Wir passen aufein­ander auf

Ein reak­tio­närer Gerichts­ent­scheid in den USA und eine homo­phobe terro­ri­sti­sche Attacke in Norwegen. Gemeinsam ist ihnen das Ziel, Menschen zu entzweien, Hass zu säen. Da ist Nähe das Einzige, was helfen kann, findet unsere Autorin. 
Gemeinschaft leben im Schatten tragischer Ereignisse (Foto: Robert V. Ruggiero, unsplash)

Am letzten Juni­wo­chen­ende habe ich meine Freund*innen ein wenig länger umarmt als sonst. Ich kam von meiner Schicht in der Pizzeria, in der ich arbeite, und fuhr vom Bahnhof Hard­brücke aus mit dem Velo zur Bäcker­an­lage, wo mein bester Freund seinen Geburtstag feierte. Es gab Kuchen, Prosecco und Bier.

Es war ein lauer Abend, wir sassen auf einer Decke im Gras. Dann wurde der Himmel dunkler, wir spürten erste Tropfen. Wir wech­selten in die nahe gele­gene Wohnung von Freund*innen. Es wurde kühl, aber wir standen dicht an dicht auf dem Balkon, und ich rauchte eine Pari­si­enne Ciel nach der anderen.

Irgend­wann redeten wir über die Ereig­nisse der vergan­genen Tage. Wir spra­chen über den Verfas­sungs­ge­richts­ent­scheid in den USA, über das Attentat in Oslo.

In den USA wurde am Donnerstag durch den Supreme Court entschieden, dass zukünftig jeder Bundes­staat selbst fest­legen könne, ob Abtrei­bungen legal sind oder nicht. In minde­stens drei­zehn US-Staaten führt das sofort zu einem weit­ge­henden Abtrei­bungs­verbot. Es wird erwartet, dass insge­samt etwa die Hälfte der US-Staaten die körper­liche Selbst­be­stim­mung von Schwan­geren drastisch einschränkt. In Oslo wurden in der Nacht vom 25. Juni zwei Menschen in einem queeren Club erschossen, mehr als zwanzig durch die Schüsse verletzt.

Irgend­wann während des Gesprächs lehnte ich mich an die Schulter meines besten Freundes und schloss kurz die Augen. Ich spürte eine Art von Trau­rig­keit, die sich körper­lich mani­fe­stierte – mein Kopf begann wehzutun, ich fröstelte, der Regen tropfte auf meine Schul­tern und ich wurde müde, so, so müde.

Die Trau­rig­keit vermischte sich mit einem anderen Gefühl, einem warmen, heime­ligen Gefühl. Ein wenig fühlte es sich an wie damals als Kind, wenn ich weinen musste und meine Mutter mich in den Arm nahm und etwas sagte wie: Du musst nicht traurig sein. Mit dem Unter­schied, dass ich jetzt wirk­lich traurig war.

Es gab keine andere Wahl und in dem Moment auch nichts anderes zu tun für mich, denn für Wut fehlte mir die Energie. Als ich mich verab­schie­dete, umarmte ich meine Freund*innen alle ein wenig länger als sonst.

Was tun gegen die Ohnmacht?

Am Montag scrollte ich mich durch Social Media, Online-Zeitungen, Blogs und News­letter, die ich ab und zu lese, auf der Suche nach etwas, was mich nicht noch mehr depri­mierte. Gleich­zeitig sehnte ich mich nach einer Hilfe­stel­lung, einem Ansatz­punkt oder einer Handlungsanweisung.

Ich wollte wissen, was ich denken, fühlen, tun sollte, damit ich nicht so ohnmächtig und blöd­sinnig meinen Insta­feed alle paar Sekunden neu lade und mit meiner Mitbe­woh­nerin darüber rede, wie schlimm das alles ist.

Dabei stiess ich bei Auto­straddle, einem queeren US-ameri­ka­ni­schen Online-Magazin, auf eine simple Über­schrift, die lautete: We will protect each other. Ich dachte: Viel­leicht ist das der einzige Gedanke, der einzige Vorsatz, den wir gerade fassen können.

Ich erin­nerte mich an einen Song der Indie-Pop-Band MUNA, der mir in den Irren und Wirren meines Coming-Outs damals sehr geholfen hatte. Er heisst I know a place. Vor allem die Akustik­ver­sion bringt mich immer noch zum Weinen.

Der Song handelt von einer queeren Person, die eine andere an der Hand nimmt, tröstet und mit ihr tanzen geht, um sie von ihrem Schmerz und den Verlet­zungen, die sie erfahren hat, abzu­lenken. Der Song war als Pride-Hymne gedacht, bekam aber bereits 2016 im Kontext des homof­eind­li­chen Atten­tats auf eine queere Latinx-Party in Orlando eine neue, existen­zi­elle Bedeu­tung. MUNA singen: I know a place / I know a place we can go / Where everyone’s gonna lay down their weapon / Lay down their weapon.

Der Song ist zu einem der Pop-Kunst­werke geworden, zu denen man tanzen kann, obwohl oder gerade weil man traurig ist – etwas, worin die queere Commu­nity jahr­zehn­te­lange Übung hat. Man kann dazu tanzen, um die Hoff­nung nicht zu verlieren.

Aufmerk­sam­keit, Inter­esse und eine Geldspende

Ich höre den Song gerade in Endlos­schleife. Manchmal singe ich auch mit, vor dem Spiegel, wie ein Teenie­mäd­chen, denn die haben die effek­tiv­sten Coping-Stra­te­gien – und müssen sie auch haben, in einer Welt, die es liebt, sie zu verspotten.

Wenn dann wieder ein klein wenig Hoff­nung da ist, kann man auch etwas tun: Sich bei queeren Freund*innen erkun­digen, wie es ihnen gerade geht. Sich um Menschen kümmern, die die Diskus­sion um Abtrei­bungs­rechte direkt betrifft. Man kann auf eine Demo gehen. Oder ein Buch lesen.

Wenn man gerade ein biss­chen etwas auf dem Konto hat, kann man auch spenden. Zum Beispiel für die noch junge Orga­ni­sa­tion Trans Safety Emer­gency Fund oder andere queere Netz­werke, die sich für die beson­ders Verletz­li­chen unter uns einsetzen: kleine Über­set­zungs­lei­stungen vom Gedanken, vom Gefühl des Gemein­samen in Mikro-Handlungen.

They will try to tell you you’re not free, don’t listen, singen MUNA, I know a place where you don’t need protec­tion, even if it’s only in my imagi­na­tion. Diese Zeilen erfassen die Bedeu­tung einer gemein­samen Fantasie, gemein­samer Utopien und Träu­me­reien gerade dann, wenn wir beson­ders verletz­lich sind.

Durch unsere Imagi­na­tion können wir nicht nur uns selbst, sondern auch anderen für Bruch­teile von Momenten ein warmes Gefühl, einen Quadrat­zen­ti­meter Sicher­heit verschaffen. Indem wir klar­ma­chen, dass wir beiein­an­der­stehen, indem wir uns für einen Moment lang in einer gemein­samen Welt wähnen – oder uns einfach ein biss­chen länger als üblich umarmen.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 10 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 780 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Löse direkt über den Twint-Button ein Soli-Abo für CHF 60 im Jahr!

Ähnliche Artikel