Wie viel ist eine Person wert, die nicht über ein eigenes Einkommen verfügt?

Bei der Abstim­mung über die „Gesetz­liche Grund­lage für die Über­wa­chung von Versi­cherten“ geht es nicht primär ums Geld­sparen. Es geht ums Prinzip: darum, wieviel eine Person wert ist, die keiner Lohn­ar­beit nach­geht. Das Schweizer Parla­ment hat seine Meinung bereits geäus­sert. Jetzt liegt es an der Stimm­be­völ­ke­rung, die Gegen­po­si­tion einzu­nehmen. Ein Kommentar. 
Kann ein Menschenleben bemessen werden? (Foto: Dylan Ferreira / Unsplash)

„Eine konse­quente Ahndung von Miss­brauch schützt vor Gene­ral­ver­dacht und Stig­ma­ti­sie­rung!“, sagt die CVP-Natio­nal­rätin Ruth Humbel an der Früh­jahrs­ses­sion diesen März und führt trium­phie­rend die Moral ins Feld: „Gerade zum Schutz dieser Menschen, welche auf eine Rente ange­wiesen sind, braucht es grif­fige Instru­mente zur Aufdeckung von unrecht­mäs­sigem Leistungs­bezug!“ Sie verhas­pelt sich immer wieder vor lauter Eifer, die Versicherungsbezüger*innen zu vertei­digen. Und die Mehr­heit der Parlamentarier*innen teilt diesen Eifer. FDP-Natio­nalrat Bruno Pezzatti etwa pflichtet ihr bei – und fragt rheto­risch: „Wollen wir die ehrli­chen Bezü­ge­rinnen und Bezüger von Sozi­al­ver­si­che­rungs­lei­stungen weiterhin schützen?“ Den Zuhö­renden stellt sich indes unwei­ger­lich die Frage: Liegt diesen Politiker*innen wirk­lich so viel am Wohl der ehrli­chen Bezüger*innen?

Schliess­lich geht es bei der Vorlage, die der Natio­nalrat an diesem zwölften März disku­tiert, um die „Gesetz­liche Grund­lage für die Über­wa­chung von Versi­cherten“. Die Diskus­sion wurde durch einen Beschluss des Euro­päi­schen Gerichts­hofs für Menschen­rechte (EGMR) ausge­löst. 2016 stellte dieser fest, dass die Schweiz über keine ausrei­chende gesetz­liche Grund­lage verfügt, um der Unfall­ver­si­che­rung (UV) zu erlauben, ihre Versi­cherten zu über­wa­chen. Dies, nachdem bereits seit 2009 verdäch­tige Leistungsbezüger*innen durch private Detektiv*innen obser­viert worden waren. Etwas mehr als ein halbes Jahr später entschied das Bundes­ge­richt, dass auch für Obser­va­tionen in Zusam­men­hang mit der Inva­li­den­ver­si­che­rung (IV) keine ausrei­chende gesetz­liche Grund­lage besteht. Die Obser­va­tionen wurden eingestellt.

In den Augen bürger­li­cher Politiker*innen ein Miss­stand, der so schnell wie möglich behoben werden sollte. Eigent­lich wäre eine entspre­chende Anpas­sung im Rahmen der sich in Arbeit befind­li­chen Reform des Sozi­al­ver­si­che­rungs­rechts vorge­sehen gewesen. Aber das hätte den Parlamentarier*innen zu lange gedauert – unter anderem wohl, weil der Versi­che­rungs­ver­band sie in einem Brief auf die Dring­lich­keit des Anlie­gens hinwies. Um den Prozess zu beschleu­nigen wurde der Artikel, der die Obser­va­tionen behan­delt, aus dem Reform­paket herausgelöst.

Die Stän­de­rats­kom­mis­sion für soziale Sicher­heit und Gesund­heit erar­bei­tete also im Schnell­ver­fahren einen Geset­zes­ent­wurf, der sodann vom Parla­ment ange­nommen wurde. Manchmal mahlen die Mühlen in der Schweizer Politik erstaun­lich schnell. Eine Gruppe von Privat­per­sonen, darunter die Schrift­stel­lerin Sibylle Berg, ergriff daraufhin das Refe­rendum – während die Rats­linke zögerte. Ende November stimmt die Schweizer Stimm­be­völ­ke­rung über den Geset­zes­ar­tikel ab.

Um wieviel Geld geht es eigentlich?

Die Befug­nisse, welche die Versi­che­rungen und ihre Detektiv*innen haben sollen, reichen weit (siehe Box am Ende des Arti­kels). Die Privat­sphäre der Leistungsbezüger*innen könnte nach Annahme erneut stark verletzt werden. Eine solche Verlet­zung verlangt nach einer fundierten Begrün­dung. Das ist den Befürworter*innen klar; sie greifen auf zwei Argu­men­ta­ti­ons­li­nien zurück.

Zum einen ist da der rein ökono­mi­sche Ansatz: Aufgrund der unrecht­mäs­sigen Renten­aus­zah­lungen würden den Sozi­al­ver­si­che­rungen bedroh­liche Beträge entgehen. Das Argu­ment ist – wenig über­ra­schend – äusserst wirksam. Schliess­lich geht es um riesige Geld­summen. Die IV konnte 2016 mit Hilfe von Obser­va­tionen 2,7 Millionen Franken einsparen. Das ist viel Geld – in abso­luten Zahlen. Gemessen an den Geschäfts­zahlen der IV rela­ti­viert sich der Betrag jedoch etwas: Den jähr­li­chen Einspa­rungen von 2,7 Millionen Franken stehen 8,388 Milli­arden Franken gegen­über, welche die IV im selben Zeit­raum für Sozi­al­lei­stungen gespro­chen hat. Der durch Obser­va­tionen einge­sparte Betrag entspricht gerade einmal 0,032 Prozent der insge­samt getä­tigten Ausgaben für Sozialleistungen.

Aus den 2016 durch Obser­va­tion bestä­tigten Verdachts­fällen ergeben sich frei­lich laut einer Hoch­rech­nung insge­samt Einspa­rungen von 60 Millionen für die IV – weil auch poten­zi­elle künf­tige Renten einge­spart werden. Aller­dings handelt es sich dabei um eine Hoch­rech­nung, die nicht gesi­chert und vermut­lich zu hoch ange­setzt ist. Denn sie geht davon aus, dass alle aufge­deckten Falschbezüger*innen bis zum Errei­chen des AHV-Renten­al­ters eine ordent­liche IV-Rente erhalten hätten. Aber auch wenn man mit dieser hypo­the­ti­schen Zahl arbeitet, bleiben die Einspa­rungen eher gering: Sie entspricht unge­fähr 0,7 Prozent der jähr­li­chen Ausgaben.

Aller­dings sind diese Zahlen unüber­sicht­lich, und sie werden immer wieder aufge­bauscht. Selbst das Schweizer Radio SRF blickt nicht durch: Im Podcast „Einfach Politik“ zum Thema wird vorge­rechnet, dass 2016 650 Betrugs­fälle aufge­deckt und damit 178 Millionen Franken einge­spart wurden. Die 650 Fälle entspre­chen aber der Gesamt­heit aller aufge­klärten Fälle. Davon sind nur 180 Fälle das Resultat von Obser­va­tionen. Der genannte Betrag von 178 Millionen Franken ist drei Mal höher als die tatsäch­lich rele­vante Hoch­rech­nung der IV.

„Im Inter­esse der Leistungs­be­züger“ — der Arbeitgeberverband

Es ist frag­lich, ob sich mit diesen Zahlen ein derart weit­rei­chender Eingriff in die Privat­sphäre recht­fer­tigen lässt. Es über­rascht deshalb nicht, dass die zweite Argu­men­ta­ti­ons­linie in der Diskus­sion um die Versi­che­rungs­ob­ser­va­tionen weit mehr Raum einnimmt: die der Moral. Hier geht es ums Prinzip. Aber um welches eigentlich?

Sozi­al­ver­si­che­rungen ermög­li­chen ein Leben, das sich nicht am abso­luten Existenz­mi­nimum bewegt. Abhängig von ihnen sind Personen, die keiner Lohn­ar­beit nach­gehen oder weniger leisten als von der Gesell­schaft vorge­sehen. Bei der bevor­ste­henden Abstim­mung geht es jetzt darum, mit welchen Konse­quenzen für die entspre­chenden Personen dies verbunden sein soll.

Der vorlie­gende Geset­zes­ent­wurf und all seine Befürworter*innen beant­worten diese Frage deut­lich. Die Konse­quenzen sollen schwer wiegen. Mit Obser­va­tionen geht der Verlust des grund­le­genden Rechts auf Privat­sphäre einher. Die Botschaft ist simpel: Wer nicht arbeitet, hat darauf keinen Anspruch. Alle Leistungsbezüger*innen sind davon betroffen.

Die Vorlage entpuppt sich damit als zutiefst ideo­lo­gisch. Ihr Prinzip ist das Leistungs­prinzip. Und mit den Kompe­tenzen, welche den Versi­che­rungen zuge­spro­chen werden sollen, würden im Gesetz weitere Möglich­keiten veran­kert, diese Leistung einzu­for­dern – mit Mitteln, wie sie auch der Polizei bei der Ermitt­lung schwerer Straf­taten zur Verfü­gung stehen.

Das ist gerade für die viel beschwo­renen „ehrli­chen“ Leistungsbezüger*innen verhee­rend. Sie sind aufgrund äusserer Umstände, wie etwa einem Unfall, unfrei­willig vom Leistungs­wett­be­werb ausge­schlossen. Von den poli­ti­schen Kreisen, die eine vehe­mente Miss­brauchs­be­kämp­fung einfor­dern, werden sie weiter stig­ma­ti­siert – auch wenn Natio­nal­rätin Humbel wie eingangs darge­stellt das Gegen­teil behauptet. Denn mit dem Obser­va­ti­ons­ar­tikel wird der Graben zwischen der arbei­tenden und der nicht-arbei­tenden Bevöl­ke­rung vertieft und das Verhältnis zwischen den beiden Bevöl­ke­rungs­gruppen weiter hier­ar­chi­siert. Das Bild der Leistungen als grosse gesell­schaft­liche Bela­stung und die Rolle der Bezüger*innen als Bittsteller*innen werden gefe­stigt. Es ist heuch­le­risch, wenn sich Ruth Humbel, Bruno Pezzatti und weitere Befürworter*innen wie etwa der Arbeit­ge­ber­ver­band auf die Inter­essen dieser Leistungsbezüger*innen berufen.

Wären ihnen diese Inter­essen tatsäch­lich ein Anliegen, hätten sie nach­fragen können. Etwa bei Inclu­sion Handicap, dem Dach­ver­band der Schweizer Behin­der­ten­or­ga­ni­sa­tionen. „Persön­lich­keits­rechte gelten nicht für IV-Bezüger“, lautet der Titel seiner Stel­lung­nahme zum neuen Gesetz. Rechts­staat­liche Prin­zi­pien würden damit mit Füssen getreten. Dank­bar­keit klingt anders. Wie genau, liesse sich wohl andern­orts in Erfah­rung bringen: Ruth Humbel sitzt im Verwal­tungsrat der Concordia Kranken- und Unfall­ver­si­che­rung, Bruno Pezzatti im Verwal­tungsrat der Kranken- und Unfall­ver­si­che­rung Visana sowie im Vorstand der Ausgleichs­kasse Verom. Wessen Inter­essen der Arbeit­ge­ber­ver­band vertritt, bedarf keiner Erläu­te­rung. „Wollen wir die ehrli­chen Bezü­ge­rinnen und Bezüger von Sozi­al­ver­si­che­rungs­lei­stungen schützen?“ Ja. Aber das geht anders.

Es geht ums Prinzip

Ob der Geset­zes­ent­wurf ange­nommen werden soll, ist aber nicht nur eine Frage der Soli­da­rität mit Leistungsbezüger*innen. Es geht eben ums Prinzip – und das betrifft uns alle. Wie sieht die Gesell­schaft aus, in der wir leben wollen? Welcher Stel­len­wert kommt darin denje­nigen Personen zu, die keiner Arbeit nachgehen?

Die Grund­fe­sten unserer Gesell­schaft lassen sich mit dieser Abstim­mung frei­lich nicht verän­dern. Aber es geht darum, sich zu bekennen. Die Seite der Befürworter*innen rund um das bürger­liche Parla­ment hat dies bereits getan. Mit ihrer Zustim­mung machen sie erneut klar, wieviel Wert­schät­zung sie denje­nigen entge­gen­bringt, die sich nicht am Arbeits­markt betei­ligen: keine. Und sie macht klar, wie weit sie bereit sind zu gehen, um das Leistungs­prinzip zu erzwingen: weit. Es ist jetzt an der Stimm­be­völ­ke­rung zu zeigen, ob sie diese Ideo­logie teilt.

 


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