Das Lamm: Frau Allemann, in der Schweiz herrscht seit letzter Woche ein Lockdown: Viele Menschen gehen nicht zur Arbeit und machen dafür Home-Office, die Kinder sind wegen geschlossenen Schulen zuhause und Aktivitäten und Kontakte ausserhalb der familiären Sphäre fallen weg. Wird dies auch an den Fallzahlen zu häuslicher Gewalt sichtbar?
Pia Allemann: Bis jetzt herrscht zumindest bei unserer Anlaufstelle eine gespenstische Ruhe, wir gehen aber davon aus, dass sich das bald ändern wird. Wir haben bereits vereinzelt von Frauen gehört, dass sie jetzt nicht mehr telefonieren können, weil der Mann zuhause ist. Das heisst: Viele potenzielle Opfer können sich eventuell gar nicht an uns wenden, da sie nicht in Sicherheit einen Anruf tätigen können. Das wiederum führt dazu, dass wir keine sicheren Fallzahlen haben.
Wir rechnen aber mit einer Zunahme der häuslichen Gewalt, auch wenn diese noch nicht messbar ist. Die Fallzahlen werden erfahrungsgemäss mit der Zeit zunehmen: Je länger der Lockdown dauert, desto prekärer wird die Situation für gewaltbetroffene Frauen werden. Eine Woche oder zwei können sich potenzielle Täter eventuell noch ablenken oder man schafft es, sich aus dem Weg zu gehen – es herrscht Ausnahmezustand. Doch irgendwann kehrt der Alltag zurück, man will raus, Stress kommt auf und es kommt zu Frustration.
Und diese Frustration führt dann dazu, dass Männer gegenüber ihren Frauen, Schwestern, Müttern oder Töchtern gewalttätig werden?
Frustration, aber auch enge Wohnverhältnisse, eine schwierige finanzielle Lage, wie sie sich bei vielen Familien in den nächsten Wochen abzeichnen wird und die daraus entstehenden existentiellen Sorgen gehören zu den Faktoren, die hohes Eskalationspotenzial mit sich bringen. Auch ein zunehmender Alkoholkonsum spielt eine Rolle. Gerade wenn das Zuhause vorher schon kein sicherer Ort war, können diese Faktoren in Gewalt münden.
Aber finanzielle Verhältnisse und Enge sind nicht die einzigen Faktoren. Das zentralste Element ist das Potenzial beim Täter. Also ob er sich das Recht nimmt, seine Frau zu kontrollieren und seine Macht an ihr auszuüben und so wieder die Kontrolle zu erlangen oder Stress abzubauen. Dieses Potenzial wird in den meisten Fällen bereits vor dem Lockdown bestanden haben, wenn auch nur latent.
Pia Allemann ist die CO-Geschäftsleiterin der BIF-Beratungsstellte für Frauen, Gegen Gewalt in Ehe und Partnerschaft. Die BIF ist ein Verein mit öffentlich-rechtlichem Auftrag des Kantons und eine anerkannte Opferberatungsstelle für Frauen, die von Partnerschaftsgewalt betroffen sind. Im Kanton Zürich gibt es Opferberatungsstellen mit verschiedenem Fokusbereich. 16 Mitarbeiter*innen bieten bei der BIF telefonische und online Beratung an. Auch persönliche Beratungen sind üblich, aufgrund der momentanen Situation jedoch sistiert. Alle Beratungen sind anonym, vertraulich und kostenlos. Die BIF vermittelt Frauen bei deren Wunsch direkt an Frauenhäuser weiter oder sucht andere individuelle Lösungen mit oder ohne Involvierung der Justiz. Rund 2’000 Frauen werden jährlich allein von der BIF beraten.
Opferhilfestellen gibt es auch in jedem Kanton und auch die allermeisten Frauenhäuser bleiben trotz COVID-19 weiterhin geöffnet.
Sie oder Menschen in Ihrem Umfeld sind von physischer, psychischer oder sexualisierter Gewalt betroffen? Unter dem folgenden Link finden sie alle Opferhilfestellen der Schweiz aufgelistet. https://www.opferhilfe-schweiz.ch/de/
Kann also davon ausgegangen werden, dass auch in bisher relativ intakten Partnerschaften aufgrund der veränderten Lage Gewalt aufkommen kann?
Ja, davon ist leider auszugehen. Schwierige und angespannte Situationen können ein latentes, bisher nicht offen ausgelebtes Gewaltpotenzial steigern. Normale Ausweichmöglichkeiten fehlen, andere Wege, Stress abzulassen fallen weg. Wir unterscheiden jedoch zwischen situativer Gewalt, wie sie in der momentanen Gesamtlage wohl vermehrt auftreten wird, und einem Unrechtsregime, welches der Mann durch Kontrolle, Schläge und Drohungen über längere Zeit hinweg zuhause aufgebaut hat. Auch hierfür wird das Risiko steigen, wenn die Täter mehr Zeit und Möglichkeiten für Gewalt und Brutalität haben. Zusammengefasst müssen wir leider davon ausgehen, dass sowohl situative als auch bereits bestehende Gewalt zunehmen, beziehungsweise sich verschärfen wird.
Wie steht es um sexualisierte Gewalt: Kann hier von der Wirkung derselben Mechanismen und Faktoren ausgegangen werden?
Die sexualisierte Gewalt in den eigenen vier Wänden wird wohl ebenfalls zunehmen, während sie im öffentlichen Raum, in Bars und Clubs etc. naturgemäss abnimmt. Wir erwarten, dass gewisse Aggressionen und Anspannungen über zunehmende sexualisierte Gewalt im häuslichen Kontext ausgehandelt werden.
Bei der Diskussion über häusliche Gewalt während der Isolation liegt der Fokus meist auf den Frauen als potenzielle Opfer. Ist diese Betrachtungsweise korrekt?
Klar ist die Dunkelziffer bei Männern als Opfer und Frauen als Täterinnen noch höher als umgekehrt, zumal sicher die Scham aufgrund gesellschaftlicher Rollenbilder höher ist und Männer seltener Hilfe suchen. Aber auf Basis von Statistiken lässt sich deutlich sagen: Häusliche Gewalt ist ganz klar ein Männerproblem. In ca. 80 Prozent aller gemeldeten Gewaltschutzfälle, in denen es zu einer Wegweisung kommt, sind Männer die Täter. Die Kriminalstatistik stützt diese Zahlen.
Es gibt individuelle und gesellschaftliche Gründe dafür, dass ein Mann gewalttätig wird. Es hängt letzten Endes auch mit Gleichberechtigung der Geschlechter und stereotypischen Rollenbildern zusammen. Auch damit, dass Frauen vielerorts gesellschaftlich bis heute einen tieferen Wert haben – gesetzliche Gleichberechtigung hin oder her. Das gibt gewissen Männern die Berechtigung, ihre Interessen mit Gewalt durchzusetzen.
Hat die zunehmende ökonomische Gleichberechtigung, auch wenn sie nur langsam voranschreitet, nicht dazu geführt, dass die häusliche Gewalt abnimmt?
Ja und Nein. So verzeichnen wir etwa eine Zunahme von häuslicher Gewalt in Ländern, in denen die Gleichstellung zumindest in ökonomischer Hinsicht, messbar voranschreitet. Es ist schwer zu sagen, ob die Gewalt gegen Frauen zunimmt, weil sie rascher Anzeige erstatten. Oder ob die Emanzipation und zunehmende Unabhängigkeit der Frau dazu führt, dass sich ein Teil der Männer bedroht fühlt und sich durch Gewalt seine „Privilegien“ zurückholen will. Er will sozusagen in einem letzten Bereich, nämlich der privaten Sphäre, die Oberhand behalten, um der „Herr im Haus” zu bleiben.
Ich persönlich denke, es ist beides. Einerseits melden sich mehr Frauen und erstatten Anzeige, weil die Polizei in den letzten Jahren bezüglich Stigmatisierungen deutlich sensibler wurde und das Thema auch ernster genommen wird. Andererseits bäumen sich gewisse Männer gleichzeitig mit Gewalt gegen die Emanzipation auf, da sie sich als deren Verlierer sehen.
Was raten Sie von der BIF Frauen oder Mädchen, welche aufgrund der momentanen Situation mit einem potenziell gewalttätigen Partner quasi zuhause eingeschlossen sind?
Grundsätzlich raten wir nicht, sondern hören uns die Situation an, um sie zu beurteilen und dann geben wir eine Palette von Möglichkeiten an. Ist die Frau bereit für eine Trennung? Sind Kinder involviert? Will die Frau primär Schutz im Sinne eines Aufenthalts im Frauenhaus oder will sie einen Prozess? Oft sind auch migrationsrechtliche Fragen mit dem Ganzen verbunden, dann wird das ganze Vorgehen schnell zum taktischen Abwägen.
Die Lösungen sind dementsprechend sehr individuell. Ein Beispiel: Eine Frau ruft an und sagt, die Gewalt eskaliere zunehmend und sie habe Angst. Als erstes würden wir probieren, sie aus dem Haushalt zu holen und entweder privat, also bei Familie oder Freunden, oder in einem Frauenhaus unterzubringen. Wenn sie bereit ist, die Polizei zu involvieren, kann diese eine Wegweisung und ein Kontaktverbot gegen den Mann sprechen. Er muss also den Haushalt verlassen und sie kann bleiben – Miet- und Besitzverhältnisse spielen hierbei keine Rolle. Diese Massnahmen können einmalig auf bis zu drei Monate verlängert werden, parallel kann geklagt werden. Wenn die Frau während dieser Zeit jedoch das Gefühl hat, sie sei auch so nicht sicher oder wohne sehr exponiert, raten wir zum Aufenthalt in einem Frauenhaus. Erstaunlich viele Männer halten sich jedoch an diese Verfügung – schliesslich kann das Nichteinhalten mit bis zu 10’000 Franken gebüsst werden.
Was empfehlen Sie Personen, die als NachbarIn mit potenzieller häuslicher Gewalt konfrontiert werden? Oft hat man ja Hemmungen, einzuschreiten. Zum einen, weil es eine private Angelegenheit zu sein scheint und zum anderen auch, weil man die betroffene Person durch falsches Vorgehen nicht noch zusätzlich gefährden möchte.
Bei Verdacht auf anhaltende Isolation etc., aber ohne akute Gewaltsituation, sollte die Frau direkt angesprochen werden. Manchmal hilft es, in solchen Gesprächen zu paraphrasieren, also etwa zu sagen: „Ich kannte mal eine, die war in so einer schwierigen Lage mit ihrem Mann. Kann es sein, dass es bei dir auch so ist?” Die Frau sollte dann auf Unterstützungsangebote hingewiesen werden.
Bei einer akuten Gewaltsituation oder im Notfall raten wir immer dazu, sofort die Polizei zu rufen. Bezüglich direkten Einschreitens vor deren Eintreffen muss jedeR selbst abwägen, was man sich zutraut. Gerade während einer Eskalation ist das Gewaltpotential bei gewissen Männern immens hoch. Da sollte man sein eigenes Leben nicht gefährden und auf das Eintreffen der Polizei warten. Dennoch gilt: Je nach dem kann eine Einmischung situativ zu einer Zunahme der Gewalt gegenüber der Frau führen, weswegen wir grundsätzlich wirklich empfehlen, als aller erstes die Polizei zu informieren.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 8 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 676 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 280 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 136 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?