Wahlen in Guate­mala: Ein Körn­chen Hoffnung

Mit dem Sieg Bernardo Arévalos beginnt für Guate­mala ein neues Kapitel. Das Land ist von poli­ti­scher Repres­sion, Korrup­tion und Armut gebeu­telt. Doch der Sozi­al­de­mo­krat könnte nun eine histo­ri­sche Wende einleiten. 
Bernardo Arévalo bei einer Wahlveranstaltung im August. (Foto: Prensa Bernardo Arevalo)

Carla Gómez über­legt ein paar Sekunden. Die Wasser­ver­sor­gung und die Sicher­heits­lage – das seien die drän­gend­sten Probleme. Hier, an der Peri­pherie der Haupt­stadt Guate­malas, ist Hoff­nung ein Synonym für Enttäu­schung. „Wir haben nur etwa alle zwei Wochen Wasser, müssen ratio­nieren“, erklärt die Frau, die in ihren 30ern ist. Das Leben in der Zona 24 sei schwierig. Kein*e Politiker*in habe sich dem Problem wirk­lich ange­nommen, erklärt Gómez. Es würden immer nur leere Verspre­chungen gemacht. 

In der Bezirks­schule 610 des Rand­ge­biet-Distrikts ist am 20. August der Andrang gross. Personal des Wahl­tri­bu­nals TSE wuselt umher, unzäh­lige Wähler*innen stehen in langen Schlangen vor den umfunk­tio­nierten Klas­sen­räumen. Inter­na­tio­nale Beobachter*innen sind nicht anwe­send. Eine ältere Frau zuckt nur mit den Schul­tern. „Gott ist der, der entscheiden wird“, schliesst sie im Hinblick auf den Ausgang der Wahlen.

Die Frauen mit den resi­gnierten Gesich­tern erwar­teten eine Wahl, die ihren gewohnten Gang geht: Spen­dable Politiker*innen stiften vor dem Urnen­gang Blech­dä­cher und Haus­halts­ge­räte. Nach der Wahl wird dann alles wieder sein wie gehabt: Armut, Gewalt und Menschen, die mit ihren Problemen alleine gelassen werden. Dazu eine Elite, die sich an den natür­li­chen Ressourcen des Landes berei­chert – mit Schweizer Hilfe.

Doch der unwahr­schein­lichste aller Fälle ist einge­treten: Der Sozi­al­de­mo­krat Bernardo Arévalo hat die Stich­wahl gegen seine rechte Kontra­hentin Sandra Torres gewonnen und ist der neue Präsi­dent Guate­malas. Damit ist das Wahl­er­gebnis in Guate­mala plötz­lich zu einem Licht­blick für ganz Zentral­ame­rika geworden.

Der „Pakt der Korrupten“

Der Sozio­loge und Ex-Diplomat Arévalo galt als Über­ra­schungs­kan­didat. Ende Juni, in der ersten Wahl­runde, gab ihm kaum jemand eine Chance für den Sieg. Doch die Demoskop*innen lagen falsch. Am 20. August 2023 stimmten 61 Prozent der Wähler*innen für ihn.

Dass Arévalo mit seiner Partei Movi­mi­ento Semilla („Samen­korn-Bewe­gung“) tatsäch­lich die Wahl gegen das estab­lish­ment gewinnt, den „Pakt der Korrupten“ bezwingt, wie es hier in Guate­mala genannt wird – damit hat kaum jemand gerechnet. Unter dem „Pakt der Korrupten“ versteht man in Guate­mala einen Sumpf aus Politiker*innen, Mili­tärs, einfluss­rei­chen Unternehmer*innen und käuf­li­chen Richter*innen, die gemeinsam dafür sorgen, den Status quo aufrecht­zu­er­halten. Ein Status, der Guate­mala laut Trans­pa­rency Inter­na­tional auf Platz 150 von 180 der korrup­te­sten Länder welt­weit hält.

Die Korrup­ti­ons­be­kämp­fung ist eines der zentralen Anliegen der neuen Regie­rung. Damit gleicht Arévalos Rhetorik jener der im Januar 2022 gewählten links­ge­rich­teten Xiomara Castro in Honduras. Der Nach­bar­staat war seit dem Putsch von 2009 durch Korrup­tion gekennzeichnet. 

Wer durch die Strassen der guate­mal­te­ki­schen Haupt­stadt schlen­dert, ein paar Blocks abseits der zentralen Flanier­meile La Sexta, sieht die schwarzen Graf­fitis an der Wand: „Fuera pacto de corruptos!“ („Raus mit dem Pakt der Korrupten!“)

Doch wie gelang der histo­ri­sche Triumph des selbst­er­nannten „Anti­kor­rup­ti­ons­kan­di­daten“?

Ein Bündel an Faktoren hat Arévalo zum unwahr­schein­li­chen Sieg verholfen. Da ist zum einen die zersplit­terte Partei­en­land­schaft. Guate­mala ist ohnehin eine Ausnah­me­erschei­nung in Latein­ame­rika: In fast 40 Jahren hat dort keine einzige Partei je die Wieder­wahl geschafft.

Bernardo Arévalo an sich wird von der Macht­elite schon aufgrund seines Nach­na­mens gefürchtet. Sein Vater war der erste demo­kra­tisch gewählte Präsi­dent Guate­malas (1945–51); rund zehn Jahre später folgte auf ihn Jacobo Árbenz, der dann durch einen CIA-gestützten Putsch abge­setzt wurde. Beide hatten Agrar­re­formen auf der Agenda. Die Macht­eliten fürch­teten um ihren Besitz: das Farm­land. Enteig­nungen mussten um jeden Preis verhin­dert werden.

Sowohl Juan José Arévalo als auch sein Nach­folger Árbenz mussten nach dem Putsch ins Exil fliehen. Bernardo Arévalo ist daher in Uruguay aufge­wachsen – seine Widersacher*innen spre­chen ihm deswegen ab, ein rich­tiger Guate­mal­teke zu sein. Jetzt ist er Präsident.

Dabei sah es vor den Wahlen so aus, als würde eine andere Links­partei zur Hoff­nungs­trä­gerin: die Bewe­gung zur Befreiung der Völker – kurz MLP. Eine in den 90er Jahren auf dem Land gegrün­dete sozi­al­po­li­ti­sche Bewegung.

Eine Masche, zwei Versuche

Im Dezember 2022 stellten die Anführer*innen der MLP, Thelma Cabrera, indi­gene Leaderin und Jordán Rodas, Ex-Ombuds­mann für Menschen­rechte, ihre Kandi­datur zur Präsi­dent­schaft vor. Cabrera hatte bereits bei den Präsi­dent­schafts­wahlen von 2019 teil­ge­nommen und erreichte damals gut 10 Prozent der Stimmen.

Bereits im darauf­fol­genden Februar verbot zuerst das Wahl­ge­richt (TSE) und dann das Verfas­sungs­ge­richt (CC) die Teil­nahme des Kandidat*innenduos. Ihnen wurde vorge­worfen, sich mit vermeint­lich ungül­tigen Zulas­sungs­do­ku­menten zur Wahl aufge­stellt zu haben. Inter­na­tio­nale Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen bezeich­neten den Vorgang als Skandal. Kandidat*innen würden aus „scheinbar will­kür­li­chen Gründen“ von der Wahl ausge­schlossen, so der UN-Hoch­kom­missar für Menschen­rechte, Volker Türk.

Indi­rekt half dieser Vorgang Arévalo: Viele frustrierte Bürger*innen entschieden sich dazu, seiner Semilla-Partei ihre Stimme zu geben – auch wenn das viel­leicht nicht ihre erste Wahl gewesen wäre. Zusätz­lich schaffte es Arévalo, beson­ders viele Neuwähler*innen zum Wahl­gang zu motivieren.

Wenige Wochen vor der Wahl versuchten die Behörden dann auch Arévalos Kandi­datur zu verhin­dern. Unter dem Vorwurf „korrupter Hand­lungen“ wurden Ermitt­lungen gegen die Partei Semilla aufge­nommen. Von einem „tech­ni­schen Staats­streich“ sprach der jetzige Präsi­dent Guate­malas damals im guate­mal­te­ki­schen Fernsehen.

Ein Ende des Raubbaus?

Semilla „ist die einzige wirk­liche Hoff­nung für die Bevöl­ke­rung“, erzählt Carlos Choc. Der Jour­na­list ist in stän­digem Kontakt mit indi­genen Gemein­schaften, die beson­ders unter dem Raubbau von natür­li­chen Ressourcen leiden. Am 27. Mai 2017 geriet Choc ins Faden­kreuz des Schweizer Rohstoff­kon­zerns Solway aus Zug. An diesem Tag machte der Jour­na­list ein Foto, das um die Welt ging: Es zeigt den leblosen Körper des indi­genen Fischers und Umwelt­ak­ti­vi­sten Carlos Maaz Coc.

Auslöser des Protests waren rote Verfär­bungen beim Izabal-See in der Nähe der Nickel­mine, die der Jour­na­list Choc wenige Monate zuvor fest­ge­stellt hatte. Als die Behin­de­rung seiner Arbeit zu heftig wurde, über­nahm das Recher­chen­etz­werk „Forbidden Stories“ den Fall für ihn. Unzäh­lige Doku­mente, die den Schweizer Berg­bau­gi­ganten Solway bela­sten, konnten die Journalist*innen veri­fi­zieren: Unter­drückung der Recherche, die Bezah­lung lokaler Poli­zei­be­hörden bis hin zum Verbreiten von absurden Gerüchten, um den Zusam­men­halt der indi­genen Gemein­schaft zu zersetzen. Auch das Lamm berichtete. 

Carlos Ernesto Choc Chub gehört der Maya-Ethnie Q’eqchi an. Mit seiner Bericht­erstat­tung will er ein Schlag­licht auf die Probleme der indi­genen Gemein­schaften werfen. Die Stadt El Estor im Osten des Landes ist bekannt für die jahre­langen Akti­vi­täten der Nickel­mine „Fénix“ (Phoenix) des schwei­ze­risch-russi­schen Berg­bau­un­ter­neh­mens Solway Invest­ment Group.

Über die Hälfte der Bevöl­ke­rung Guate­malas lebt in Armut, beson­ders hoch ist dieser Anteil auf dem Land. Die Gewalt und die Unsi­cher­heit im Land treiben die Menschen um. Bewohner*innen länd­li­cher Gegenden müssen darüber hinaus den Raubbau an der Natur ertragen.

„Die Verschmut­zung betrifft nicht nur die Umwelt. Wir konnten auch Atem­wegs- und Haut­er­kran­kungen bei den Menschen in den umlie­genden Commu­ni­ties doku­men­tieren“, erzählt Choc am Telefon.

Im Dezember vergan­genen Jahres stellte die Schweizer Solway Group ihre Akti­vi­täten ein. Doch für Jubel ist es noch zu früh. Wie das US-Magazin News­week berichtet, unter­stützt die US-Regie­rung bereits das kana­di­sche Berg­bau­un­ter­nehmen Central America Nickel mit Sitz in Mont­real, um sich die Konzes­sionen zu angeln.

Erwar­tungen sind riesig

Ob die Bevöl­ke­rung vom See Izabal und ganz Guate­mala wirk­lich eine Verbes­se­rung ihres Leben verspüren wird ist noch unklar. Die Nieder­lage der ultra­rechten Torres heisst nicht unbe­dingt, dass der Spuk vorbei ist. Die guate­mal­te­ki­sche Macht­elite ist weiterhin in der Justiz präsent und versucht durch juri­sti­sche Tricks, die Wahl für ungültig zu erklären.

Im Kongress, der zurzeit 160 Abge­ord­nete zählt, kann Semilla ledig­lich 23 vorweisen – neue Geset­zes­pro­jekte brau­chen also den Zuspruch der Oppo­si­tion. Eine der ersten Aktionen, die der neue Präsi­dent nach seiner Amts­ein­füh­rung am 14. Januar 2024 durch­führen will, betrifft die Ent-Korrum­pie­rung der Justiz. Dieses Vorhaben könnte für ihn selbst gefähr­lich werden: Ende August wurden bereits Anschlags­pläne gegen den neuen Präsi­denten publik.


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