Die Welt ist im Ausnahmezustand.
Für fast alle von uns ist es die erste Pandemie, die wir erleben. Die Menschheit wurde jedoch immer wieder von Epidemien und Pandemien heimgesucht. Die letzte grosse Pandemie wütete nach dem Ersten Weltkrieg: die Spanische Grippe. Damals starben allein in Europa zwei Millionen und weltweit bis zu 50 Millionen Menschen an diesem Virus, das damals als „eine Art Grippe, aber ganz ungewöhnlich ansteckend“ beschrieben wurde.
100 Jahre später stecken wir erneut in einer Virus-Pandemie. Die Situation ist vor allem für uns, die wir an ein hochentwickeltes Gesundheitssystem gewöhnt sind, surreal. Dieser Schock und diese Hilflosigkeit bereiten einen fruchtbaren Boden für allerlei Verschwörungstheorien.
Geschichtlich betrachtet hatten Verschwörungstheorien in solch tiefgreifenden Krisen immer Hochkonjunktur. Das liegt unter anderem daran, dass sich viele Menschen ihrem Schicksal ausgeliefert fühlen und einen gewissen Halt in diesen Theorien finden, die einfache Erklärungen zu bieten scheinen. Heutzutage kommt ein zusätzlicher Verstärker solcher Mythen hinzu: das Internet. Mit Hilfe der digitalen Kommunikation ist es um einiges einfacher geworden, Menschen mit ähnlichen Ansichten zu finden und irreführende Theorien zu verbreiten.
Aus diesem Grund wollen wir uns die vier häufigsten Impfmythen und deren Widerlegung genauer ansehen.
Mythos Nr. 1: „Die Entwicklung und Zulassung der Impfstoffe ist zu schnell gegangen. Da kann etwas nicht stimmen.“
Diese Angst ist nachvollziehbar. Es gibt jedoch sehr einleuchtende Gründe, warum dieser Prozess, der oft jahrelang dauert, dieses Mal so schnell war:
- Rolling Review: Klinische Prüfungen bestehen aus drei Phasen. Normalerweise werden die gewonnenen Daten erst nach dem Ende der dritten Phase an die Zulassungsbehörden zur Überprüfung übermittelt. Beim Rolling Review können die Hersteller:innen ihre Daten schon ab Phase 1 laufend einreichen. Die Überprüfung und die Studien konnten somit parallelisiert werden.
- Bestehendes Wissen: Vieles konnte man sich von der Impfstoffentwicklung für SARS und MERS abschauen. Die Forscher:innen wusste zum Beispiel schon, dass das Spike-Protein (die kleinen Stacheln) des Virus sich gut als Antigen (Substanz im Impfstoff) eignet.
- Kooperation: Die Impfstoffentwicklung wurde zur globalen Priorität Nummer 1 erklärt. Weltweit machten sich unzählige Forschungsgruppen an die Arbeit und pflegten einen regen Austausch. Zurzeit sind 69 Impfstoffe in der Testphase (Stand Februar 2021).
- Money, Money: Der wichtigste Faktor von allen ist natürlich das Geld. Mit nie dagewesenen, vor allem staatlichen Investitionen konnten finanzielle Risiken eingegangen werden, die die Entwicklung rasant beschleunigten. BioNTech/Pfizer wurde zum Beispiel mit 375 Millionen Euro von der deutschen Bundesregierung gefördert.
Mythos Nr. 2: „Es wurde zu kurz getestet, um Langzeitfolgen abschätzen zu können.“
Der Begriff „Langzeitfolgen“ ist sehr irreführend, da er suggeriert, dass solche erst nach langer Zeit auftreten. Tatsächlich ist es aber so, dass Langzeitfolgen in aller Regel innerhalb der ersten sechs Wochen auftreten. Deshalb muss die klinische Phase 3 auch mindestens zwei Monate lang sein.
Oft werden von Impfgegner:innen die unentdeckten Nebenwirkungen von Pandemrix als Beispiel für eine übereilte Zulassung angeführt. Pandemrix war ein Impfstoff gegen die Schweinegrippe, die 2009/2010 kursierte. Eine:r von 16’000 geimpften Personen erkrankte an Narkolepsie, der Schlafkrankheit. Diese Nebenwirkung war in der Testphase nicht aufgefallen. Das Problem war hier jedoch keine zu kurze Testdauer, sondern die unzureichende Anzahl der Proband:innen: Der Impfstoff wurde nur an weniger als 2’000 Personen getestet.
Natürlich konnten diese seltenen Nebenwirkungen bei so wenigen Testpersonen nicht aufgespürt werden. Bei den Covid-Impfstoffen wurden jedoch um ein Vielfaches mehr Testpersonen als bei anderen klinischen Studien eingeschlossen (AstraZeneca: 24’000 Personen, Moderna: 30’000 Personen, BioNTech/Pfizer: 44’000 Personen). Die Impfstoffe sind also mindestens genauso sicher wie andere zugelassene Arzneimittel.
Mythos Nr. 3: „Die Covid-Impfung macht unfruchtbar.“
Dieses Gerücht ist nicht neu. Der Mythos der Unfruchtbarkeit als Nebenwirkung von Impfungen wird immer wieder von Gegner:innen gestreut. So auch bei der Polio-Impfung 2004 in Nigeria sowie bei der Tetanus-Impfung 2014 in Kenia.
Neu ist jedoch die pseudo-wissenschaftliche Argumentation. Impfgegner:innen behaupten, dass das Protein Syncytin‑1, das für den Aufbau der Plazenta wichtig ist, grosse Ähnlichkeiten mit dem Spike-Protein des Virus habe. Aufgrund dieser Ähnlichkeiten würden die durch die Impfung aufgebauten Antikörper nun nicht nur das Virus angreifen, sondern auch Syncytin‑1. Dem Mythos zufolge mache dieser Vorgang Menschen mit Gebärmutter unfruchtbar.
Doch das ist völliger Blödsinn. Empirischer Gegenbeweis: Falls es wirklich zu dieser Verwechslung („Kreuzreaktion“ genannt) kommen würde, müssten alle Menschen mit Gebärmutter, die eine Covid-Krankheit hinter sich haben, unfruchtbar sein, da sie dieselben Antikörper wie geimpfte Personen besitzen. Doch eine solche Wirkung ist nicht eingetreten.
Für den molekularbiologischen Gegenbeweis können wir uns die Struktur der beiden Proteine genauer ansehen: Proteine bestehen aus vielen aneinandergeketteten Aminosäuren. Diese Bausteine kann man sehr gut miteinander vergleichen. Es stellt sich dabei heraus, dass die Überlappungen von Syncytin‑1 und dem Spike-Protein nur sporadisch und rein zufällig vorkommen.
Es ist sogar so, dass manche Schnupfenviren mehr Überlappungen mit Syncytin‑1 haben als das Spike-Protein. Nach der Logik der Impfgegner:innen müssten wir also nach jedem Schnupfen Angst haben, unfruchtbar zu werden. Das ist glücklicherweise nicht der Fall.
Mythos Nr. 4: „Impfen löst Autismus aus.“
Dieser Mythos, der durch eine einzige gefälschte Studie entstanden ist, hält sich seit über 20 Jahren hartnäckig. 1998 sieht Andrew Wakefield in seiner Studie einen Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung (Masern-Mumps-Röteln) und Autismus. Die Studie wurde im renommierten Magazin The Lancet veröffentlicht, aber später wieder zurückgezogen und vom Herausgeber des Magazins als „unwissenschaftlich und unehrenhaft“ bezeichnet.
Die Studie, die seit Jahrzehnten als Beweis für den Autismus-Mythos gilt, wurde an lediglich zwölf Kindern durchgeführt. Noch dazu kam später heraus, dass die Beschwerden bei den meisten Kindern bereits vor der Impfung aufgetreten waren. Wakefield hatte die Daten gefälscht. Es gab ausserdem grosse Interessenskonflikte, da Wakefield selbst ein Patent auf einen alternativen Impfstoff gegen MMR besass und deshalb grosses Interesse an der Diskreditierung des aktuellen Impfstoffes hatte.
Trotz all dieser Ungereimtheiten wurden seit 1998 unzählige Studien zu diesem Thema durchgeführt. Und alle kamen zum selben Ergebnis: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Impfen und Autismus. Die aktuellste und grösste ist eine dänische Studie mit 60’000 Kindern aus dem Jahr 2019.
Wakefield wurde mittlerweile die Arzt-Lizenz entzogen. Was ihn aber nicht davon abhält, als Impfgegner-Idol zum Beispiel in seinem Film Vaxxed Impf-Lügen zu verbreiten. Und auch im deutschsprachigen Raum erlebt die MMR-Impf-Skepsis ein Revival, was zu einem traurigen Comeback von Masern und Masern-Toten geführt hat.
Was jedoch kein Mythos ist: Impfungen sind die grösste medizinische Erfolgsstory der Geschichte und verhindern jedes Jahr Millionen von Todesopfern. Und auch jetzt ist die Impfung das wichtigste Werkzeug, um die Pandemie zu beenden. Damit das so schnell wie möglich passiert, müssen endlich die Patente der Impfstoffe frei zugänglich sein. Erst dann kann der so dringend benötigte Impfstoff überall auf der Welt produziert werden. Erst dann können wir sicherstellen, dass Länder im Globalen Süden nicht erst 2023 Zugang zum lebensrettenden Impfstoff haben.
Die Impfstoffe konnten nur durch immense staatliche Investitionen entwickelt werden. Sie gehören der ganzen Menschheit. Lasst uns deshalb Menschenleben über Profitinteressen stellen und den Impfstoff so schnell wie möglich und kostenlos für alle Menschen überall auf der Welt zur Verfügung stellen.
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