Wenn „kriti­sche Männ­lich­keit“ anti­fe­mi­ni­stisch wird

Der Skandal um das Buch „Oh Boy“ zeigt, dass „kriti­sche Männ­lich­keit“ oft mehr mit Masku­lismus als mit Femi­nismus gemein hat. Eine Analyse. 
In seinem Beitrag kreist Valentin Moritz um sich selbst und seine Männlichkeit. (Illustration: Anna Egli)

Die vor kurzem erschie­nene Antho­logie Oh Boy wollte lite­ra­ri­sche Texte über Männ­lich­keit mit kriti­schen Refle­xionen verbinden. Im Beitrag des Heraus­ge­bers Valentin Moritz ging es dabei auch um einen sexu­ellen Über­griff, den er selbst begangen hatte. Nachdem öffent­lich wurde, dass die reale Betrof­fene von Moritz‘ Gewalt ihm explizit verboten hatte, den Über­griff lite­ra­risch zu verwerten, aber Moritz mit der Veröf­fent­li­chung ein weiteres Mal ihr Nein über­ging, gab es heftige Kritik und Boykott­auf­rufe. Der Verlag hat das Buch nun vorerst vom Markt genommen.

Doch der Skandal reisst nicht ab: In einem kurz darauf erschie­nenen Inter­view hat Mitherausgeber*in Donat Blum das Vorgehen von Moritz aggressiv vertei­digt, inklu­sive sexi­sti­scher Ausfälle. Viele stellen sich jetzt die Frage: Wie viel reak­tio­närer Masku­lismus steckt eigent­lich in diesen heutigen Versu­chen, sich mit Männ­lich­keit auseinanderzusetzen?

Masku­lismus, auch oft Masku­li­nismus, ist ein von soge­nannten Männer­recht­lern geprägter Begriff, der sich als Pendant zum Femi­nismus versteht. Der Masku­lismus versteht das männ­liche Geschlecht als syste­ma­tisch benach­tei­ligt oder sogar von Frauen unterdrückt.

Valentin Moritz und die Suche nach authen­ti­scher Männlichkeit

Wer Moritz‘ Text aus Oh Boy wirk­lich liest, muss fest­stellen, dass seine Täter­schaft dort nicht mal eine wirk­lich wich­tige Rolle spielt. Wie schon der Titel „Ein glück­li­cher Mensch“ andeutet, inter­es­siert sich Valentin Moritz vor allem für eins: Valentin Moritz selbst. Die zentralen Themen des Beitrags sind die Suche nach einem authen­ti­schen Zugang zur eigenen Iden­tität und Männ­lich­keit, sowie die Sehn­sucht nach unver­fälschter Nähe zu einem männ­li­chen Freund.

Dass Moritz sich selbst und das eigene Schaffen für wich­tiger hielt als den Willen der Betrof­fenen seiner Gewalt, erscheint da nur konsequent.

Wenn der Autor über seine Täter­schaft spricht, nimmt er sie meist nur als Ausgangs­punkt für weitere pathe­thi­sche Selbst­be­fra­gungen á la: „Wie soll ich wissen, ob dieser Text ehrlich ist? Ob ich ehrlich bin, selbst wenn ich mich bemühe.“ Dabei ahnt Moritz sogar selbst, dass sein Schreiben viel­leicht „nur eine weitere hohle Attrappe am ausge­dehnten Strand der männ­li­chen Selbst­dar­stel­lung“ ist. Konse­quenzen zieht er daraus frei­lich nicht.

Sexua­li­sierte Gewalt als ein Problem, das man kritisch verstehen und vor allem prak­tisch angehen muss, verschwindet bei Valentin Moritz fast voll­ständig hinter dem Kreisen um die eigenen ambi­va­lenten Gefühle gegen­über der eigenen Männ­lich­keit. Dass Moritz sich selbst und das eigene Schaffen für wich­tiger hielt als den Willen der Betrof­fenen seiner Gewalt, erscheint da nur konsequent.

Der „warme Blick auf Männlichkeit“

Moritz‘ Suche nach männ­li­cher Authen­ti­zität erin­nert tatsäch­lich weniger an femi­ni­sti­sche Refle­xion als an mytho­poe­ti­schen Masku­lismus: Die Mytho­poeten, eine Frak­tion der Männer­be­we­gung, die in den 80er Jahren entstand, wollten durch Inner­lich­keit und Verbrü­de­rungs­ri­tuale eine „tiefe Männ­lich­keit“ frei­legen und Männer so von ihrer „toxi­schen Männ­lich­keit“ heilen.

Richtig gelesen: „Toxi­sche Männ­lich­keit“ ist eigent­lich kein femi­ni­sti­scher Begriff, sondern ein Konzept des Mytho­poeten Shep­herd Bliss. Seine ursprüng­liche Bedeu­tung war, dass Männer vor allem Opfer der Gesell­schaft sind und männ­liche Gewalt ein Ergebnis von Defi­ziten ist, nicht von patri­ar­chaler Herrschaft.

Für die Causa Oh Boy ist das gleich doppelt rele­vant. Denn im Nach­wort der Publi­zi­stin Mithu Sanyal bezieht sie sich explizit und positiv auf Bliss. Sanyals Gedanken zu „toxi­scher Männ­lich­keit“ heute sind dabei ganz im Sinne des Erfin­ders: Männer würden viel zu einseitig als Täter und zu wenig als Betrof­fene von einengenden Anfor­de­rungen und Bildern begriffen. Sanyal, die 2019 einen Beitrag im Buch des deut­schen Masku­li­sten Arne Hoff­mann über „ganz­heit­liche Geschlech­ter­po­litik“ veröf­fent­lichte, lobt Oh Boy in ihrem Nach­wort für seinen „warmen Blick auf Männlichkeit“.

Doch genau dieser Blick scheint nicht nur im Fall von Moritz zu masku­liner Gefüh­lig­keit statt femi­ni­sti­scher Refle­xion geführt zu haben. So schreibt der Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler Peter Hintz in seiner Rezen­sion der Antho­logie: „Bei vielen Texten in Oh Boy geht es gar nicht zuerst um männ­liche Selbst­hin­ter­fra­gung, die auch Antworten hervor­bringen soll, sondern um emotio­nale Expres­si­vität, also den Ausdruck von möglichst viel Selbst­mit­leid oder Schuld­ge­fühlen bis hin zum Kitsch.“

Masku­lismus vs. kriti­sche Männlichkeit

Wich­tige Diffe­renzen zwischen Mytho­poeten und dem Ansatz der „kriti­schen Männ­lich­keit“, mit dem auch Oh Boy asso­zi­iert werden will, gibt es natür­lich trotzdem: Auch wenn heutige Mytho­poeten, wie der Männer­coach John Aigner, Femi­nismus als Inspi­ra­tion angeben – das Ziel der Mytho­poeten war und ist es nie gewesen, geschlecht­liche Eman­zi­pa­tion zu errei­chen. Sie suchen „echte“ Männ­lich­keit und diese wollen sie unter Männern und in der Männ­lich­keit selbst finden. Deshalb landen sie am Ende stets bei Sexismus und kruder Männerbündelei.

„Kriti­sche Männ­lich­keit“ hingegen will pro-femi­ni­stisch sein: Femi­nismus wird nicht nur eine Inspi­ra­tion sein, sondern der zentrale Ausgangs­punkt. Männer sollen andere und bessere Männer werden, nicht unab­hängig vom Femi­nismus, sondern gerade wegen ihm. Man muss die eigene Männ­lich­keit ändern und einbringen, aber nur, wenn sie der Gleich­be­rich­ti­gung einen Dienst erweist.

In Boys don’t cry von Jack Urwin, dem Klas­siker der neuen, diesmal pro-femin­sti­schen Kritik an toxi­scher Männ­lich­keit von 2017 heisst es: „Wahre Männ­lich­keit ist etwas, was ihr euch verdienen müsst, indem ihr euer Gender so nutzt, dass alle etwas davon haben.“

Ironi­scher­weise haben die Oh Boy Herausgeber*innen Blum und Moritz genau das erreicht, was sie sich vorge­nommen haben: einen authen­ti­schen Einblick in femi­ni­stisch inspi­rierte Männ­lich­keiten heute – im aller­schlech­te­stens Sinne.

Hören Männer also auf, igno­rant um sich selbst zu kreisen, wenn ihre Suche nach „wahrer Männ­lich­keit“ pro-femi­ni­stisch gerahmt wird? Der Beitrag und das Verhalten von Valentin Moritz spre­chen stark dagegen. Auch mit explizit femi­ni­sti­scher Basis hat „kriti­sche Männ­lich­keit“ anschei­nend doch mehr mit Masku­lismus zu tun, als einem lieb sein kann.

Die neueren Ausfälle von Mitherausgeber*in Donat Blum sind nur weitere Beweise dafür.

Donat Blum und der kritisch-männ­liche Hass auf femi­ni­sti­sche Kritik

In einem neueren Inter­view vom 25. August weist Blum alle Vorwürfe gegen Moritz, den Verlag und *ens von sich. Nie sei ein „Nein“ igno­riert worden, zumin­dest nach allem, was Blum weiss – womit wahr­schein­lich gemeint ist: was Valentin Moritz *ens erzählt hat. Ausserdem gelte in einer Demo­kratie ja immer noch die Unschulds­ver­mu­tung! Den femi­ni­sti­schen Stan­dard der Defi­ni­ti­ons­macht, der Betrof­fenen von männ­li­cher Gewalt die Deutungs­ho­heit über ihr Erleben zuge­steht, scheint Blum nicht zu kennen.

Donat Blum hat eine nicht-binäre Geschlechts­iden­tität und benutzt das Neopro­nomen *ens, anstatt z.B. er/ihn oder sie/ihr.

Blums Argu­men­ta­tion ist aber nicht einfach nur unfe­mi­ni­stisch – was für einen Menschen, der sich „queer-femi­ni­sti­sche Soli­da­rität“ auf die Fahnen schreibt, irri­tie­rend genug wäre. Sie über­schreitet auch die Grenze zu Anti­fe­mi­nismus und miso­gynen Unter­tönen. Zum Beispiel da, wo Blum einen vagen Verweis auf die intime Bezie­hungs­ge­schichte von Moritz und der Betrof­fenen als wich­tigen Fakt plat­ziert. Denn so spielt *ens entweder fahr­lässig oder bewusst auf die patri­ar­chale Vorstel­lung an, wonach kein oder zumin­dest kein schlimmer Über­griff statt­ge­funden haben kann, wenn die Frau schon mal Sex mit dem Mann gehabt hat.

Oder dort, wo Blum allen Ernstes behauptet, dass es falsch und sogar patri­ar­chal sei, Männer vor allem als Täter zu sehen. Wenn man „ehrlich“ sei, wären ja auch Männer Opfer und Frauen Täter. Zumin­dest wenn man psychi­sche Gewalt berück­sich­tigen würde – und so das eigent­liche Thema, sexu­elle Gewalt, unter den Tisch fallen lässt.

Diese dreiste Täter-Opfer-Umkehr hatte Blum in einem mitt­ler­weile unver­fürg­baren Insta­gram-State­ment sogar noch auf die Spitze getrieben: Nicht *ens, Moritz und der Kanon Verlag hätten dem „Patri­ar­chat in die Hände gespielt“, sondern die femi­ni­sti­sche Kritik an ihnen. Diese stellt Blum auch in dem neuen Inter­view als über­trieben, mani­pu­lativ und sogar gewalt­voll dar.

„Kriti­sche Männ­lich­keit“ nähert sich beson­ders dann dem Masku­lismus an, wenn es hart auf hart kommt.

Blum wurde in den letzten Wochen zu einem beson­ders enthemmten Beispiel für den kritisch-männ­li­chen Umgang mit femi­ni­sti­scher Kritik. Anders als im Masku­lismus wird Femi­nismus hier weder fern gehalten noch prin­zi­piell als Feind begriffen. Im Gegen­teil: Als Stich­wort­geber und Antrieb für die eigene Ausein­an­der­set­zung darf und muss er sogar herhalten.

Doch wirk­liche Kritik – vor allem die, die einen selbst trifft und nicht positiv inte­griert werden kann – verbittet man(n) sich dann doch. Deshalb nähert sich „kriti­sche Männ­lich­keit“ beson­ders dann dem Masku­lismus an, wenn es hart auf hart kommt. Statt einem echten Hinter­fragen des eigenen Handelns folgt nämlich oft wieder nur altbe­kannter sexi­sti­scher Furor. Und so wird Feminist*innen im Allge­meinen und den Betrof­fenen von männ­li­cher Gewalt im Beson­deren Hysterie, wenn nicht gleich ein infamer Zerstö­rungs­willen, unter­stellt – nur diesmal mit einer extra Portion Selbst­ver­op­fe­rung der gefal­lenen pro-femi­ni­sti­schen Helden.

Männ­lich­keit ist nicht der Massstab

Ironi­scher­weise haben die Oh Boy Herausgeber*innen Blum und Moritz genau das erreicht, was sie sich vorge­nommen haben: einen authen­ti­schen Einblick in femi­ni­stisch inspi­rierte Männ­lich­keiten heute – im aller­schlech­te­stens Sinne.

Denn die histo­ri­schen und aktu­ellen Ansätze der männ­li­chen Ausein­an­der­set­zung mit Männ­lich­keit haben stets aufs Neue bewiesen, dass Männer von der Frage ange­trieben sind, wie sie noch Männer sein können, obwohl es femi­ni­sti­sche Kritik gibt. Statt­dessen sollten sie sich fragen, wie sie an femi­ni­sti­scher Kritik und Bewe­gung teil­haben und diese unter­stützen können, obwohl sie Männer sind. Das Problem liegt eben schon im Mass­stab der (neuen) Männlichkeit.

Denn dass einzelne Menschen, vor allem (cis) Männer, sich und ihr Verhalten verän­dern müssen, ist eine schlichte Notwen­dig­keit im Ange­sicht der patri­ar­chalen Zustände. Die Frage, ob das, was daraus entsteht, noch Männ­lich­keit genannt werden kann, ist nicht von Inter­esse. Man(n) sollte sie zurück­weisen, statt ständig zu versu­chen, neue, posi­tive Antworten auf sie zu finden. Solange das aber nicht geschieht, wird die Ausein­an­der­set­zung mit Männ­lich­keit immer mehr mit Masku­lismus als mit Femi­nismus gemein haben.


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