Unter Beschuss

Der Nord­osten Syriens wird autonom verwaltet. Doch seit drei Jahren wird die Region vom türki­schen Militär ange­griffen. Der Foto­re­porter Giacomo Sini hat Menschen vor Ort getroffen. 
Ein Kämpfer der YPG. (Foto: Giacomo Sini, 2015)

In den frühen Morgen­stunden ist die inter­na­tio­nale Auto­bahn M4 ganz ruhig. Entlang dieser stra­te­gi­schen Achse, die an die besetzten Gebiete grenzt, liegt die Stadt Tell Tamr. Das Gebiet von Tell Tamr in Nord­sy­rien wird über­wie­gend von syri­schen und assy­ri­schen Christ*innen, Kurd*innen und Araber*innen bewohnt, an denen der IS während des Vormar­sches im Jahr 2015 massive Massaker begangen hat. 

Jetzt sind sie Opfer eines erneuten Angriffs des türki­schen Mili­tärs geworden. Vom Hügel mit Blick auf die Stadt ist die Front nur wenige Kilo­meter entfernt. Darunter steht eine Kirche zwischen Häusern. Früher gab es mehr als 30 in diesem Gebiet, verstreut in verschie­denen Sied­lungen. Sie wurden alle beschä­digt, zerstört oder sind aufgrund der Angriffe unzu­gäng­lich. Nur diese, die älteste, ist bisher stehen geblieben.

Die Türkei star­tete zwischen 2016 und heute fünf Offen­siven in Nord­sy­rien. Das erklärte Ziel: die Bekämp­fung angeb­li­cher „Terro­ri­sten“. Einer der jüng­sten Angriffe der Türkei nennt sich „Opera­tion Peace Spring“. Dieser wurde mit Unter­stüt­zung von bewaff­neten Gruppen der Syri­schen Natio­nalen Oppo­si­tion (SNA) im gesamten Gebiet der Auto­nomen Verwal­tung Nord- und Ostsy­riens (AANES) durch­ge­führt. Seit der jüng­sten türki­schen Inva­sion im Jahr 2019 wird das Gebiet täglich ange­griffen. Gezielt wird haupt­säch­lich auf Dörfer in der Nähe des Khabour-Flusses, um die Auto­bahn zu errei­chen. Auch Tell Tamr liegt in dieser Zone.

Hier verläuft die Front. Ganz in der Nähe liegt die Stadt Tell Tamr am Fluss Khabour. (Foto: Giacomo Sini, 2022)

„Als Milizen des Isla­mi­schen Staates Anfang des Jahres versuchten, das Al-Sina-Gefängnis in Heseke anzu­greifen, versuchten wir, unsere Kame­raden zu errei­chen“, sagt Demhat Brusk, Co-Komman­deur des Mili­tär­rats von Tell Tamr, der mit den Syri­schen Demo­kra­ti­schen Kräften (SDF) verbunden ist. „Als der Angriff gewalt­tä­tiger wurde, schlugen die Türkei und ihre Verbün­deten auf unsere Streit­kräfte ein und versuchten, uns daran zu hindern, die Stadt zu errei­chen. Die Razzien kamen direkt aus den besetzten Gebieten und verdeut­lichten, dass die Offen­sive des Isla­mi­schen Staates bekannt war und von den türki­schen Behörden vertuscht wurde, um das Gebiet zu destabilisieren.“ 

Zilan Tal Tamr, Komman­deurin der YPJ (Women’s Protec­tion Unit) und Mitglied des Regie­rungs­rates, sagt: „Der patri­ar­chale Kontext machte es Frauen zunächst schwer, neben den männ­li­chen Kämp­fern in Nord­sy­rien präsent zu sein. Heute sind Frauen sehr promi­nent im Kampf gegen die Besat­zung. Im Nord­osten Syriens sind wir in allen sozialen Berei­chen aktiv, nicht nur im Militär, und wir kämpfen für die Gleich­stel­lung der Geschlechter, die den gesamten revo­lu­tio­nären Prozess begünstigt.“

Demhat Brusk und Zilan Tal Tamr (Foto: Giacomo Sini, 2022)

Nur wenige Meter vom Haupt­quar­tier des Mili­tär­rats entfernt, sitzt Xabûr Ekad vor dem Gebäude, in dem der syrisch-assy­ri­sche Mili­tärrat der Region Khabour seinen Sitz hat. Er gehört zu den Sprecher*innen der Orga­ni­sa­tion und erzählt, wie unzäh­lige Menschen Tell Tamr zwischen 2012 und 2015 ins Ausland verlassen haben. Dank der Fort­schritte des Mili­tär­rats seien viele zurück­ge­kehrt: „Sie kommen zurück, um das Wachstum der Gemein­schaft zu unter­stützen und gegen die türki­sche Besat­zungs­truppe zu kämpfen“, sagt Ekad.

Xabûr Ekad, Spre­cher des syrisch-assy­ri­schen Mili­tär­rats. (Foto: Giacomo Sini, 2022)

Nabil Warda, Spre­cher der Assy­rians Khabour Guards, einer Miliz, die Assyrer*innen in der Gegend versam­melt, ergänzt: „Wir haben fünfzig Fami­lien Unter­schlupf gewährt, die aus Dörfern geflohen sind, die von den türki­schen Besat­zern ange­griffen wurden. Sie wollen die syrisch-assy­ri­sche Präsenz aus dem Gebiet tilgen. Wir vertei­digen nicht nur die Chri­sten, wir vertei­digen ein Projekt des Zusam­men­le­bens und der Tole­ranz, das ständig bedroht ist.“

Nabil Warda, Spre­cher der Assy­rians Khabour Guards. (Foto: Giacomo Sini, 2022)

In Heseke, nicht weit von der Stadt Tell Tamr entfernt, sagt Kendal Rojava, ein junges Mitglied der YPG-Inter­na­tio­nale: „Erdoğan will unter dem Vorwand eines Kampfes gegen das, was Ankara ‚Terro­rismus‘ nennt, seine Grenzen erwei­tern.“ Dafür nutze die Türkei isla­mi­sti­sche und dschi­ha­di­sti­sche Verbün­dete, ergänzt ein anderer junger Freiwilliger.

„Die Türkei will wie in Afrin ihr eigenes ethnisch-poli­ti­sches Projekt in der ganzen Region durch­führen“, fährt Zafer Zagros, ein junges YPG-Mitglied, fort. In Afrin würden Menschen gezwungen, türkisch zu spre­chen. „Erdoğan versucht mit seinen natio­na­li­sti­schen Verbün­deten eine Neo-Osma­ni­sche-Agenda im Nahen Osten durch­zu­setzen“, betont Zagros. „Dabei gab es immer eine türki­sche Unter­stüt­zung – auch logi­stisch – für die neuen ISIS-Akti­vi­täten, wie viele der IS-Mili­zio­näre erklärten, die SDF in letzter Zeit gefangen genommen haben“, fährt Ciwan fort. 

Man sei sich hier die Einschüch­te­rung durch die Türkei und ihre Verbün­deten gewöhnt, berichten die drei Frei­wil­ligen. Bisher gäbe es keine genaue Zahl, wie viele Menschen aus Angst vor einer neuen türki­schen Inva­sion geflohen sind. Aber es gibt täglich Demon­stra­tionen zur Unter­stüt­zung der SDF und gegen den bevor­ste­henden Angriff, sagen sie. 


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