Sommer, Sexismus, fauler Journalismus

Die «Berner Zeitung» schreibt über weib­liche Bein­haare, die «NZZ» über Brüste. Beide haben den Anschluss an die rele­vanten Debatten schon lange verloren. 
Symbolbild. (Foto: Anelya Okapova / unsplash)

Hallo, liebe Freund*innen, es ist endlich Sommer, besser bekannt als: die Zeit, in der endlich auch altein­ge­ses­sene Journis, denen man das Korrek­torat wegge­spart hat, sich in einer Zeitung über Körper­normen auslassen dürfen. So geschehen in der Berner Zeitung am 7. Juli, deren Sommer­serie sich mit den dring­lich­sten Stil­fragen der Saison ausein­an­der­setzt. Im ersten Teil schreiben zwei Männer und eine Frau darüber, ob man seine Muskeln präsen­tieren, ein Bauch­na­bel­pier­cing tragen oder als Frau mit unra­sierten Beinen herum­laufen darf. Spoiler: Ja, darf man. Puh, Glück gehabt.

Einfach als kurze Erin­ne­rung: Diskri­mi­nie­rungen jegli­cher Art funk­tio­nieren nach einem Pyra­mi­den­schema. Auch 2020 ist Catcal­ling noch völlig in Ordnung. Dass man Frauen* bitte nicht unterm Rock foto­gra­fieren soll, muss per Gesetz verboten werden, und ich persön­lich kenne keine einzige Frau, die im Ausgang noch nie eine fremde Hand uner­wünscht zwischen die Beine geschoben bekommen hat. Dass wir all diese Dinge klein­reden, bildet die unterste Stufe einer solchen Pyra­mide. Und es führt dazu, dass rape culture noch immer gesell­schaft­lich akzep­tiert wird. Es führt des Weiteren zu einem frau­en­feind­li­chen Umfeld und schliess­lich unter anderem dazu, dass in der Schweiz gegen Gewalt an Frauen und Femi­zide noch immer eine national gere­gelte Stra­tegie fehlt.

Derweil schreibt Birgit Schmid in der NZZ eben­falls über Frau­en­körper. In ihrer Kolumne geht’s aber um Brüste. Bezie­hungs­weise darum, dass sich viele Frauen während des Lock­downs von ihren BHs verab­schiedet hätten und nun auch im Alltag ausser­halb des Home­of­fice braless unter­wegs sein möchten. Das Ende des BH scheint ihr aber fern, schreibt sie: „Und zwar allein darum, weil Frauen die Blicke nicht ertrügen, wenn sie sich wieder unter die Leute mischten.“ Immerhin: Frauen sollen selbst­ver­ständ­lich anziehen oder weglassen, was sie wollen, „ohne mögliche Reak­tionen von Männern vorweg­zu­nehmen und sich anzu­passen“. Schmid kommt aber dennoch zum Schluss, dass sich „Blicke nicht erziehen“ und sich die „Symbolik des Busens“ nicht neutra­li­sieren liesse. Sie schliesst ihre Kolumne mit der Erkenntnis: „Wer sich zeigt, muss das Begehren der anderen aushalten.“

Zurück zu den unra­sierten Beinen. Die Berner Zeitung fühlte sich ob des Shits­torms, den der Artikel auf Social Media auslöste, etwas in die Ecke gedrängt und legte nach: Im Artikel „Darf man diese Frage über­haupt stellen?“ versteckt man sich hinter der Aussage, es sei doch super, dass die Frage eine Debatte ausge­löst habe. Es wird erklärt, dass es sich „noch vor 20 Jahren“ für Frauen nicht schickte, mit unra­sierten Beinen herum­zu­laufen. Und dass es durchaus eine berech­tigte Frage sei, solange das Bild eines unra­sierten Beines „ein poli­ti­sches State­ment“ sei und nicht „bloss eine Laune“.

Falsch. Eine solche Recht­fer­ti­gung ist schlichtweg fauler Journalismus.

Dass die Beur­tei­lung des Körpers im öffent­li­chen Raum – spezi­fisch des Frau­en­kör­pers – noch immer gang und gäbe ist, wird von solchen Arti­keln und ihren jähr­li­chen Wieder­ho­lungen genährt. Worüber wir Journalist*innen auf welche Art und Weise schreiben, prägt die Sicht­weise der Öffent­lich­keit. Elegant und vor allem span­nend wäre etwa gewesen, wenn die Berner Zeitung für ihren zweiten Artikel einen progres­siven Zugang gewählt hätte: Man hätte etwa die Frage aufwerfen können, welche Bein­haare mitt­ler­weile gesell­schaft­lich akzep­tierter sind. Noch­mals Spoiler: die von weissen Frauen mit eher heller Körper­be­haa­rung. Oder für wen es gesell­schaft­lich noch immer nicht in Ordnung ist, ein Bauch­na­bel­pier­cing zu tragen: für dicke Menschen.

Das wäre Jour­na­lismus, der sich 2020 sehen lassen kann. Und den übri­gens etwa eine Teen Vogue schon seit Jahren prak­ti­ziert – und sich damit die junge Leser*innenschaft sichert. Denn dass klas­si­sche Zeitungen junge Menschen schon lange nicht mehr errei­chen, hat even­tuell auch damit zu tun, dass darin die ewig­glei­chen veral­teten Ansichten repe­tiert werden – und dass man sich dann selber abfeiert, wenn man sich traut, über so etwas Krasses wie weib­liche Bein­haare zu schreiben.

Solche Sommer­se­rien sind ein beliebtes Mittel, um das thema­ti­sche Loch zu stopfen, das ab Anfang Juli auf vielen Schweizer Redak­tionen Einzug hält. Die Bericht­erstat­tung über wirk­lich rele­vante Themen – etwa über die Black-Lives-Matter-Bewe­gung oder über Poli­zei­ge­walt in den USA und der Schweiz – findet während­dessen weiterhin an einem anderen Ort statt: auf Insta­gram. Dort, wo sich dieje­nigen jungen Menschen hin verzogen haben, die vom klas­si­schen Jour­na­lismus nicht mehr abge­holt werden. Wo ganz nebenbei ein sehr viel breiter gefä­chertes Verständnis von Körper­formen und ‑normen herrscht. Und wo man für eine Bericht­erstat­tung wie die Sommer­serie der Berner Zeitung nur das übrig hat, was sie verdient: ein müdes Lächeln.


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