„Eine konsequente Ahndung von Missbrauch schützt vor Generalverdacht und Stigmatisierung!“, sagt die CVP-Nationalrätin Ruth Humbel an der Frühjahrssession diesen März und führt triumphierend die Moral ins Feld: „Gerade zum Schutz dieser Menschen, welche auf eine Rente angewiesen sind, braucht es griffige Instrumente zur Aufdeckung von unrechtmässigem Leistungsbezug!“ Sie verhaspelt sich immer wieder vor lauter Eifer, die Versicherungsbezüger*innen zu verteidigen. Und die Mehrheit der Parlamentarier*innen teilt diesen Eifer. FDP-Nationalrat Bruno Pezzatti etwa pflichtet ihr bei – und fragt rhetorisch: „Wollen wir die ehrlichen Bezügerinnen und Bezüger von Sozialversicherungsleistungen weiterhin schützen?“ Den Zuhörenden stellt sich indes unweigerlich die Frage: Liegt diesen Politiker*innen wirklich so viel am Wohl der ehrlichen Bezüger*innen?
Schliesslich geht es bei der Vorlage, die der Nationalrat an diesem zwölften März diskutiert, um die „Gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Versicherten“. Die Diskussion wurde durch einen Beschluss des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ausgelöst. 2016 stellte dieser fest, dass die Schweiz über keine ausreichende gesetzliche Grundlage verfügt, um der Unfallversicherung (UV) zu erlauben, ihre Versicherten zu überwachen. Dies, nachdem bereits seit 2009 verdächtige Leistungsbezüger*innen durch private Detektiv*innen observiert worden waren. Etwas mehr als ein halbes Jahr später entschied das Bundesgericht, dass auch für Observationen in Zusammenhang mit der Invalidenversicherung (IV) keine ausreichende gesetzliche Grundlage besteht. Die Observationen wurden eingestellt.
In den Augen bürgerlicher Politiker*innen ein Missstand, der so schnell wie möglich behoben werden sollte. Eigentlich wäre eine entsprechende Anpassung im Rahmen der sich in Arbeit befindlichen Reform des Sozialversicherungsrechts vorgesehen gewesen. Aber das hätte den Parlamentarier*innen zu lange gedauert – unter anderem wohl, weil der Versicherungsverband sie in einem Brief auf die Dringlichkeit des Anliegens hinwies. Um den Prozess zu beschleunigen wurde der Artikel, der die Observationen behandelt, aus dem Reformpaket herausgelöst.
Die Ständeratskommission für soziale Sicherheit und Gesundheit erarbeitete also im Schnellverfahren einen Gesetzesentwurf, der sodann vom Parlament angenommen wurde. Manchmal mahlen die Mühlen in der Schweizer Politik erstaunlich schnell. Eine Gruppe von Privatpersonen, darunter die Schriftstellerin Sibylle Berg, ergriff daraufhin das Referendum – während die Ratslinke zögerte. Ende November stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über den Gesetzesartikel ab.
Um wieviel Geld geht es eigentlich?
Die Befugnisse, welche die Versicherungen und ihre Detektiv*innen haben sollen, reichen weit (siehe Box am Ende des Artikels). Die Privatsphäre der Leistungsbezüger*innen könnte nach Annahme erneut stark verletzt werden. Eine solche Verletzung verlangt nach einer fundierten Begründung. Das ist den Befürworter*innen klar; sie greifen auf zwei Argumentationslinien zurück.
Zum einen ist da der rein ökonomische Ansatz: Aufgrund der unrechtmässigen Rentenauszahlungen würden den Sozialversicherungen bedrohliche Beträge entgehen. Das Argument ist – wenig überraschend – äusserst wirksam. Schliesslich geht es um riesige Geldsummen. Die IV konnte 2016 mit Hilfe von Observationen 2,7 Millionen Franken einsparen. Das ist viel Geld – in absoluten Zahlen. Gemessen an den Geschäftszahlen der IV relativiert sich der Betrag jedoch etwas: Den jährlichen Einsparungen von 2,7 Millionen Franken stehen 8,388 Milliarden Franken gegenüber, welche die IV im selben Zeitraum für Sozialleistungen gesprochen hat. Der durch Observationen eingesparte Betrag entspricht gerade einmal 0,032 Prozent der insgesamt getätigten Ausgaben für Sozialleistungen.
Aus den 2016 durch Observation bestätigten Verdachtsfällen ergeben sich freilich laut einer Hochrechnung insgesamt Einsparungen von 60 Millionen für die IV – weil auch potenzielle künftige Renten eingespart werden. Allerdings handelt es sich dabei um eine Hochrechnung, die nicht gesichert und vermutlich zu hoch angesetzt ist. Denn sie geht davon aus, dass alle aufgedeckten Falschbezüger*innen bis zum Erreichen des AHV-Rentenalters eine ordentliche IV-Rente erhalten hätten. Aber auch wenn man mit dieser hypothetischen Zahl arbeitet, bleiben die Einsparungen eher gering: Sie entspricht ungefähr 0,7 Prozent der jährlichen Ausgaben.
Allerdings sind diese Zahlen unübersichtlich, und sie werden immer wieder aufgebauscht. Selbst das Schweizer Radio SRF blickt nicht durch: Im Podcast „Einfach Politik“ zum Thema wird vorgerechnet, dass 2016 650 Betrugsfälle aufgedeckt und damit 178 Millionen Franken eingespart wurden. Die 650 Fälle entsprechen aber der Gesamtheit aller aufgeklärten Fälle. Davon sind nur 180 Fälle das Resultat von Observationen. Der genannte Betrag von 178 Millionen Franken ist drei Mal höher als die tatsächlich relevante Hochrechnung der IV.
„Im Interesse der Leistungsbezüger“ — der Arbeitgeberverband
Es ist fraglich, ob sich mit diesen Zahlen ein derart weitreichender Eingriff in die Privatsphäre rechtfertigen lässt. Es überrascht deshalb nicht, dass die zweite Argumentationslinie in der Diskussion um die Versicherungsobservationen weit mehr Raum einnimmt: die der Moral. Hier geht es ums Prinzip. Aber um welches eigentlich?
Sozialversicherungen ermöglichen ein Leben, das sich nicht am absoluten Existenzminimum bewegt. Abhängig von ihnen sind Personen, die keiner Lohnarbeit nachgehen oder weniger leisten als von der Gesellschaft vorgesehen. Bei der bevorstehenden Abstimmung geht es jetzt darum, mit welchen Konsequenzen für die entsprechenden Personen dies verbunden sein soll.
Der vorliegende Gesetzesentwurf und all seine Befürworter*innen beantworten diese Frage deutlich. Die Konsequenzen sollen schwer wiegen. Mit Observationen geht der Verlust des grundlegenden Rechts auf Privatsphäre einher. Die Botschaft ist simpel: Wer nicht arbeitet, hat darauf keinen Anspruch. Alle Leistungsbezüger*innen sind davon betroffen.
Die Vorlage entpuppt sich damit als zutiefst ideologisch. Ihr Prinzip ist das Leistungsprinzip. Und mit den Kompetenzen, welche den Versicherungen zugesprochen werden sollen, würden im Gesetz weitere Möglichkeiten verankert, diese Leistung einzufordern – mit Mitteln, wie sie auch der Polizei bei der Ermittlung schwerer Straftaten zur Verfügung stehen.
Das ist gerade für die viel beschworenen „ehrlichen“ Leistungsbezüger*innen verheerend. Sie sind aufgrund äusserer Umstände, wie etwa einem Unfall, unfreiwillig vom Leistungswettbewerb ausgeschlossen. Von den politischen Kreisen, die eine vehemente Missbrauchsbekämpfung einfordern, werden sie weiter stigmatisiert – auch wenn Nationalrätin Humbel wie eingangs dargestellt das Gegenteil behauptet. Denn mit dem Observationsartikel wird der Graben zwischen der arbeitenden und der nicht-arbeitenden Bevölkerung vertieft und das Verhältnis zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen weiter hierarchisiert. Das Bild der Leistungen als grosse gesellschaftliche Belastung und die Rolle der Bezüger*innen als Bittsteller*innen werden gefestigt. Es ist heuchlerisch, wenn sich Ruth Humbel, Bruno Pezzatti und weitere Befürworter*innen wie etwa der Arbeitgeberverband auf die Interessen dieser Leistungsbezüger*innen berufen.
Wären ihnen diese Interessen tatsächlich ein Anliegen, hätten sie nachfragen können. Etwa bei Inclusion Handicap, dem Dachverband der Schweizer Behindertenorganisationen. „Persönlichkeitsrechte gelten nicht für IV-Bezüger“, lautet der Titel seiner Stellungnahme zum neuen Gesetz. Rechtsstaatliche Prinzipien würden damit mit Füssen getreten. Dankbarkeit klingt anders. Wie genau, liesse sich wohl andernorts in Erfahrung bringen: Ruth Humbel sitzt im Verwaltungsrat der Concordia Kranken- und Unfallversicherung, Bruno Pezzatti im Verwaltungsrat der Kranken- und Unfallversicherung Visana sowie im Vorstand der Ausgleichskasse Verom. Wessen Interessen der Arbeitgeberverband vertritt, bedarf keiner Erläuterung. „Wollen wir die ehrlichen Bezügerinnen und Bezüger von Sozialversicherungsleistungen schützen?“ Ja. Aber das geht anders.
Es geht ums Prinzip
Ob der Gesetzesentwurf angenommen werden soll, ist aber nicht nur eine Frage der Solidarität mit Leistungsbezüger*innen. Es geht eben ums Prinzip – und das betrifft uns alle. Wie sieht die Gesellschaft aus, in der wir leben wollen? Welcher Stellenwert kommt darin denjenigen Personen zu, die keiner Arbeit nachgehen?
Die Grundfesten unserer Gesellschaft lassen sich mit dieser Abstimmung freilich nicht verändern. Aber es geht darum, sich zu bekennen. Die Seite der Befürworter*innen rund um das bürgerliche Parlament hat dies bereits getan. Mit ihrer Zustimmung machen sie erneut klar, wieviel Wertschätzung sie denjenigen entgegenbringt, die sich nicht am Arbeitsmarkt beteiligen: keine. Und sie macht klar, wie weit sie bereit sind zu gehen, um das Leistungsprinzip zu erzwingen: weit. Es ist jetzt an der Stimmbevölkerung zu zeigen, ob sie diese Ideologie teilt.
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