Bisie, Januar 2020. Omari* betritt mit Mitgliedern zweier Bergbaukooperativen das Gelände der Minengesellschaft Alphamin: Sie fordern die Rückkehr zu ihrem früheren Wohnort, ihre Rechte für den Abbau der Rohstoffe und eine Wiedergutmachung ihrer Vertreibung. Mit Soldaten im Schlepptau taucht ein Oberst der kongolesischen Streitkräfte auf, verfrachtet das Dutzend Protestierende in Jeeps und fährt sie in ein Hotel in einem nahegelegenen Dorf. Dort werden sie für sieben Tage festgehalten, bevor ihnen Militärs erneut Handschellen anlegen. Sie wehren sich, es folgen Faustschläge und Hiebe mit Peitschen. Dann werden sie im Flugzeug des Minenunternehmens ins Zentralgefängnis nach Goma gebracht.
So erzählt es Omari zusammen mit seinen Mitstreiter:innen im Juli 2020 in einem lärmigen Restaurant in der ostkongolesischen Provinzhauptstadt Goma. Sie alle waren nach diesem Ereignis für drei Monate in Haft – der kriminellen Verschwörung, der Rebellion und der Anstiftung zu ordnungswidrigem Verhalten angeklagt. Mittlerweile wurden sie von allen Anklagepunkten freigesprochen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Omari, der heute in seinen 40ern ist, während Monaten in Haft war. Und dort unter unmenschlichen Bedingungen etwa mit blossen Händen verstopfte Toiletten reinigen musste. Denn der Vorfall ist nur einer unter vielen während des langjährigen Konflikts zwischen der Minengesellschaft Alphamin und den Bergleuten aus Bisie; erneut werden Alphamin wegen Komplizenschaft mit dem Militär etliche Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen.
Und doch: Das holländische Unternehmen Fairphone, das seine Telefone mit Rohstoffen aus konfliktfreien und verantwortungsvollen Minen herstellt, erachtet Alphamins Zinnmine als verträglich mit ihren Standards. Wie kann das sein?
Diese Geschichte folgt der kontroversen Deutung um die Geschehnisse in Bisie, beleuchtet die entscheidende Rolle von Industrie-Zertifikaten und führt zur Endverbraucherin Fairphone, die weniger Einfluss auf die eigene Lieferkette hat, als dem Unternehmen selbst lieb ist.
Die Geschichte(n) von Bisie
„Wir waren es, die 2002 die Zinnvorkommen in Bisie entdeckt hatten.“ Omari berichtet, wie sie damals die Abteilung für Bergbau in Nord-Kivu informierten und Abbaulizenzen für die Kooperativen COMIMPA und COCABI erhielten. Aus einem grossen Stapel Papiere kramt er die Dokumente hervor, die das bestätigen. Denn noch immer nicht kann er verstehen, weshalb der Staat zur selben Zeit weitere Lizenzen vergeben hatte.
Mit der Entdeckung des Zinn-Reichtums in Bisie begannen sich auch andere für den Abbau zu interessieren, unter ihnen ein südafrikanisches Handelshaus, das 2006 eine Forschungsgenehmigung erhielt und mit Explorationsarbeiten begann – dort, wo die Bergleute mit Pickel und Schaufel das zinnhaltige Erz abbauten.
Obwohl damals lediglich ein Trampelpfad durch den Regenwald nach Bisie führte, ist am Fusse des Steinbruchs eine kleine Stadt mit Läden, Schulen, Bordellen, Geldverleihhäusern und Apotheken entstanden. Um die 15’000 Leute lebten in den einfachen, mit Plastikplanen bedeckten Behausungen – unter ihnen Omari mit seiner Frau, die mit Gütern wie Bier und Schokolade handelte.
„Zu dieser Zeit konnte ich meine ganze Verwandtschaft versorgen“, erzählt Omari. Er kaufte auch Grundstücke und schickte seine Kinder an die Universität: Betriebswirtschaft, Politikwissenschaft, Agronomie. Nicht alle jedoch verdienten so viel wie Omari. Er war Besitzer von 13 Gruben, in denen er je bis zu 20 Leute beschäftigte. Diese erwirtschafteten nicht nur ein geringeres Einkommen, sondern arbeiteten ohne die nötigen Schutzvorkehrungen in den engen Tunnels.
Anders als die nostalgischen Ausführungen der Bergleute vermitteln, hatte Bisie international einen sehr schlechten Ruf: Der Ort galt als Negativbeispiel für das Problem von Konfliktmineralien. Denn die Mine wurde immer wieder von bewaffneten Gruppen kontrolliert. Unter deren Kontrolle fanden Vergehen gegen die Bevölkerung statt: Überfälle, Kinder- und Zwangsarbeit.
Omari will nichts davon wissen. Nur einmal seien bewaffnete Gruppen in die Mine eingedrungen: An diese seien keine Abgaben bezahlt und Minderjährige immer sofort aus dem Steinbruch vertrieben worden. Für ihn haben die Probleme erst mit der Ankunft des südafrikanischen Handelsunternehmens begonnen.
Obwohl die Kooperativen laut einem offiziellen Abkommen in zugeteilten Gebieten weiterhin hätten Zinn abbauen dürfen, wurden sie nach und nach aus ihren Zonen gedrängt. Das südafrikanische Unternehmen habe die handwerklichen Abbauaktivitäten behindert und die Kleinschürfer:innen eingeschüchtert, noch bevor es 2015 eine Abbaulizenz für das ganze Gebiet erhielt. In der Zwischenzeit wurde das Unternehmen von der heute kanadisch-mauretanischen Alphamin Resources aufgekauft (damals hatte diese ihren Sitz im schweizerischen Zug).
„Alphamin hatte begonnen, das Image des Standortes zu beschmutzen, damit wir unsere Erze nicht mehr verkaufen konnten“, sagt Omari. Einige Leute in Bisie stimmen ihm zu, dass Alphamin wegen der proklamierten Gewalt und entsetzlichen Arbeitsbedingungen in der Mine leichteren Zugang zu den Abbaulizenzen erhielt und die Umsiedlung der Bergleute eher geltend machen konnte.
Im Dezember 2017 wurden sie samt Frauen und Kindern vom Militär in Fahrzeuge mit offenen Ladeflächen gepfercht. Zur selben Zeit waren in einem der Steinbrüche Schüsse zu hören, Tränengas wurde eingesetzt und die Bergleute waren dazu gezwungen, all ihre Geräte und ihr Hab und Gut zurückzulassen. Omari und seine Mitstreiter:innen legen handgeschriebene Listen von geschädigten Personen, abgegriffene Fotos und Briefe an Beamt:innen vor, um das Gesagte zu untermauern.
Auch die Untersuchung eines zivilgesellschaftlichen Dachverbandes dokumentiert menschenrechtliche Vergehen wie Körperverletzung oder dass die Leute mitten in der Nacht kilometerweit entfernt in verschiedenen Dörfern abgesetzt wurden. Ein daraufhin von Alphamin in Auftrag gegebener Gegenbericht spricht hingegen von einem „geregelten Migrationsprozess“. Er betont, dass die Firma das Lizenzrecht für das ganze Gelände besitze und die Personen sich illegal auf ihrem Gelände befanden. Und dass die Leute über ihre Evakuierung informiert waren.
Heute produziert Alphamin als „Weltmarktführer für konfliktfreies Zinn“ – obwohl die Bergleute vertrieben und friedlich Protestierende wiederholt festgenommen wurden. Wie geht das?
Die Zertifizierung
Bevor das Zinn die Tore des Minengeländes verlassen kann, muss es offiziell das regionale Konfliktfrei-Zertifikat von der Conference International sur la Region des Grands Lacs (CIRGL) erhalten. Die industrielle Mine wird hierfür nicht wie handwerkliche Abbaustätten jedes Jahr einer Inspektion unterzogen, sondern es genügt die ständige Anwesenheit von Vertreter:innen der staatlichen Bergbaudienste. Anhand fälschungssicherer Versiegelung der Säcke oder bewachter Lastwagenstationen stellen diese sicher, dass keine Mineralien in die Lieferkette gelangen, die bewaffnete Gruppen finanzieren könnten.
Weil aber auch Vorwürfe der Menschenrechtsverletzungen Alphamins Zinn belastet hatten, führte der kongolesische Koordinator des Zertifizierungsmechanismus vor Produktionsbeginn 2018 eine dreitägige Untersuchung durch. Diese kam zum Schluss: Bei den Menschenrechtsvorwürfen um die Delokalisierung der Bevölkerung von Bisie handle es sich um „Lügen“.
Während Expert:innen wegen fehlender Finanzierung der Arbeit des CIRGL und der Nähe der staatlichen Akteur:innen zur Rohstoffindustrie an der Glaubwürdigkeit dieser Überprüfungen zweifeln, sieht die Zivilgesellschaft auf nationaler und internationaler Ebene um die Untersuchung in Bisie einen grossen Interessenkonflikt: Diese hätte alleine zum Ziel gehabt, Alphamins Weste reinzuwaschen, um das Zinn zum Verkauf freizugeben.
So gelangt das Zinn als Nächstes in die Hände von Gerald Metals, einem der grössten Rohstoffhändler weltweit. Seit Beginn der industriellen Zinnproduktion in Bisie besitzt Gerald Metals einen fünfjährigen exklusiven Kaufvertrag mit Alphamin. Um ihre Sorgfaltspflichten sicherzustellen, hat das Unternehmen im Jahr 2019 Besuche in der Zinnmine durchgeführt. Der Bericht listet keinerlei Risiken auf – auch nicht die mehrwöchige Inhaftierung von Bergleuten im selben Jahr.
Diese unkritische Beurteilung der Risiken hat wohl auch mit weiteren engen Verbandelungen der beiden Unternehmen zu tun: Ein Manager von Gerald Metals sitzt im Vorstand von Alphamin, Gerald Metals besitzt sechs Prozent der Aktien dieser Firma und hat wiederholt enorme Summen in das Minenprojekt investiert, das sie als „strategischer Vermögenswert“ bezeichnet.
So landet das Zinn erst in einem Depot von Gerald Metals in der Hauptstadt des Nachbarlandes Uganda, bevor es über die kenianische Hafenstadt Mombasa nach Malaysia verschifft wird und in die Zinnschmelze der Malaysia Smelting Corporation (MSC) gelangt.
Auch die MSC hat eine Sorgfaltsprüfung in Alphamins Mine durchgeführt, wie aus ihrem Jahresbericht 2018 hervorgeht. Und auch dieser stellt keine Unregelmässigkeiten im Umgang mit den Bergleuten fest. Und gleichermassen muss beachtet werden: Die MSC ist nicht nur Verarbeiterin des Zinns aus Bisie, sondern kaufte schon 2013 knapp fünf Prozent der Aktien Alphamins. Und diese Investition war keineswegs zufällig.
Denn schon früher war die MSC die grösste Abnehmerin des Zinns aus Bisie – als dieses international noch als problematisch galt. Wie aus dem Abschlussbericht der UN Group of Experts 2009 hervorgeht, soll die MSC damals indirekt bewaffnete Gruppen finanziert haben: Denn seit März 2009 wurde die Bisie-Mine von einer Brigade des kongolesischen Militärs kontrolliert.
Als die Firma mit der Einführung des amerikanischen Konfliktmineraliengesetzes nochmals stärker unter Druck geriet, stellte es 2011 all ihre Geschäftstätigkeiten im Kongo ein. So erstaunt es nicht, dass sich die weitaus grösste Käuferin des kongolesischen Zinns aktiv in der Conflict Free Tin Initiative engagierte (das Lamm berichtete) – und noch im Jahr ihres Rückzuges als eine der ersten internationalen Schmelzen den Konfliktfrei-Status erhielt.
Die Zinnschmelze selbst wird durch eine Kontrolle der Responsible Minerals Initiative (RMI) bewertet. Im Gegensatz zu den Sorgfaltsprüfungen der stark verbandelten Zinnmine, Händlerin und Zinnschmelze wird diese Kontrolle von unabhängigen Drittfirmen durchgeführt.
Doch auch deren Unabhängigkeit kann täuschen. Denn neben ihren Prüfaufgaben bieten die Firmen gleichzeitig Dienstleistungen wie Beratung oder Qualitätsbeurteilungen an. Oftmals besteht zudem durch langjährige Zusammenarbeit innerhalb dieser Branche oft eine kritische Nähe zwischen Geprüften und Prüfer:innen.
Der zusammenfassende Bericht auf der Webseite der RMI gibt über die letzte Prüffirma der MSC Auskunft: Die Schweizer SGS, die von Expert:innen zur grössten Profiteurin des globalen Rohstoffhandels gezählt wird. Die Prüffirmen würden regelmässig rotieren, so die RMI, doch das Lamm erhielt auch nach mehreren Nachfragen die Namen der verantwortlichen Prüffirmen der vergangenen Jahre der MSC nicht. Auch die MSC hat auf keine unserer Nachfragen reagiert – so auch nicht auf die Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen in Bisie. Von Alphamin und Gerald Metals erhielten wir gleichermassen keine Antworten.
Die Dokumentation
Wir wollen von Fairphone wissen, ob sich Alphamins Zinn in ihrem Telefon befindet. Denn die Zinnschmelze MSC findet sich auch in ihrer Liste von Schmelzen und Raffinerien. „Das können wir nicht ausschliessen“, schreibt Fairphone, „aber es ist auch nicht unsere Absicht, uns zu entlasten, sondern uns zu engagieren und ständig zu verbessern.“
Endverbraucher:innen wie Fairphone haben üblicherweise keinen Zugang zu den Informationen, die Schmelzen wie die MSC mit ihren Prüffirmen teilen müssen: Dokumente wie Kaufverträge mit Minen, Zollausfuhrprotokolle oder Lagerhausquittungen. Ihnen sollte aber das sogenannte Conflict Minerals Reporting Template (CMRT) Informationen liefern. In diesem sollten ihre Zulieferer nicht nur die Schmelzen, sondern auch die Namen und Ortschaften der Minen verzeichnen, aus denen die Schmelzen ihre Rohstoffe beziehen.
Fairphones Lötpastenhersteller AIM Solder stellt diese Berichterstattung öffentlich zu Verfügung. Doch es findet sich kein Hinweis auf Alphamins Zinnmine. In der Spalte, die die Herkunftsminen der Rohstoffe der MSC auflisten sollte, steht lediglich „Verschiedene“. Fairphone sagt dazu: „Wir haben oft keinen Zugang zu dem, was sich jenseits der zweiten Lieferebene befindet.“ Und weiter: „Von wem die Schmelzen kaufen, ist im Grunde ihr Geschäftsgeheimnis.“
Nur manchmal sei es möglich, die Akteur:innen auf der zweiten Lieferebene davon zu überzeugen, dass sie mehr Informationen preisgeben. Dies ist ihnen beim Lötpastenhersteller gelungen: Sie konnten einen Händler identifizieren, über den sie via Massenbilanzmodell Zinn aus handwerklichen Minen beziehen. Als Mitglied der RMI seien sie aber dazu angehalten, „Daten auf aggregierter Ebene zu veröffentlichen, um die Vertraulichkeit der Beschaffungsinformationen zu wahren“. Gerade die Handelsunternehmen scheinen nicht zu mehr Transparenz bereit – ihr Geschäft ist ein Wettrennen und jede Information könnte der Konkurrenz helfen.
Auch wenn die RMI regelmässig staatliche und zivilgesellschaftliche Akteur:innen für ihre Programme konsultiert: Letztlich wird die freiwillige Initiative von der weltweit grössten Industriekoalition reguliert: der in den USA basierten Responsible Business Alliance. Mit über 400 Mitgliedern vereint die RMI als Untergruppe Firmen, die Rohstoffe verwenden, mit ihnen handeln, sie abbauen, schmelzen oder veredeln.
Dabei überwacht sich die Industrie nicht nur selbst, sondern setzt oder beeinflusst auch die Standards. Obwohl die Daten vorhanden sind, ist die Rückverfolgbarkeit von Rohstoffen bis zu den Minen in den meisten Fällen nicht möglich – auch nicht für Fairphone. Obwohl in den Minen die gravierendsten Menschenrechtsverletzungen geschehen.
Fairphone schreibt nachträglich, dass sie nicht wissen, ob sich Alphamins Mine in der Lieferkette ihres Lötpastenherstellers befindet – da sie selbst via Massenbilanzmodell arbeiten. Man kann sich wohl darüber streiten, in wessen Lieferkette sich das Zinn befindet. Denn auf der Ebene der Schmelze wird alles vermischt: der Lötpastenhersteller bezieht das Zinn von der MSC und kann sich nicht aussuchen, ob Alphamins Zinn da drin ist oder nicht.
Der Handlungsspielraum
Fairphone kann zwar keine problematische Mine aus der Lieferkette ausschliessen, hat aber eine gewisse Kontrolle über die Schmelzen. So werden „nicht-konforme“ Schmelzen über die Zulieferer zu einer Kontrolle durch die RMI bewegt. „Weigert sich die Schmelze, sich zu engagieren“, schreibt das Unternehmen, „wird Fairphone unseren Lieferanten auffordern, sich von dieser Schmelze zu trennen“.
Mulan Mu, Nachhaltigkeitsexpertin, die früher für Fairphone gearbeitet hat, bezweifelt jedoch die Nützlichkeit dieser verbreiteten Praxis: „Wenn Zulieferer sagen, sie hätten eine Schmelze aus ihrer Lieferkette entfernt, können dies Smartphonehersteller:innen kaum überprüfen“, sagt sie und offenbart: „Das Entfernen von der Liste bedeutet nicht zwingend, dass eine aus dem Lieferantenbericht entfernte Schmelze auch tatsächlich aus der Lieferkette entfernt wurde.“
Die Kontrolle von Smartphonehersteller:innen sei äusserst begrenzt. „Das Direkteste, was wir tun können, ist, die Lieferanten zu entfernen, welche eine problematische Schmelze in ihrer Lieferkette melden“, sagt Mu. Doch dies ist äusserst schwierig – gerade wenn diese bei einer grossen Schmelze wie der MSC beziehen. Als weltweit drittgrösste Zinnverarbeiterin beliefert sie etliche Hersteller:innen von Komponenten für Smartphones. Fairphone arbeitet mit mindestens 73 Komponentenhersteller:innen zusammen. Und die Batterie ist das einzige Modul, das kein Zinn enthält.
Ein Unternehmen wie Fairphone kann in der Praxis kaum ausschliessen, dass Zinn aus einer grossen Schmelze in ihrem Telefon landet. Trotzdem wollen wir von Fairphone wissen: Kann das Zinn von Alphamin unter den beschriebenen Umständen wirklich als „konfliktfrei“ oder „verantwortungsvoll“ gelten? Das Unternehmen schreibt: „Wir stützen uns auf den Status der konfliktfreien Schmelzen und Minen auf der Grundlage der Zertifizierung der RMI. Die MSC ist eine konforme Schmelze in der RMI-Datenbank.“
Fairphone verlässt sich auf diese Industrie-Initiative, da es kaum möglich wäre, die 51 Schmelzen in ihrer Lieferkette selbst zu überprüfen. Sie haben aber auch keinen Einblick in die vollständigen Reports der Prüffirmen. Das Unternehmen lagert wie der Rest der Branche die Bewertung der Risiken in ihrer Lieferkette an weitere Akteur:innen der Industrie aus. Diese möchte die MSC nicht aus ihrer Lieferkette entfernen. Und das, obwohl der Fall Alphamin keineswegs abgeschlossen ist.
Der Gerichtsprozess
Goma, August 2020. Vor dem Tribunal de Grand Instance in Goma stehen hauptsächlich Männer in schwarzen Roben mit weissen Rüschchen um die Brust. Sie drängen sich an die an den Holztüren des Gerichtssaals angeschlagenen A4-Blätter, auf denen die heutigen Prozesse verzeichnet sind. Omari wartet mit seinen Mitstreiter:innen auf die Prozess-Nummer RC 20648. Sie haben Alphamin verklagt und fordern 2,5 Milliarden Dollar Schadenersatz für ihre Verluste.
Die Mitglieder der Kooperativen COCABI und COMIMPA wandten sich an zwei Anwaltskanzleien, die sie beim Verfassen ihrer Klageschrift unterstützten. Sie umfasst eine Liste des vielfältigen Inventars welches in Bisie zurückgelassen wurde – darunter 126 zerstörte Häuser, 549 Gruben und knapp 107 Tonnen Kassiterit – und impliziert die Verschuldung, mit der die Leute daraufhin konfrontiert waren.
Die Unregelmässigkeiten während der Umsiedlung der Bevölkerung Bisies seien hauptsächlich auf das Fehlen einer Umweltverträglichkeitsstudie von Alphamin zurückzuführen. Alphamin gibt an, schon 2013 eine Umweltverträglichkeitsstudie veröffentlicht zu haben. Die Gegenseite streitet dies ab. Heute findet sich auf Alphamins Webseite eine solche Studie, die auf 2016 datiert ist. Es gibt aber keine Hinweise darauf, dass eine Konsultation der Bevölkerung und deren freie, informierte Zustimmung für die Pläne stattgefunden hätte.
Die Anwälte sowie Menschenrechtler:innen halten die extrem hohe Schadenersatzforderung von 2,5 Milliarden Dollar für angemessen. Denn es gehe nicht nur um die Zerstörung und Plünderung der Güter, sondern auch die „Entmenschlichung“ während der Vertreibung. Ebenfalls um alle zukünftigen Einkommen, das die Bergleute und deren Familien noch über Jahre hätte unterstützen können. Bei der Umsiedlung wurden manche mit zwischen 50 und 300 Dollar entschädigt – ein „Taschengeld“ laut den Betroffenen (Alphamins Angaben gehen bis 800 Dollar).
Im Juni 2018 reichten neun zivilgesellschaftliche Organisationen eine weitere Klage gegen Alphamin ein. Die Anklagepunkte reichen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit über Aufforderung des Militärs zu disziplinwidrigen Handlungen zu rechtswidriger Inhaftierung. Die Klageschrift bezieht sich auf Einzelklagen von 300 Opfern, die beim Berufungsgericht eingereicht wurden.
Beide Prozesse jedoch werden immer wieder verzögert. So auch an jenem Tag im Gerichtshof, dem Omari und seine Mitstreiter:innen beiwohnen. Im vollgedrängten Gerichtssaal stehen sich die Anwälte der beiden Parteien gerade fünf Minuten gegenüber, dann wird die Sache vertagt. „Wir waren schon bei vier Anhörungen und die Firma hat nie ihre Dokumente vorgelegt. Ihre Anwälte sagen jedes Mal, dass sie nicht bereit sind, mit uns zu vergleichen“, sagt Omari nach der Anhörung.
Die zivilgesellschaftlichen Organisationen sehen darin eine bewusste Verzögerung und bedauern, dass die kongolesische Regierung zu den Ereignissen in Bisie meist schweigt und die handwerklichen Bergleute nicht ausreichend unterstützt. Alphamin nutze die Tatsache aus, dass der Staat verschiedene Dienstleistungen, darunter auch die Strafverfolgung, nicht ausreichend gewährleistet. Omaris Kinder haben unterdessen die Universität abbrechen müssen und sind bei Verwandten untergebracht, weil er sie selbst nicht mehr versorgen kann.
*Name von der Redaktion geändert.
„Es ist kein Geheimnis: Wir wollen die Welt verändern. Fairphone stellt Mensch und Umwelt an erste Stelle.“ Mit diesem Anspruch will Fairphone nun schon seit bald zehn Jahren die Geschäftswelt der Smartphones revolutionieren. Anfang Oktober 2021 ist ihr viertes Fairphone-Modell erschienen. Kann dieses Telefon wirklich eine fairere Welt schaffen?
In einer vierteiligen Serie geht das Lamm dieser Frage nach.
Teil 1: Fairphones Zinnlieferkette: Different but same
Teil 2: Wenn Zertifikate Menschenrechtsverletzungen vertuschen
Teil 3: Fairphone: Der Preis der Wachstums
Teil 4: Wenn das Geld abfliesst
Die Serie enthält Links zu wissenschaftlicher Literatur, die nicht für alle frei zugänglich ist. Kontaktiere uns, wenn du sie lesen möchtest.
Diese Reportage wurde in Zusammenarbeit mit dem kongolesischen Geologen Lucien Kamala realisiert und von der Journalistin Sylke Gruhnwald begleitet. Die Recherche wurde gefördert und unterstützt von Netzwerk Recherche und der Olin gGmbH.
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