Russland hat der Ukraine den Krieg erklärt. Doch diese Worte, die für die Menschen in der Ukraine katastrophale Realität sind, will die russische Regierung offiziell nicht verwenden. Eine „militärische Intervention zur Entnazifizierung der Ukraine“, so nennt Russland seinen Angriffskrieg.
Die Begriffe „Angriff“, „Invasion“ und „Kriegserklärung“ passen nicht in die Darstellung des Kremls. Im Inland werden diese Wörter seit Ausbruch des Kriegs zensiert. Die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadzor untersagt unabhängigen russischen Medien wie Novaya Gazeta, Dozhd oder Mediazona, sie zu verbreiten.
Auch für „Putin-Versteher:innen“ und orthodoxe Antiamerikaner:innen in westeuropäischen Ländern scheinen diese Begriffe nicht ins Weltbild zu passen. Auf einmal hatte der „böse Westen“ recht mit seinen Warnungen. Auf einmal verfängt das Weltbild eines einzig von den USA ausgehenden Imperialismus nicht mehr und es ist Russland, das Krieg eröffnet.
Zu lange haben westeuropäische Linke – allen voran die deutsche Partei Die Linke – die Behauptung, dass die Demokratiebewegungen der „Farbenrevolutionen“ in den postsowjetischen Ländern Georgien, Ukraine und Kirgistan von den USA gelenkt würden, aus antiwestlichen Reflexen reproduziert. Das Redwashing, mit denen einige Linke über den Kalten Krieg hinaus antiamerikanisch eingestellte Regierungen von Iran über Venezuela und Kuba bis hin zu Russland unterstützen, entlarvt sich endgültig als starre ideologische Blindheit.
Wie konnte die propagandistische Darstellung der russischen Regierung in Teilen der europäischen Linken derart verfangen? Es lohnt sich, einen Blick ins Jahr 2014 zu werfen.
Vom Euromaidan bis zur Annexion der Krim
Eine der abstrusen Rechtfertigungen für den Krieg vonseiten des Kremls: Ein „Genozid“ an der russischsprachigen Bevölkerung im Osten und Süden des Landes solle sich in der Ukraine abspielen. Dies verbreiten russische Staatsmedien. Spätestens seit den Aufständen des Euromaidans 2013/2014 gehört diese Erzählung ins Repertoire der russischen Propaganda über die Ukraine, die staatliche Nachrichtenagenturen im In- und Ausland verbreiten. Sie betreiben Geschichtsverdrehung: Der „Westen“ kontrolliere die Ukraine. Die USA und die NATO planten einen Angriffskrieg gegen Russland.
Dabei ist es Putin, der mit seinem Konzept der „Russki Mir“ (Russische Welt) die gemeinsame russische Kultur, Sprache und „ostslawische Identität“ in Osteuropa ins Zentrum rückt und dies als politische Rechtfertigung für die Ausweitung des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum aufbringt. Sowohl die Intervention in Georgien 2008 als auch die Annexion der Krim und die Unterstützung der prorussischen Separatisten im Donbass 2014 wurden mit dem Schutz der dortigen russischsprachigen Bevölkerung vor westlichem Einfluss begründet.
Propaganda wird oft fälschlicherweise verstanden als Gehirnwäsche; als platte Fake News oder Lügen, die von oben herab den Menschen eingetrichtert würden. Dabei geht vergessen, dass propagandistische Darstellungen, wenn sie funktionieren, nicht ins Leere laufen. Sie knüpfen an einen wahren Kern an, um reale Sorgen und Ängste von Menschen zu bedienen. So auch beim Nazi-Vorwurf des Kremls.
Die ukrainische Regierung unter dem russlandnahen Ministerpräsidenten Vìktor Janukovyč kündete Ende November 2013 an, das geplante Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen. Unter dem Druck Russlands wurde das in weiten Teilen der Bevölkerung mit Hoffnungen auf eine Öffnung gegenüber Westeuropa verbundene Abkommen ausgesetzt. Zugunsten des Handels mit Russland – so die Argumentation der damaligen Regierung.
Diese Ankündigung löste Massenproteste im ganzen Land aus, vor allem in der Hauptstadt Kiew auf dem Unabhängigkeitsplatz Maidan. Der sogenannte Euromaidan wurde zur „grössten zivilgesellschaftlichen Massenbewegung in Europa seit der Revolution von 1989“, wie Osteuropahistoriker Andreas Kappeler in seinem 2017 erschienenen Buch Ungleiche Brüder – Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart schreibt.
Die Entwicklungen der Proteste infolge der massiven Repression vonseiten des Sicherheitsapparats mündeten in einer gewalttätigen Eskalation im Januar 2014. In dieser Zeit mischten sich auch rechtsextreme Gruppen unter die Demonstrierenden. Später sollte vor allem das international vernetzte Asow-Bataillon Bekanntheit erlangen, das sich im Mai 2014 gründete, um im einsetzenden Krieg im Donbass gegen die dortigen russischen Spezialeinheiten, Geheimdienstgruppen und prorussischen Separatisten zu kämpfen. Während des Euromaidans waren vor allem der „Rechte Sektor“ und die rechtsextreme Partei Svoboda aktiv. Svoboda wurde nach der Flucht Janukovyčs nach Russland Teil der bis Ende Dezember 2014 bestehenden Übergangsregierung.
Diese kündete nach Amtsantritt überstürzt an, das Sprachengesetz aus dem Jahr 2012 auszusetzen, der Übergangspräsident unterschrieb dieses allerdings nie. Das Gesetz garantierte der russischen Sprache den Status einer regionalen Sprache. In der Ukraine bezeichnen einer Umfrage von 2017 zufolge mehr als 30 Prozent der Bevölkerung vor allem im Osten und Süden des Landes ihre Muttersprache als Russisch oder „Russisch und Ukrainisch im selben Masse“. Auf der Krim gaben dies mehr als 50 Prozent an.
Ausserdem kehrte die Übergangsregierung zum Assoziierungsabkommen mit der EU zurück, das es am 21. März 2014 unterschrieb und das sogleich umgesetzt wurde.
In der Zwischenzeit hatte Russland die Halbinsel Krim annektiert.
Medienkampagne seit Ende 2014
Die drei genannten Tatsachen – Neonazis, Sprachengesetz und die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens – spielten für die russische Propaganda im Inland und in westeuropäischen Ländern, allen voran in Deutschland, eine zentrale Rolle. Im November 2014 ging der staatliche Auslandssender Russia Today mit RT DE in Deutschland online. 2018 ging RT zudem mit dem neuen Programm Redfish Media online, das explizit linke, antikapitalistische Strömungen ansprechen sollte. Die RT-Tochtergesellschaft Ruptly hatte schon zuvor seit 2012 Sitz in Berlin. Zusätzlich wurde damals das staatliche und international sendende Nachrichtenportal Sputnik News gegründet. Seit 2020 heisst dieses in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern SNA.
Vladimir Putin nahm die Medienarbeit seit 2014 in seine eigenen Hände und erklärte Deutschland zum Schwerpunkt der internationalen Medienkampagne Russlands mit dem Ziel, Verständnis für die Positionen Russlands zu erzeugen und gleichzeitig Misstrauen in Bundesregierung, Medienlandschaft, EU, NATO und Demokratie zu schüren. In Deutschland kooperieren russische Staatsmedien mit rechten Magazinen wie dem Compact des Verschwörungsideologen und Antisemiten Jürgen Elsässer. Nahe stehen sie auch linken antiimperialistischen Zeitungen wie der Jungen Welt.
Am 16. März 2015 schrieb RT DE in einem Artikel: „Zudem betonte Putin, dass laut seinen Informationen es klar belegt ist, dass die USA ukrainische Nationalisten militärisch ausgebildet und so den bewaffneten Staatsstreich auf diese Weise erleichtert haben.“ In Kombination mit den vom Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank, den USA und der EU damals gewährten Krediten an die Ukraine, der in der Übergangsregierung beteiligten Partei Svoboda und den rechtsextremen Bataillonen in der Ostukraine witterten russische Medien eine von aussen installierte „illegitime faschistische Junta“.
Zudem sprachen Putin und die staatlichen Nachrichtenagenturen immer häufiger von einem „Genozid“, der sich in der Ostukraine abspielen würde. Die russischsprachige Bevölkerung im Osten würde „zwangsukrainisiert“. Am 25. September 2014, kurz nach der Unterzeichnung des ersten Friedensabkommens Minsk I unter Vermittlung von Frankreich und Deutschland berichtete das Amtsblatt der russischen Regierung Rossijskaja Gaseta von einem „Völkermord“ an der russischsprachigen Bevölkerung und angeblichen Massengräbern in der Region Donezk.
Diese Behauptung entbehrt jeglicher Belege. Weder gibt es Zeug:innenaussagen dazu, noch hatte die ukrainische Armee überhaupt Zugriff auf die Gebiete im Donbass, die von russischen Spezialeinheiten und prorussischen Separatisten kontrolliert werden. Die russische Propaganda versuchte jedoch, die im Zuge der Ereignisse entstandene Verunsicherung der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine zu nutzen, um sich Teile der Ukraine einzuverleiben.
Neonazis auf beiden Seiten
Die restlichen Behauptungen stützten sich zwar auf zum Teil existierende, aber nicht für das Geschehen in der Ukraine entscheidenden Tatsachen. Dass auch Neonazis am Euromaidan teilnahmen, im Donbass kämpften und eine rechtsextreme Partei in der Regierung beteiligt war, stimmt. Dass diese aber das ganze politische Geschehen kontrolliert haben und von den USA eingesetzt wurden, ist eine Verschwörungstheorie. Der Euromaidan war eine basisdemokratische Bewegung, die zuerst vor allem von jungen Studierenden getragen wurde, danach von Menschen aus dem Mittelstand, die schon an der „Orangen Revolution“ 2004/2005 beteiligt waren.
In der pro-europäisch und wirtschaftsliberal eingestellten Übergangsregierung war die Partei Svoboda mit 4 von 25 Minister:innen vertreten. International vernetzte rechtsextreme Regimente wie das Asow-Bataillon kämpfen sowohl auf ukrainischer als auch aufseiten der prorussischen Separatisten, wie eine Recherche von Die Zeit letztes Jahr zeigte.
Die von Russland ins Spiel gebrachte Behauptung, die Ukraine werde von Neonazis regiert, knüpft an die Geschichte der sowjetischen Kriegspropaganda im Zweiten Weltkrieg an. Der damals gegen Nazi-Deutschland geführte „Grosse Vaterländische Krieg“ und die 1941 wieder aufgeflammte propagandistische Rückbesinnung auf die russisch-patriotische Geschichte und ihre Helden nimmt eine eminente und sinnstiftende Bedeutung in Putins Russland ein.
Doch dass gerade Putin mit einer angeblichen „Entnazifizierung“ der Ukraine seine grossrussischen Pläne rechtfertigt, ist absurd. Denn Putin selbst ist umgeben von faschistischen und antisemitischen Ideologen wie dem Philosophen Aleksandr Dugin, der in der Annexion der Ukraine die Rückkehr zu sowjetischer Stärke in faschistischer Form sieht. Ausserdem verehrt Putin den russischen Religionsphilosophen Iwan Iljin (1882–1954), dem er den Status eines „offiziellen Philosophen“ erteilte. Iljins Vorstellungen eines russisch-christlichen Faschismus mit einem väterlichen Monarchen nimmt in der Ideologie des Kremls eine zentrale Rolle ein. Mitunter deshalb unterhält Putin gute Beziehungen zu rechtsautoritären Parteien in Westeuropa wie der AfD, dem Rassemblement National oder der italienischen Lega.
Doch bis heute bauschen die russischen staatlichen Nachrichtenagenturen das Bild eines faschistischen ukrainischen Regimes auf, das durch einen von aussen gesteuerten Putsch an die Macht gekommen sei und die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine unterdrücke.
Auf diese Elemente russischer Propaganda, die Putin als Rechtfertigung für seine Invasion in der Ukraine darlegt, griffen im deutschsprachigen Raum bis anhin einerseits rechtsautoritäre Akteur:innen wie Teile der AfD und das Compact-Magazin und Verschwörungstheoretiker:innen wie Daniele Ganser zurück. Auch taten dies linke Politiker:innen des russlandfreundlichen Flügels der Partei Die Linke rund um Sarah Wagenknecht und Oskar Lafontaine.
Die Bundestagsfraktion der Linken stellte sogar einen Redakteur von RT DE ein, der in der Abteilung Medien- und Öffentlichkeitsarbeit der Fraktion im Bundestag arbeitete, wie der Spiegel letztes Jahr berichtete. Als erste:r deutsche:r Politiker:in forderte Andreas Maurer, niedersächsischer Kreispolitiker der Linkspartei, die Anerkennung der Krim als Teil Russlands. Seine Besuche auf die Halbinsel wurden von RT DE dokumentiert und inszeniert.
Die Zeitung Junge Welt, die dem antiimperialistischen Flügel der Linken nahesteht, verglich in einem Artikel im Mai 2014 den Beitritt der Krim zu Russland mit der Befreiung der von den Nazis besetzten Halbinsel im Zweiten Weltkrieg durch die Rote Armee.
Und heute?
Kurz vor der russischen Invasion am 24. Februar veröffentlichte RT DE in einem Artikel Auszüge der Rede der Bundestagsabgeordneten der Linken, Sevim Dağdelen, die sie auf einer Demonstration gegen die Münchner Sicherheitskonferenz am 18. Februar hielt: „[Die Medien] erzählen eine Lüge vom russischen Angriffskrieg, einer Invasion. Und wenn der eben ausbleibt, dann sagen sie: ‚Na ja, der ist ausgeblieben, weil wir es rechtzeitig kommuniziert haben. Da hat der Russe sich nicht getraut.‘ Wer soll diesen Blödsinn eigentlich noch glauben?!“
Sputnik News, in Deutschland SNA, zitierte in einem Artikel vom 21. Februar Aussagen Sarah Wagenknechts in der Talkshow Anne Will der ARD:
„Ich finde die Aggressivität, mit der vor allem von amerikanischer Seite ein russischer Einmarsch geradezu herbeigeredet wird, bemerkenswert […]. Man hat das Gefühl, hier ist der Wunsch der Vater des Gedankens.“
Drei Tage nach Beginn der russischen Invasion veröffentlichte die Gruppe um Sarah Wagenknecht eine gemeinsame Erklärung, in der der russische Angriff zu Beginn zwar verurteilt, danach aber bloss wieder auf die Versagen von NATO und der USA eingegangen wird. In keinem Wort wird auf die humanitäre Situation in der Ukraine eingegangen. In keinem Wort werden Fehleinschätzungen eingestanden.
Russische Propaganda der staatlichen Nachrichtenagenturen im deutschsprachigen Raum und ihre Nachahmer:innen trugen mitunter dazu bei, dass die neoimperialen Ambitionen Putins nicht ernstgenommen wurden.
Bis anhin sind RT und Sputnik noch online. Am 27. Februar 2022 kündigte die EU an, die Sender zu verbieten.
Der zweite Teil dieses Artikels geht auf die russische Desinformation in den letzten Wochen ein.
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