der Pandemie wieder aus und die Wale schlagen zurück. Der perfekte Mix aus „Free Willy“ und „How to Blow Up a Pipe­line“.

Ein Jour­na­list, der sich selbst als Yuppie auf die Schippe zu nehmen scheint, vertei­digte für The Atlantic im Gegenzug die Yachten: „Killer­wale sind keine Helden, sondern sadi­sti­sche Arsch­lö­cher!“ Diese Entrü­stung von rechts ist genauso wenig ernst gemeint wie die Soli­da­ri­täts­be­kun­dungen von links. Die Wale inter­es­sieren hier nur als lustige Meta­pher, nicht als Tiere.

Aber was ist mit den Orcas wirk­lich los? Ich frage bei einer Expertin nach.

Schaut einmal zum Fenster raus, wahr­schein­lich seht ihr bald ein Tier. Sie sind die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung. Doch in der Schweizer Medi­en­land­schaft werden sie meist igno­riert. Animal Poli­tique gibt Gegen­steuer. Nico Müller schreibt über Macht­sy­steme, Medien, Forschung und Lobby­ismus. Und denkt nicht, es gehe immer „nur“ um Tiere. Ihre Unter­drückung hängt oft mit der Unter­drückung von Menschen zusammen. Animal Poli­tique macht das sichtbar.
Nico Müller hat den Doktor in Tier­ethik gemacht und arbeitet an der Uni Basel. Daneben setzt er sich poli­tisch für Tier­schutz und ‑rechte ein, beson­ders mit dem Verein Animal Rights Switzerland.

Wider­stand oder Spiel

„Ich bin gerade ein paar Tage an Land, aber völlig unter Wasser!“, sagt mir Silvia Frey am Anfang einer langen Sprach­nach­richt. Sie ist Umwelt­bio­login, Geschäfts­lei­terin der Meeres­schutz-Orga­ni­sa­tion Kyma und immer auf dem Sprung. Momentan sammelt Kyma Unter­schriften, damit der Tatbe­stand des Ökozids als inter­na­tio­nales Verbre­chen aner­kannt wird. Den Sommer verbringt Frey aber, wie jedes Jahr, auf dem Mittel­meer und sammelt Daten.

„Rache oder Wider­stand spielt in der Lebens­welt der Orcas keine Rolle“, sagt Frey dezi­diert. „Wie alle Delfine sind Orcas sehr soziale und lern­fä­hige Tiere. Die vermeint­li­chen Angriffe auf Boote könnten also ein Spiel­ver­halten sein. Und dieses Verhalten kann genau so schnell verschwinden, wie es aufge­taucht ist.“

Sie bezieht sich auf vorüber­ge­hende Trends, wie sie bei Orcas schon länger doku­men­tiert sind. 1987 machte unter einigen Orca-Gruppen im Nord­ost­pa­zifik der soge­nannte Lachs-Hut-Trend die Runde. Mitglieder verschie­dener Gruppen trugen für etwa sechs Wochen die Über­reste toter Lachse wie einen Hut auf dem Kopf. Im Folge­jahr war der Trend prak­tisch vorbei und kam danach nie wieder zurück.

Womög­lich sind Boote für Orcas also ledig­lich ein Trend­spiel­zeug – die grössten Fidget-Spin­ners der Welt. Und genau wie bei Fidget-Spin­ners ist nicht so recht klar, was die Attrak­tion genau ausmacht. „Die Orcas inter­es­sieren sich nicht für alle Ruder, aber ob es ihnen um die Farbe geht, die Form oder noch etwas anderes, weiss man nicht“, sagt Frey.

Eines wisse man hingegen: Wie stark Menschen in den Lebens­raum der Orcas zwischen Spanien und Marokko eingreifen.

Wem gehört die Meerenge?

Die Meer­enge von Gibraltar gehört zu den meist­be­fah­renen Wasser­strassen der Welt. Zu jeder Tages- und Nacht­zeit verkehren Fracht­schiffe, Öltanker, Schlepper, Fischer­boote, Passa­gier­schiffe, Yachten und sogar Kriegs­schiffe. Wer möchte, kann das Treiben live mitverfolgen.

Selbst­ver­ständ­lich verschmutzen die Schiffe das Meer enorm. Aber das ist nicht alles, wie Frey erklärt: „Es ist auch unglaub­lich laut in diesem Wasser.“ Messungen vor Gibraltar zeigen: Der Lärm ist immer da, aber nicht immer gleich. Nähert sich ein Frachter von über 100’000 Tonnen, kann das plötz­lich lauter sein als ein Düsenjet beim Start. Und der Lärm findet auch auf den Frequenzen statt, die Orcas zur Kommu­ni­ka­tion und Orien­tie­rung verwenden. Das macht ihnen die Nahrungs­suche schwerer und ist schlecht für den Grup­pen­zu­sam­men­halt – und damit fürs Überleben.

In vergan­genen Jahr­zehnten litt die Orca-Popu­la­tion zudem wegen Über­fi­schung an Nahrungs­knapp­heit. Obwohl dieses Problem mitt­ler­weile weniger akut ist, führt die Fischerei weiterhin zu Konflikten. „In Marokko wird noch viel mit Leine gefischt“, sagt mir Frey. „Da nehmen die Orcas die Fische direkt ab der Leine und die Fischer ziehen gerade noch einen abge­bis­senen Kopf raus“. Die neuer­li­chen Inter­ak­tionen mit Booten heizen diese brenz­lige Situa­tion weiter an.

Was soll man da tun? Zum Glück steht bisher laut Frey nicht zur Diskus­sion, den Orcas etwas anzutun. Vor allem weil die Popu­la­tion gefährdet ist und unter Schutz steht. Falls der Trend nicht von selbst verschwinde, werde es ein System brau­chen, um Inter­ak­tionen von vorn­herein zu verhin­dern. Frey meint: „Wir müssen auch grund­sätz­lich einen Schritt zurück­treten und uns fragen: Wem gehört diese Meer­enge? Verhalten wir uns hier respektvoll?“

Das gibt mir zu denken. Die Orcas meinen ihr Spiel mit Yachten wohl kaum als Protest oder Wider­stands­hand­lung. Aber würden sie es so meinen, hätten sie recht! Und das sollte doch reichen, damit Menschen sich über­legen, wie sie ihr Unrecht an den Orcas beenden können.

Nicht nur Orcas sträuben sich

1’700 Kilo­meter nord­öst­lich der Strasse von Gibraltar, im Aargaui­schen Safenwil, floh am 26. Juni 2023 eine Ziege aus dem Schlachthof. Sie reihte sich damit ein in eine lange Tradi­tion: Im März 2022 floh ein Rind aus dem Bell-Schlachthof Oensingen, im Mai ein Stier aus dem Schlachthof Seewen. Die Geschichte nahm in jedem Fall eins von zwei bösen Enden: Rück­trans­port zum Schlachthof oder Erschies­sung auf offener Strasse. Als Letz­teres 2016 beim Schlachthof Zürich geschah, habe ich im Anschluss mitde­mon­striert. Aber es geschieht ständig.

Egal ob im Atlantik oder im Aargau: Tiere passen grund­sätz­lich nicht in mensch­liche Indu­strien und Ausbeu­tungs­sy­steme. Sie stellen sich quer, sie bocken, sie verwei­gern die Koope­ra­tion, sie richten Schäden an, sie schreien, sie fliehen. Selbst ein System wie ein Schlachthof, das minu­tiös darauf ausge­legt ist, die Tiere gefügig zu machen, ist dagegen nicht immun.

Die typi­sche Reak­tion auf diese Flucht­ver­suche ist Belu­sti­gung und Vernied­li­chung wie bei den Orca-Zwischen­fällen. Die Tiere sind zum Beispiel immer „ausge­rissen“, „ausge­büxt“, „abge­hauen“. Der flüch­tende Stier hat einen Laus­bu­ben­streich gespielt, hihi, haha, was für ein kleines Schlitzohr.

Wir sind nicht weiter als 1961, als der Oltner Kanti­schüler Franz Hohler seiner Lokal­zei­tung schrieb, es sei herab­las­send und verächt­lich, eine Schlacht­haus­flucht mit den Worten zu beschreiben: „Eine Kuh verlor die Nerven.“ Wer würde denn nicht die Nerven verlieren, wenn sie oder er zur Schlacht­bank geführt wird?

Klar, so ein Flucht­ver­such ist umge­kehrt auch kein poli­ti­scher Akt. Er ist keine Selbst­er­mäch­ti­gung, keine Wider­stands­hand­lung, kein ziviler Unge­horsam gegen funda­mental unge­rechte Gesetze. Diese Dinge existieren in der Lebens­welt der Ziegen und Rinder nicht.

Aber würden sie es so meinen, dann hätten sie recht. Und das sollte doch eigent­lich genug sein, damit wir uns hintersinnen.


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