Wir sind fried­lich, was seid ihr?

Mitte September hätte eigent­lich der ‚Marsch fürs Läbe‘ statt­finden sollen. Er wurde aufgrund von Sicher­heits­be­denken im letzten Moment abge­sagt. Doch vor wem fürch­teten sich die Veranstalter*innen?
Viele Mitglieder des Feministischen Kollektives trugen selbstgenähte Masken. (Foto: Emma-Louise Steiner)

Einige Dutzend Personen sitzen mit einem Bier oder einer Club Mate in der Hand auf den sonnen­ge­wärmten Pfla­ster­steinen des Helve­ti­a­platzes. Von den Mitglie­dern des Femi­ni­sti­schen Kollek­tivs wird er Ni-Una-Menos-Platz genannt.

Sara Schmid* stellt sich ans Mikrofon auf der kleinen Bühne, ihr Mund bedeckt mit einer violetten, selbst­ge­nähten Maske, auf der „Nur ja heisst ja“ steht. Sie holt tief Luft und beginnt: „Hallo zusammen, will­kommen auf dem Ni-Una-Menos-Platz! Die queer­feind­li­chen, reak­tio­nären Abtreibungsgegner*innen haben sich dieses Jahr in der Schweiz nicht für einen ‚Marsch fürs Leben‘ versam­meln können. Diesen Erfolg wollen wir feiern!“ Das Publikum jubelt ihr entgegen.

An diesem Samstag, dem 19. September 2020, hätte in der Schweiz eigent­lich der ‚Marsch fürs Läbe‘, der sich gegen Abtrei­bungen einsetzt, zum elften Mal statt­finden sollen. In einer neuen Form: Da die Stadt Zürich den Marsch nicht bewil­ligt hatte, wichen die Organisator*innen auf Winter­thur aus, um dort eine Veran­stal­tung abzu­halten. Wie der Verein auf seiner Webseite schreibt, hätte unter dem Motto „Läbe für alli!“ im Kongress­zen­trum Gate27 „ein fröh­li­ches Treffen für die ganze Familie und alle Lebens­freunde statt­finden“ sollen.

Das Publikum versam­melte sich in kleinen Gruppen auf dem Ni-Una-Menos-Platz. (Foto: Emma-Louise Steiner)

Hätte. Am 4. September lud das Kongress­zen­trum ihre Gäste wegen Sicher­heits­be­denken wieder aus. Zum ersten Mal seit elf Jahren fand der Marsch nicht statt. Wie kam es so weit?

Selbst­be­stim­mung für alle?

Es ist Frei­tag­nach­mittag, ein Tag vor der Kund­ge­bung auf dem Ni-Una-Menos-Platz, und Kim Keller* sitzt zusammen mit Sara Schmid* an einem Pick­nick-Tisch im Garten des Femi­ni­sti­schen Streik­hauses. Die Sonne steht schon tief und erhellt nur noch die ober­sten Blätter der Baum­kronen. Kim sagt: „Als der ‚Marsch fürs Läbe‘ abge­sagt wurde, haben wir uns total gefreut!“ Auch das Femi­ni­sti­sche Kollektiv aus Zürich hatte nämlich zur Gegen­de­mon­stra­tion mobilisiert.

Sara ergänzt: „Wir vom Kollektiv wollten trotzdem etwas veran­stalten.“ Nur weil der ‚Marsch fürs Läbe‘ abge­sagt wurde, seien die Leute und ihre Ansichten nicht plötz­lich weg. Es gehe dem Kollektiv auch um viel mehr, als nur den Marsch zu verhin­dern. „Menschen mit einer Gebär­mutter sollen überall auf der Welt selbst­be­stimmt über ihren Körper entscheiden dürfen“, so Kim.

Unter anderem die Stadt­zür­cher CVP rief laut nach Meinungs­frei­heit, als der ‚Marsch fürs Läbe‘ von der Stadt Zürich abge­wiesen wurde. Doch das Argu­ment der Meinungs­frei­heit greife hier zu kurz, findet Sara: „Funda­men­ta­li­sti­sche Hetze ist keine Meinung!“ Die Meinungs­frei­heit einer Person höre dort auf, wo die Frei­heit der näch­sten Person anfange.

Das Ziel der Kund­ge­bung sei vor allem, die Absage des Marschs zu feiern und die Inhalte des Femi­ni­sti­schen Kollek­tivs zu verbreiten. Sara konkre­ti­siert: „Es ist wichtig, der Gesell­schaft zu zeigen, dass solche Hetze nicht einfach tole­riert wird.“ Sie zündet sich eine selbst­ge­rollte Ziga­rette an und nimmt einen Zug. „Ich freue mich auf morgen“, sagt sie lächelnd. „Es ist schon eine Genug­tuung, dass wir uns versam­meln und zeigen können – und der ‚Marsch fürs Läbe‘ nicht.“

Am Samstag ist auf dem Ni-Una-Menos-Platz fröh­liche Stim­mung. Es werden Reden gehalten und in den Pausen laute Musik gespielt. Die Stim­mung ist ausge­lassen und die Anwe­senden versorgen sich in der impro­vi­sierten Bar mit Prosecco und am Verkaufs­stand mit femi­ni­sti­schen Post­karten. Die Bühne füllt sich und ein Chor beginnt zu singen. Lieder auf Spanisch, Italie­nisch, Deutsch. Manchmal singen ein paar Personen aus dem Publikum mit.

Die Abtreibungsgegner*innen müssen diesen Tag ander­weitig verbringen. Wieso Roger Tacheron, Geschäfts­führer des Kongress­zen­trums Gate27, den ‚Marsch fürs Läbe‘ ausge­laden hatte, erklärt er in einem Inter­view mit SRF: Zu gross sei die Angst vor den „Gewalt­an­dro­hungen“: „Wir haben einfach Bedenken, dass es ausartet und Beschä­di­gungen in der Altstadt passieren.“

Auch Der Land­bote erwähnt in einem Artikel vom 5. September mehr­mals die „massiven Drohungen“, die Auslöser für die Sicher­heits­be­denken gewesen seien. Doch Wort­laut, Form, Häufig­keit oder Absender*innen dieser Drohungen verschweigt der Text. Wie waren die Veranstalter*innen zu diesen Annahmen gekommen?

Niemand will Verant­wor­tung übernehmen

Die Suche nach einer Antwort wird zum Anfra­gen­ma­ra­thon: Roger Tacheron verweist auf die Stadt­po­lizei Winter­thur, diese im Gegenzug zurück auf Tacheron. Niemand will Verant­wor­tung übernehmen.

Tache­rons Version lautet so: Die Stapo Winter­thur habe Anfang September zu einem Krisen­ge­spräch einge­laden, mit dabei auch das Orga­ni­sa­ti­ons­ko­mitee des ‚Marsch fürs Läbe‘. „Der Einsatz­leiter der Polizei erklärte, dass sich die Bedro­hungs­lage verschärft habe und sie mit bis zu tausend gewalt­be­reiten Demon­stranten rechnen“, so Tacheron. Woher genau diese Infor­ma­tion kam, weiss Tacheron nicht. Der Einsatz­leiter hätte jedoch glaub­würdig gewirkt und das Gespräch sei für Tacheron schliess­lich der Auslöser für die Absage der Veran­stal­tung gewesen.

Michael Wirz, Medi­en­spre­cher der Stapo Winter­thur, weiss mehr, sagt aber wenig: „Es ist auf verschie­denen Platt­formen zu einer Gegen­de­mon­stra­tion aufge­rufen worden. Einzel­heiten zu Inhalt und Absen­dern nennen wir nicht, weil wir diesen Leuten keine zusätz­liche Platt­form geben möchten.“ Auch aus Sicher­heits­gründen könne er die Details einer konkreten Einsatz­pla­nung nicht offenlegen.

„Ganz allge­mein kann ich sagen, dass wir uns bei der Vorbe­rei­tung auf verschie­denste Faktoren gestützt haben: Wir kennen die Szene, wir beob­achten laufend, was im Internet publi­ziert wird, und wir greifen auf Erfah­rungen zurück“, so Wirz.

Es bleibt unklar, auf welche konkreten Hinweise die Polizei sich berief, als sie Tacheron und die Veranstalter*innen des ‚Marsch fürs Läbe‘ vor gewalt­be­reiten Stören­frieden warnte. Im Gespräch mit das Lamm weist Wirz aber daraufhin, dass eine Google-Suche reiche, um heraus­zu­finden, wo im Internet dazu aufge­rufen wurde, die Veran­stal­tung gewaltsam zu stören.

Tatsäch­lich taucht im Internet der Aufruf zur Gegen­de­mon­stra­tion unter dem Titel „Kein Fuss­breit dem ‚Marsch fürs Läbe‘“ auf, zu der auch das Femi­ni­sti­sche Streik­kol­lektiv aus Zürich aufge­rufen hatte. Aber: Eine expli­zite Gewalt­an­dro­hung gibt es hier nicht. Die Organisator*innen schreiben ledig­lich, dass es weiterhin wichtig sei, sich dem ‚Marsch fürs Läbe‘ entge­gen­zu­stellen und deut­lich zu zeigen, dass der Marsch auch in Winter­thur nicht erwünscht sei.

Was die Polizei und Tacheron mit „massiven Drohungen“ meinten, bleibt unklar. Es scheint, als wäre die Stapo Winter­thur aufgrund einer dünnen Beweis­lage vom Schlimm­sten ausge­gangen. Der Effekt bleibt so oder so, dass sich das Narrativ der ‚gewalt­be­reiten Links­extremen‘ verfe­stigt. Und Medien wie der Tages-Anzeiger und die NZZ verbreiten dieses gerne weiter.

 „Abtrei­bungs­ver­bote verhin­dern Abtrei­bungen nicht“

Es ist schwül unter der dichten Wolken­decke. Samstag, etwa halb vier Uhr nach­mit­tags auf dem Ni-Una-Menos-Platz. Die dritte Rednerin beendet gerade ihre Ansprache. Sie ruft „My body, my choice!“ ins Mikrofon; die Menge jubelt. Laute Popmusik ertönt von der Bühne und signa­li­siert eine kleine Pause im Programm. Einige erheben sich aus dem etwas unbe­quemen Schnei­der­sitz und steuern auf die Bar zu. Hinter dem impro­vi­sierten Bartresen stehen ausschliess­lich Männer, die damit beschäf­tigt sind, Prosecco nach­zu­füllen und Bier­fla­schen zu öffnen.

Am Verkaufs­stand daneben kaufen Inter­es­sierte Broschüren, Post­karten, selbst genähte Masken und Flaggen zu einem „Soli-Preis“: Gezahlt wird der ange­ge­bene Preis oder – aus Soli­da­rität – ein biss­chen mehr. Die „Broschüre zur Gegen­mo­bi­li­sie­rung“ enthält etliche Infor­ma­tionen zur Selbst­be­stim­mung und zur inter­na­tio­nalen Situa­tion bezüg­lich Abtrei­bungs­ver­boten. Der erste Satz stellt gleich klar: „Abtrei­bungs­ver­bote verhin­dern Abtrei­bungen nicht, sondern führen dazu, dass Menschen dies im Schatten der Ille­ga­lität tun müssen.“

Abtrei­bungs­verbot? Nicht in der Schweiz: Hier gilt die Fristen­lö­sung, wonach eine schwan­gere Person bis zur zwölften Woche abtreiben darf, sofern sie „geltend macht, sie befinde sich in einer Notlage“. Doch ein Blick nach Polen oder in die USA zeigt, dass Menschen mit Gebär­mutter das Recht auf Selbst­be­stim­mung tatsäch­lich (wieder) abge­spro­chen werden kann.

Das hat viel weniger mit einer „Liebe zum Leben“ zu tun als mit Unter­drückung: Würden die Abtreibungsgegner*innen sich wirk­lich dafür einsetzen wollen, dass die Abtrei­bungs­rate sinkt, würden sie unge­wollte Schwan­ger­schaften verhin­dern wollen. Und das wird laut einer 2016 publi­zierten Studie zu welt­weiten Abtrei­bungs­raten mit einer ausführ­li­chen Sexu­al­kunde und Zugang zu Verhü­tungs­mit­teln erreicht – nicht mit Verboten.

Die kleine Bühne wurde mit einem Traktor hin- und auch wieder wegge­fahren. (Foto: Emma-Louise Steiner)

Es ist mitt­ler­weile nach 16.00 Uhr und die Kund­ge­bung neigt sich langsam ihrem Ende zu. Eine Mitor­ga­ni­sa­torin stellt sich an das Mikrofon auf der Bühne: „Wir sind jetzt fertig, aber ihr dürft sehr gerne noch ein biss­chen mit uns hier­bleiben und euch an der Bar etwas zu trinken holen!“

SXTN ertönen über die Laut­spre­cher und einige Anwe­sende beginnen beim Refrain mitzu­singen: „Fuck the police! Wir sind fried­lich, was seid ihr? Hass­erfüllt und aggressiv!“ Nach Hause gehen möchten sie scheinbar nicht. Statt­dessen wird getanzt, gelacht, geredet und getrunken – und das Soli-Kässeli gefüllt.

Am Abend vorher im Garten des femi­ni­sti­schen Streik­hauses hatte Kim einen weiteren Grund für die Veran­stal­tung erwähnt: die Medi­en­be­richt­erstat­tung. „Diese war bis jetzt total geprägt von der Medi­en­mit­tei­lung des ‚Marsch fürs Läbe‘ und dem Narrativ der ‚gewalt­tä­tigen Links­extremen‘. Die eigent­liche Gewalt geht doch von den Abtreibungsgegner*innen aus.“ Jetzt sitzt Kim mit ein paar Freund*innen im Kreis und trinkt Prosecco. Sie wirken ausge­lassen, glücklich.

Sara steht neben der Bühne und schaut mit einem Bier in der Hand über den Ni-Una-Menos-Platz. Sie zieht ein posi­tives Fazit: „Wir konnten unsere Inhalte unge­stört rüber­bringen. Und die Stim­mung ist genial!“ Wie auf Knopf­druck wech­selt die Musik und „Do You Believe in Life after Love“ von Cher beginnt über die Boxen zu dröhnen. Sara hüpft glück­lich davon und verschwindet in der tanzenden Menge.

*Namen von der Redak­tion geändert.

 


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