Was kann Lite­ratur für eine gerechte Welt tun?

Lite­ratur kann entweder einen Zweck verfolgen oder kunst­voll sein, heisst es oft – niemals beides. Unser Kolum­nist ist nicht einverstanden. 
Lamm-Kolumnist Olivier David las einen Monat lang nur Prosa, die sich mit der unteren Klasse beschäftigt. (Bild: Unsplash)

Die Lite­ratur als ein Ort, um Partei zu ergreifen, das ist kunst­fremd – Sätze wie diese gelten im Lite­ra­tur­be­trieb als etwas, das Pierre Bour­dieu Doxa nennen würde: als nicht infrage gestellte kollek­tive Wahrheiten.

„David gegen Goliath“ ist hier Programm. Olivier David 
gegen die Goli­aths dieser Welt. Anstatt nach unten wird nach oben getreten. Es geht um die Lage und den Facet­ten­reichtum der unteren Klasse. Die Kolumne dient als Ort, um Aspekte der Armut, Preka­rität und Gegen­kultur zu reflek­tieren, zu bespre­chen, einzu­ordnen. „David gegen Goliath“ ist der Versuch eines Schrei­bens mit Klas­sen­stand­punkt, damit aus der Klasse an sich eine Klasse für sich wird. Die Kolumne erscheint eben­falls als Newsletter.

Ich halte es in diesem Punkt mit Ocean Vuong, der in „Auf Erden sind wir kurz gran­dios“ schrieb: „Sie werden dir sagen, dass gutes Schreiben sich vom Poli­ti­schen ‚eman­zi­piert‘, wodurch die Schranken der Unter­schiede tran­szen­dieren und die Menschen auf univer­selle Wahr­heiten hin vereint werden. Sie werden sagen, dass das vor allem durch Hand­werk erreicht wird. Sehen wir uns an, wie es gemacht ist, sagen sie – als wäre die Art und Weise, wie etwas zusam­men­ge­baut ist, seinem schöp­fe­ri­schen Impuls fremd.“

Annie Ernaux: Ethno­login ihrer selbst

Es ist Anfang Januar und gegen mich läuft ein kleiner Shits­torm, weil ich mich in einem Essay in der TAZ gegen ein Böller­verbot ausge­spro­chen habe. Ich lese „Die Scham“ von Annie Ernaux. Ein Buch, in dem Ernaux über einen Tötungs­ver­such inner­halb ihrer Familie schreibt. Gleich das erste Buch meines Lese­pro­jekts liefert die Idee für ein lite­ra­ri­sches Verfahren. Ihr Schreiben über die eigene soziale Herkunft stellt Annie Ernaux in den Dienst der Suche nach ihrer inneren Wahrheit.

„Natür­lich keine Erzäh­lung, die eine Wirk­lich­keit erzeugen würde, anstatt nach ihr zu suchen. Mich auch nicht damit begnügen, die Erin­ne­rungs­bilder frei­zu­legen und zu tran­skri­bieren, sondern diese als Quellen behan­deln, die etwas aussagen, wenn man sie mit unter­schied­li­chen Heran­ge­hens­weisen betrachtet. Im Grunde eine Ethno­login meiner selbst sein.“

Im Februar lese ich noch ein weiteres Buch von Annie Ernaux, das jüngst erschie­nene (und mit 40 Seiten unver­schämt kurze) „Der junge Mann“, in dem Ernaux ihre Bezie­hung zu einem 30 Jahre jüngeren Mann reflek­tiert. Ernaux, das merkt man bei genauerer Lektüre, ist da stark, wo sie mit ihrer Lite­ratur kollek­tive soziale Wahr­heiten finden und erfor­schen will, wie etwa in „Die Jahre“. Das schafft sie, indem sie das lite­ra­ri­sche Ich gegen ein „man“ eintauscht und so aus indi­vi­du­ellen Erkennt­nissen kollek­tive Gefühle und Wahr­heiten konstruiert.

Was man bei Ernaux lernen kann, ist, wie sie Bour­dieus sozio­lo­gi­sche Analyse mit den Mitteln der Lite­ratur verar­beitet und damit zum Class-Buil­ding, also zur Bewusst­wer­dung eigener Klas­sen­iden­tität beiträgt. So schreibt Sarah Carlotta Hechler im Sammel­band „Auto­so­zio­bio­grafie – Poetik und Politik“: „Die Idee, Kollek­tives im Indi­vi­du­ellen frei­zu­legen, [wird] zur Grund­lage Ernaux’ Schreib­pro­jekt. Aus dem Schock des Selbst­ver­lusts entsteht das Angebot an den:die Leser:in, sich in den Texten wieder­zu­finden und dadurch die Isola­tion der eigenen schmerz­vollen Erfah­rungen zu überwinden.“

Hans Fallada Festwochen

Drei Falladas standen auf meiner Lese­liste für mein Klas­sen­prosa-Projekt. Neben Falladas Klas­siker „Kleiner Mann, was nun“, dem Roman über den Abstieg eines jungen Pärchens zur Zeit der Weimarer Repu­blik, hatte ich mir „Wer einmal aus dem Blech­napf frisst“ und „Jeder stirbt für sich allein“ raus­ge­guckt. Im Gegen­satz zu Annie Ernaux handelt es sich bei den drei Büchern Falladas um Fiktion. 

Gross­artig an Fallada ist, wie er die Würde der soge­nannten einfa­chen Leute gegen Fragen der Moral vertei­digt. Menschen aus der Unter­klasse müssen nicht mora­lisch integer sein, damit Fallada sich für sie inter­es­siert. Trotzdem schil­dert er ihre Lebens­rea­li­täten mit Respekt – und dennoch scho­nungslos. Gerade deswegen gelingt es ihm, ein diffe­ren­ziertes Bild von armen Menschen zu zeichnen, in dem er weder über­höht noch die Menschen rein als Produkte ihrer Umwelt ausweist. 

Otto Quangel, der Prot­ago­nist in „Jeder stirbt für sich allein“, schreibt als Schrei­ner­mei­ster Post­karten gegen das Nazi­re­gime. Sein Wider­stand wird weder über­höht noch klein­ge­redet. Quangel wird als verschroben, schweigsam und bockig darge­stellt. Gleich­zeitig ist er ein Mann seiner Klasse in dem Sinne, als dass er Prin­zi­pien vertritt, mit denen er auch in Haft nicht bricht. 

Auch die Frau­en­fi­guren Falladas impo­nieren bisweilen, obgleich sie einer­seits durch die Rollen­bilder ihrer Zeit und ande­rer­seits durch den männ­li­chen Blick des Autors geprägt sind. Da ist Anna Quangel, die Frau von Otto Quangel, die zwar ihren Platz als Frau in der Familie Quangel kennt, aber trotzdem keine Mitläu­ferin ist. Da ist Emma Mörschel, genannt Lämm­chen, die, obwohl nichts gelingt und alles im Schei­tern begriffen ist, zu ihren Prin­zi­pien steht, wenn sie sagt: „Die, die wir treten können, die wollen wir nicht treten“. 

Unter der Gemenge­lage von Krieg, lebens­be­droh­li­cher Verelen­dung und roher Gewalt ist Falladas Schreiben eine Vorstufe von Ernaux. Diffe­ren­ziert schreibt er von Verfeh­lungen und dem Erhalt der Menschen­würde unter schlimm­sten Zuständen – und liefert Ernaux damit das Mate­rial, mit dem sie indi­vi­du­elle Wahr­heiten in kollek­tive verwandelt. 

Lite­ratur als Rache

Wer Lite­ratur explizit in den Dienst des Klas­sen­kampfes stellt, wird bei den folgenden zwei Büchern fündig. Robert Bracks „Blut­sonntag“ ist ein poli­ti­scher Krimi­nal­roman, der sich mit der Aufar­bei­tung des Alto­naer Blut­sonntag befasst, bei dem 18 Menschen erschossen wurden. Mesut Bayraktars „Aydin – Erin­ne­rung an ein verwei­gertes Leben“ rekon­stru­iert den Lebens­lauf vom Onkel des Autors.

Bei Brack werden mit proto­ty­pi­scher Sprache die grossen Fragen linker Bewe­gungen der vergan­genen hundert Jahre verhan­delt: „Warum stehen die Arbeiter nicht auf und folgen ihren Bestim­mungen? Warum, zum Donner­wetter, verläuft die Geschichte nicht so, wie es ihr vorher­be­stimmt ist? Warum kann man nicht ausrechnen, an welchem Tag das Ende der Bour­geoisie und ihrer verbre­che­ri­schen Verbün­deten gekommen ist?“ Bracks Haupt­figur, die kommu­ni­sti­sche Jour­na­li­stin Klara Schindler, findet die Antworten auf ihre Fragen in sich selbst. Wenn die kommu­ni­sti­sche Arbei­ter­be­we­gung zu schwach ist, den Kampf aufzu­nehmen, muss sie es eben selbst tun. Sie schwört, den Alto­naer Blut­sonntag zu rächen.

Mesut Bayraktar Rache funk­tio­niert auf zwei Ebenen. Wie der Unter­titel bereits sagt, geht es ihm um die Erin­ne­rung an dieje­nigen, die unsere Gesell­schaft an den Rand stellt – wobei im Falle seines Onkels Aydin der Rand bedeutet, dass er nach einem Gefäng­nis­auf­ent­halt in Deutsch­land in die Türkei zurück­ge­führt wird. 

Eine weitere Moti­va­tion findet Bayraktar in der Kana­li­sie­rung und (Re)Politisierung seiner Gefühle. So schreibt er: „Ich war Gefan­gener meiner Wut, bis ich lernte, dass sie eine Gefährtin ist und mir schon immer aus dem Gefängnis der Ausbeu­tung helfen wollte.“ So fein wie er die Ursprünge fami­liärer Wut durch­de­kli­niert („Impulse entladen sich als Neben­pro­dukt der Klas­sen­ge­walt in Form von Gewalt gegen sich und ihres­glei­chen“), so beschreibt er auch sein Verständnis von Lite­ratur: „Ich aber will jene zur Sprache kommen lassen, die in der Gewalt der Sprach­lo­sig­keit gefangen gehalten werden“ und „Die Form muss sie vom Schweigen befreien.“ 

„Aydin“ durch­zieht der Versuch, durch das Aufschreiben eigener Fami­li­en­ge­schichte eine selbst­be­stimmte Deutung geltend zu machen: sein Onkel, der als Gast­ar­beiter für den Wohl­stand ausge­beutet wird, für den sich mensch­lich in Deutsch­land niemand inter­es­sierte, der an einer Rolle schei­terte, die ihm zuge­wiesen wurde. Der sich wider­setzte und für diese Wider­setzen bestraft wurde. Eine Deutung, die sich der Geschichts­schrei­bung der Herr­schenden wider­setzt. Bayraktars Prosa ist poli­tisch im besten Sinne und straft jene Lügen, die glauben, zwischen poli­ti­schem Schreiben und guter Lite­ratur liege ein Widerspruch. 

Die Form muss sie vom Schweigen befreien 

Drei weitere Bücher möchte ich am Ende dieses Textes erwähnen. Sie alle haben eine Form gefunden, die ihre Protagonist*innen vom Schweigen befreit. Jean­nette Walls „Schloss aus Glas“, eine roman­hafte Erzäh­lung ihres Aufwach­sens in der ameri­ka­ni­schen Armuts­klasse entfaltet mit ihren einfach gebauten Sätzen einen Sog, der einen das Buch nicht mehr aus der Hand legen lässt. Die Story von zwei Eltern, die zeit­weise auf der Strasse leben, die Beschrei­bung bitter­ster Armut und Verwahr­lo­sung – all das konfron­tiert einen mit einer offen­sicht­li­chen Wahr­heit: Die Schil­de­rung dieser sozialen Zustände allein birgt das Poten­zial, Leser*innen zu emotio­na­li­sieren und auf diesem Weg zu politisieren.

Das ist die eine Seite, die andere ist eine unbe­queme: Detail­lierte Schil­de­rungen à la Walls können natür­lich auch auf einer anderen Ebene funk­tio­nieren: Als wohlig-voyeu­ri­sti­sches Grusel­stück darüber, was Armut mit Menschen macht. Zwischen diesen beiden Deutungs­mög­lich­keiten liegt ein Gedanke, der mir nicht aus dem Kopf geht: eine Art selbst­be­stimmtes, bewusstes Bedienen von Voyeu­rismus als Mittel der Emotio­na­li­sie­rung. Ein Voyeu­rismus, der die Chance birgt aufzu­rüt­teln – und ohne den manche Bücher nie die Verbrei­tung gefunden hätten, die es braucht, damit auch arme Menschen, die sich in den Geschichten Walls wieder­finden, Zugang zu dieser Lektüre gewinnen können.

Was die sprach­liche Ebene angeht, sind neben den schon genannten Romanen beson­ders „Hund, Wolf, Schakal“ von Behzad Karim Khani und „So forsch, so furchtlos“ von Andrea Abreu hervor­ge­sto­chen. Mit wenigen Worten schafft Khani Bilder entstehen zu lassen, die im Gedächtnis bleiben („Die Jacke weinte an seinem hageren Körper. An ihm war sie eine Lüge, eine Behaup­tung, aus der seine Bein­chen röhren­förmig und beschä­mend heraus­ragten wie die Wahr­heit“) und Abreu vereint Situa­ti­ons­komik und Tragik zu grosser zeit­ge­nös­si­scher Literatur.

Was kann Lite­ratur für eine gerechte Welt tun? 

Sie kann eine Analyse der Gegen­wart liefern. 

Sie kann durch die Verbin­dung zwischen Gefühl und Intel­lekt soziale Wahr­heiten nach­haltig im Bewusst­sein ihrer Leser*innen veran­kern, wie es die Politik nicht (und der Jour­na­lismus nur sehr partiell) vermag.

Sie kann Gründe liefern, soziale Kämpfe zu fechten. 

Sie kann Teil eines Prozesses sein, der eine Klasse formt.

Sie kann agitieren – und gleich­zeitig Hoch­kultur sein. 

Sie kann Rache üben.

Sie kann, das weiss ich nicht nur als Leser, sondern auch als Autor, das eigene Leben retten – und die Leben anderer.

Sie kann ermächtigen.

Sie kann unterhalten.

Sie kann ein Verständnis für Kunst schaffen – und darüber für die Aneig­nung der Räume der Kunst als poli­ti­sches Feld. 

Verkneifen muss ich mir, mich selbst auf die Auswir­kungen meines Lese­pro­jektes zu unter­su­chen. Als wäre ich plötz­lich ein anderer nach der Lektüre von vier­zehn Romanen, die Klasse als Ausgangs­punkt haben. Was ich allen­falls bemerke, ist, dass sich durch das Aufholen eigener Wissens­lücken das Verständnis für Prosa von unten ausdif­fe­ren­ziert. Damit einher geht das Verständnis davon, dass Prosa von unten Teil eines Kampfes ist, der die Lite­ratur (kultur-)bourgeoisen Logiken entzieht – und sie denje­nigen zur Verfü­gung stellt, die bisher aus dem Bereich der Hoch­kultur ausge­schlossen sind.


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