Zukunft erproben mit der AarauAG

Ein Theater- und Gesell­schafts­pro­jekt in Aarau lässt das Publikum eine mögliche Zukunft mitge­stalten – in einer Welt, in der Konzerne die Natio­nal­staaten abge­löst haben. Bekannte Persön­lich­keiten aus Politik und Wirt­schaft spielen mit in diesem Szenario, das weniger weit herge­holt ist, als man sich wünschen würde. 
An der ausserordentlichen Generalversammlung der AarauAG, die 2027 aus dem ETH-Spin-Off "The New City" entstanden ist. (Foto: Dominik Zietlow)

Wenig im Aarauer Gross­rats­saal deutet darauf hin, dass wir das Jahr 2071 schreiben: nur die weiss-glän­zenden, etwas futu­ri­stisch wirkenden Westen des Perso­nals und die geret­teten Pflanzen, die in Terra­rien auf die verschärfte Klima­krise hindeuten, vielleicht. 

Und doch befinden wir uns in einer neuen Welt, in der nicht mehr das städ­ti­sche Parla­ment, sondern Aktionär:innen der AarauAG im Gross­rats­saal tagen. 

Denn die AarauAG befindet sich in einer akuten Krise, weil ein anar­chi­sti­sches Hacker:innen-Team gravie­rende Miss­stände hinter dem Vorzei­ge­pro­jekt „Atlantis“ aufdeckte: Der geplante Insel-Archipel zwischen Nord­ame­rika und Europa, das von der Klima­er­wär­mung betrof­fene Lebens­räume ersetzen sollte, wird nie zu Stande kommen. Das korrupte Manage­ment ist abge­taucht und nun soll die GV eine neue Führung wählen. 

Pre-enact­ment

Bei der von Probe­raum Zukunft umge­setzten Perfor­mance handelt es sich um ein Pre-enact­ment: Die Entscheidungsträger:innen von heute sollen zukünf­tige poli­ti­sche Ereig­nisse in einem real-fiktiven Setting mitgestalten. 

So weit herge­holt ist das Szenario nicht. Wie das Lamm berich­tete, sind in Honduras soge­nannte Liberty Cities schon im Aufbau: extreme Versionen von Sonder­wirt­schafts­zonen, die mit eigenen Gesetzen und Gerichten von privaten Firmen verwaltet werden. In afri­ka­ni­schen Ländern sind weitere geplant. Ärmere Staaten öffnen sich für solch weit­ge­hende Dere­gu­la­ri­sie­rungen und Priva­ti­sie­rungen, um Geld aus dem Ausland anzulocken. 

In der Welt des Thea­ters ist dieser Prozess schon weit fort­ge­schritten: Im Jahr 2045 wurde mit den United Corpo­ra­tions eine liber­täre Konzern­welt gegründet, nachdem hoch­ver­schul­dete Staaten um die Gunst von Unter­nehmen geran­gelt hatten.

Gelingt es den Theatermacher:innen, dass sich die Teil­neh­menden ernst­haft mit dieser mögli­chen Zukunft auseinandersetzen?

Sowohl durch raffi­nierte Abläufe und den schlichten Einsatz von Bühnen­bild­ele­menten versteht sich das Publikum schnell als Teil der Perfor­mance. Schon beim Ticket­kauf werden sie zu Akteur:innen, wenn sie über den Preis und somit über ihren Akti­en­an­teil und das Gewicht ihrer Stimme entscheiden müssen. Bevor sie das Gebäude betreten, leuchten Logos der AarauAG, in der Garde­robe macht ein Image­film auf die Dienst­lei­stungen des Konzerns aufmerksam: Verwal­tungs- und Regie­rungs­dienst­lei­stungen, Umstruk­tu­rie­rungs- und Transformationsprozesse.

Wie an jeder gewöhn­li­chen GV erhalten die Zuschauer:innen eine Mappe mit den Trak­tanden, der Geschäfts­ord­nung sowie Infos zu den Präsidentschaftskandidat:innen. Auch die trockene Sitzungs­at­mo­sphäre trägt dazu bei, dass sich das Publikum leicht einlassen kann auf das eigent­lich absurde Szenario, in welchem mit „Brut­to­kon­zern­pro­dukt“ oder „Leistungs­glücks­ko­ef­fi­zient“ argu­men­tiert wird.

Was aber genauso wichtig ist: Anstelle von Schauspieler:innen stehen bekannte Persön­lich­keiten aus Wirt­schaft und Politik auf der Bühne.

Drei Visionen

Damit das Publikum weiss, welche Fakten für sie heute als real gelten, erklärt die Inte­rims­lei­tung zu Beginn der Sitzung die aktu­elle Lage des Konzerns: Die meisten globalen Investor:innen haben ihr Geld abge­zogen, der Akti­en­kurs ist um 80 Prozent einge­bro­chen. Die Aktionär:innen – viele von ihnen Aarauer:innen, die sich 2027 in einer Volks­ab­stim­mung für die Umwand­lung der Gemeinde Aarau in die erste „Charter City“ West­eu­ropas entschieden hatte – müssen nun das neue Verwal­tungs­rats­prä­si­dium wählen.

Erster Kandidat ist Reiner Eichen­berger, Professor für Wirt­schafts­po­litik, der sich seit der Pandemie mit seinem Vorschlag der „kontrol­lierten Durch­seu­chung“ einen Namen gemacht hatte. Kaum über­ra­schend ist er treuer Vertei­diger der freien Städte und des Wohl­stands ihrer Aktionär:innen. Er plädiert für eine „Gesund­schrump­fung“ des Konzerns, damit dieser wieder wachsen kann. Dazu will er die örtliche Kapi­tal­be­tei­li­gung voran­treiben: mittels Vorzugs­ak­tien mit noch höheren Stimm­rechten für soge­nannte „Resi­dents“ – Kadermitarbeiter:innen, die nicht einmal fünf Prozent der 21 Millionen Personen auf dem Gebiet der AarauAG ausma­chen. Denn Blei­be­recht inner­halb der United Corpo­ra­tions ist an Verträge mit den verwal­tenden Firmen geknüpft: entweder über Vermögen oder ein Anstellungsverhältnis.

Kandidat Daniel Ballmer, der anson­sten für die Grünen poli­ti­siert, will die Rahmen­be­din­gungen der AarauAG radikal ändern. Seine Ansätze: Gewinn­be­tei­li­gung aller mittels eines Beleg­schafts­fonds, an welchen die Aktionär:innen die Hälfte ihrer Aktien abzu­geben haben. Auch will der selbst-ernannte Anarcho-Demo­krat das Stimm­recht vom Akti­en­vo­lumen entkop­peln, sodass die ausge­la­gerte Putz­kraft gleich­viel mitbe­stimmen kann wie der Finanz­di­rektor. Er möchte damit gegen die Ungleich­heit ankämpfen, die seit dem Wegfall der natio­nal­staat­li­chen Umver­tei­lungs­me­cha­nismen enorm gestiegen ist.

Anita Fetz, ehema­lige Stadt­basler Stän­de­rätin (SP), will das Monopol der United Corpo­ra­tions mit einer dezen­tralen Aufstel­lung brechen: Nach dem Konkurs der AarauAG soll eine Auffang­ge­sell­schaft kleine vernetzte Genos­sen­schaften zum Blühen bringen – mittels Auto­nomie und koope­ra­tiven Wett­be­werbs. Ihre Absichten sind löblich, aber moderat: Verzicht auf Löhne, der die unteren Schichten verhält­nis­mässig hoch bela­stet, Auftei­lung des Besitzes in Genos­sen­schafts- und frei handel­bare Anteile, Einfüh­rung einer zehn­fa­chen Lohnobergrenze.

Die Figuren sind über­spitzt und viel­leicht begrenzt sinn­voll für ein Szenario der Zukunft. Man hätte sich auch ein Aufbre­chen des herkömm­li­chen Rechts-links-Spek­trums vorstellen können, in welchem die Figuren weniger leicht in einer poli­ti­schen Ecke zu verorten sind. Trotzdem ist der Unter­hal­tungs­wert gross, der sich zu einem grossen Teil ledig­lich in den Sitzungs­un­ter­lagen liest: Etwa, dass Ballmer der einzig gewerk­schaft­lich orga­ni­sierte Resi­dent auf seiner Lohn­stufe ist.

Probe­raum Zukunft wurde von Marcel Grissmer, Nicolai Eneas Prawdzic und Sarah Verny ins Leben gerufen, um mittels Theater einen Beitrag in Rich­tung einer wünschens­wer­teren Zukunft zu leisten. 
Die AarauAG ist der zweite von drei Teilen dieses Projektes, das im Rahmen des drei­jäh­rigen Resi­denz­pro­gramms Szen­otop durch­ge­führt wird. Das Stück wurde am 24. und 26. November aufgeführt.

War das geplant?

Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt, aber nicht alle sind Teil des „Publi­kums“. In den Reihen befinden sich weitere bekannte Personen, die für Beiträge aufge­boten werden. Etwa die frisch gewählte Aarauer Stadt­rätin Silvia Dell’Aquila, die sich als Sicher­heits­be­auf­tragte der Firma für die Ange­stellten einsetzt. Oder Alt-Regie­rungsrat Baschi Dürr, der sich gegen die Abschaf­fung der Verer­bung von Aktien wehrt, wie sie von Fetz vorge­schlagen wird. Oder Jung-SVP-Poli­tiker Dominik Bachofen, dem es alleine um den Akti­en­wert und die Invest­ments geht.

Wie die Kandidat:innen spielen auch sie – aber entlang der Linie, die sie auch sonst vertreten. Bis der vorge­se­hene Sitzungs­ab­lauf unter­bro­chen wird. Einem ausser­or­dent­li­chen Antrag einer Vertre­terin der Kigali Group wird statt­ge­geben und schon bald steht deren Angebot, die AarauAG aufzu­kaufen. Der Vorschlag wird als vierte Option aufgenommen.

Das ist alles, was selbst die Theatermacher:innen über ihr Stück wissen: die Personen, die sie für Inter­ven­tionen einge­laden haben, und die Reihen­folge deren Auftritts. Doch die Inhalte selbst blieben bis zum jetzigen Zeit­punkt auch ihnen verborgen. Was macht dieser expe­ri­men­telle und offene Charakter des Stücks mit dem Publikum?

Neben der Frage, wen man wählen wird, treibt einen ständig die Frage um: Was ist gespielt und was gerade spontan durch das Publikum entstanden? Denn immer mehr Rede­bei­träge kommen aus den eigenen Reihen: ob die Kigali Group Arbeits­plätze strei­chen wird, wie Ballmer Inve­sti­tionen sicher­stellen will. Denn in der Mappe findet sich auch ein Anmel­de­talon für Rede­bei­träge, mit denen sich alle im Raum Gehör verschaffen können.

Fast alle. 

Denn plötz­lich verlässt eine Mitar­bei­terin der AarauAG ihren Platz vor der Türe, schnappt sich ein Mikrofon – aber wird augen­blick­lich abge­führt. Als wäre nichts geschehen geht die Sitzung weiter, bis sich eine Person zu Wort meldet: Sie würde gerne wissen, was diese Frau zu sagen hatte. Nur Leute mit Aktien haben das Recht zu spre­chen, heisst es von der Sitzungs­lei­tung. Auch dem Vorschlag von Eichen­berger, der Betrof­fenen eine Aktie zu schenken, wird nicht statt­ge­geben. Denn nur die 140 vermö­gend­sten Aktionär:innen sind anwe­send. Wie kann sich inner­halb dieser vom Konzern fest­ge­legten Regeln über­haupt etwas ändern?

Doch die Proteste aus dem Publikum nehmen nicht ab. Bis eine Person vorschlägt, all ihre Aktien der Mitarbeiter:in zu verma­chen. Dem Antrag wird statt­ge­geben, die Zuschauerin muss jedoch den Saal verlassen. Die Mitar­bei­terin macht aufmerksam auf die Effekte der Priva­ti­sie­rung von Bildung auf die junge Gene­ra­tion, die im Konzern gefangen ist, weil sie erst ihre Ausbil­dungs­kre­dite zurück­zahlen bezie­hungs­weise abar­beiten müssen.

Diese Szene war nicht geplant. Doch war es beab­sich­tigt oder gewünscht, dass sich das Publikum an dieser Stelle der Perfor­mance in das Geschehen einbringt? Dass ihm noch einmal bewusst wird, dass es den Gang der Dinge selbst beein­flussen soll?

Soll die AarauAG zerschlagen, verkauft oder verge­mein­schaftet werden? Das Publikum hat die Wahl. (Foto: Dominik Zietlow)

Was wäre, wenn...

Das Theater erin­nert in einem ersten Moment an die Thea­ter­stücke von Milo Rau. Etwa an Das Kongo Tribunal, in dem betrof­fene Opfer oder Politiker:innen zu Wort kommen. Aber der Unter­schied ist frap­pant. Es gibt zumin­dest inner­halb der Perfor­mance wenig Grund zur Ernst­haf­tig­keit. Und so über­wiegen die unter­halt­samen Elemente, wenn etwa Baschi Dürr „Diktatur“ durch den Raum schreit, als seinem Antrag zur Aufhe­bung der Kandi­datur von Fetz nicht statt­ge­geben wird, oder wenn sich Anwalt Chri­stian Bär die Gemein­de­ver­samm­lung von Küttigen zurückwünscht.

Ist es den Theatermacher:innen also nicht gelungen, uns die Ernst­haf­tig­keit der Lage bewusst zu machen? Bleibt das Publikum mit seinen Inter­ven­tionen eher zurück­hal­tend, weil es in Wirk­lich­keit nichts zu verlieren hat? 

Der Unter­hal­tungs­wert dieses knapp drei­stün­digen und ins Detail ausge­ar­bei­teten Zukunfts­sze­na­rios ist so gross, das fast zu wenig Zeit bleibt, sich seriös mit den Konse­quenzen der verschie­denen poli­ti­schen Modelle der AarauAG ausein­an­der­zu­setzen. Denn so leicht ist das gar nicht: Konkrete Probleme und Lösungs­an­sätze werden von den Kandi­die­renden nicht ange­spro­chen. Die Zuschauer:innen müssen sich selbst ausmalen, welches Modell zukünf­tige Heraus­for­de­rungen am ehesten nach ihren Vorstel­lungen beein­flussen könnte. 

Das ist richtig gutes Theater. Denn es regt zum Nach­denken an und macht Lust darauf, die verschie­denen Konzepte in Arbeits­gruppen ausein­an­der­zu­nehmen und zu diskutieren.

So ist dann auch der Ausgang der Wahl nicht das rele­van­teste dieses Abends. Jeden­falls wurden die schreck­lich­sten Szena­rien abge­wandt: Im ersten Wahl­gang scheiden sowohl Prof. Eichen­berger sowie der Aufkauf durch die Kigali Group aus. Im zweiten über­wiegt Fetz. Auch in der erprobten Zukunft verhalten sich die Schweizer:innen also gemäs­sigt und risi­ko­scheu. Ein Gross­teil hat sich enthalten. 

Anita Fetz wird ein Blumen­strauss über­geben, die Perfor­mance ist zu Ende. Aber die greifbar erfahr­bare expli­zi­tere Verbin­dung von Wirt­schaft und Politik wird noch lange nachhallen.


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