Das schlechte Wetter an diesem Tag hat die Protestierenden nicht davon abgehalten, auf den Zürcher Sechseläutenplatz zu kommen – zumindest nicht alle. Es sind aber doch weniger als am Samstag zuvor, als die Transparente noch im schönsten Frühlingswetter geschwenkt wurden. „Wofür wird hier protestiert?“, wundert sich eine ältere Dame. Ihre Frage bleibt unbeantwortet, denn die Demonstranten sind zu sehr mit sich selbst und der Polizei beschäftigt. Hätte sie einen der anwesenden Journalisten gefragt, wäre die Antwort wohl gewesen: „Für die Grundrechte“, oder „für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit“. Doch das ist nicht das, was auf den Kartonschildern steht, die hier gezeigt werden. Dass die Dame etwas verwirrt zu sein scheint, ist durchaus verständlich. Sie ergeben wahrscheinlich keinen Sinn für jemanden, der sich nicht mit den aktuellen Verschwörungserzählungen auskennt.
„Gib Gates keine Chance“ ist da im Layout der „Gib Aids keine Chance“-Kampagne etwa zu lesen.
Die Bill & Melinda Gates Foundation hat laut den gängigen Verschwörungserzählungen das Ziel, der Menschheit per Zwangsimpfung Mikrochips zu injizieren und sie dadurch zu kontrollieren. Ein Szenario aus einem dystopischen Science-Fiction-Film, könnte man bei einer ersten, oberflächlichen Betrachtung denken. Aber um was ging es hier nochmal? Die Einschränkung der Grundrechte? Für die stutzig gewordene Passantin scheint hier doch alles in Ordnung zu sein. Die Menschen scheinen ja das Recht, sich bei mittlerweile starkem Regen und Windböen auf einem zentralen Platz zu treffen, nicht verloren zu haben – so weit, so gut. Doch da stehen ja noch reihenweise Polizeibusse auf dem Platz und zahlreiche Beamte mit gelben Westen.
Das Dialogteam spricht mit den Anwesenden: „Es ist nach wie vor laut der Corona-Verordnung verboten, sich hier zu versammeln.“ „Wir wollen unsere Freiheit zurück“, erwidert eine Frau und wird dabei von der Durchsage unterbrochen, die aus der Lautsprecheranlage eines VW-Busses der Stadtpolizei ertönt. Das Fahrzeug nähert sich der kleinen Gruppe von Protestierenden und Polizisten: „Hier spricht die Stadtpolizei. Dies ist eine gemäss Covid-Verordnung des Bundesrates illegale Veranstaltung. Beenden Sie die Veranstaltung sofort und verlassen Sie unverzüglich die Örtlichkeit. Bei Missachtung dieser Anweisung machen Sie sich wegen Durchführung einer verbotenen Kundgebung strafbar und können mit einer Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bestraft werden.“ Ganz so intakt scheinen die Grundrechte also doch nicht zu sein.
Ein Stück weiter steht eine Frau vor einer Videokamera. Der Mann hinter der Kamera bittet sie, das Ende der Durchsage abzuwarten. Dann erklärt sie, warum sie hier ist. Es fallen die Worte „Demokratie“, „Angst“ und „Zukunft“. Nach dem Interview bedankt sich der Journalist. Im Vorbeigehen steckt ein weiterer Demonstrant eine gelbe Rose an das Stativ. Ein kleiner Farbtupfer an diesem trostlos wirkenden Ort. Mittlerweile begleitet ein böiger Wind den starken Regen. Die Naturgewalten zerren an den Regenschirmen.
Ein Kollege gesellt sich zum Videojournalisten. Die Interviewpartnerin, die mittlerweile zur Protestgruppe zurückgekehrt ist, war den beiden nicht unbekannt. Schon letztes Wochenende hatte sie deren Aufmerksamkeit erweckt. Die Polizei hatte sie am 16. Mai festgenommen und abgeführt. Mit Kabelbindern gefesselt musste die Protestierende fast 45 Minuten in der prallen Sonne auf einen Polizeibus mit Arrestzelle warten. So gut wie alle Protestierenden und etliche Journalist*innen haben die Szene fotografiert. Für die Pressevertreter*innen im Regen „schockierend“ und „unverständlich“.
Plakate mit der Aufschrift „Ende der Willkür“ würde die fragende Passantin vielleicht eher verstehen. Sie hat sich mittlerweile am Rande des Platzes positioniert und beobachtet gespannt die Entwicklungen auf dem Platz. Die Durchsage der Polizei wurde inzwischen etliche Male wiederholt, so mancher der Anwesenden mag sie schon auswendig kennen. Teilweise ertönt die Durchsage sogar von zwei Fahrzeugen gleichzeitig. Das Sprachwirrwarr scheint bei den Menschen auf dem Platz aber auf wenig Interesse zu stossen. Und auch das Dialogteam scheint mit seinen Argumenten und Hinweisen die Versammlung nicht beenden zu können. Vereinzelt sind nach den Ansagen Buhrufe und Pfiffe zu hören. Unbeirrt von Regen und Durchsagen scheinen hier alle das zu tun, wofür sie hergekommen sind. Wendet sich das Dialogteam an Protestierende, vernimmt man meist die Worte „Recht auf Meinungsäusserung“ in der Antwort.
Die Pressevertreter fotografieren, filmen und machen Interviews. Auch mit ihnen spricht die Polizei ab und zu. Letzten Samstag hatte man Kurt Pelda von der SonntagsZeitung einen Platzverweis angedroht. Ein anderer Journalist wurde von Beamten gefragt, ob er wieder vorhabe, in einem Zeitungsartikel über die Polizei herzuziehen. Auch die Medien scheinen hier nicht sonderlich willkommen zu sein. Die Grundrechte sind definitiv nicht mehr so intakt, wie sie es sein sollten.
Ein Mann mit grau meliertem Bart und feiner Kleidung unter der Regenjacke läuft über den Platz und scheint mit seinem Smartphone Livestreams zu schalten. In der Hand hält er ein kleines Ansteckmikrofon, mit dem er hier und da Interviews führt. „Daniel Stricker von Stricker TV“, verrät ein Journalist. „YouTuber. Nicht wirklich Journalist“, schickt er hinterher. Es gibt hier auf dem Platz also Journalist*innen, die im Berufsregister eingetragen sind und somit die gesetzlich geltenden Rechte der Pressefreiheit geniessen, und es gibt YouTuber. Es gibt Polizisten ohne Masken, dafür mit gelben Westen, und es gibt Polizisten mit Masken, die zum Einsatz kommen, wenn der Dialog nicht das gewünschte Ergebnis erzielt. Je länger man hier steht, desto unübersichtlicher und widersprüchlicher scheint die Lage auf dem Platz – wohl nicht nur aus der Sicht der ahnungslosen Passantin. Doch eines dürfte selbst ihr aufgefallen sein: Auf dem Sechseläutenplatz herrscht Inkonsequenz.
Es gibt Gelegenheiten, bei denen weit mehr Menschen zusammenkommen und die Abstandsregeln nicht einhalten, wie beispielsweise in etlichen Warteschlangen vor Geschäften und im öffentlichen Verkehr zu Stosszeiten. Auch dürften Protestierende, die den Sechseläutenplatz in Richtung Tramgleise verlassen, nicht mehr kontrolliert werden, da sie den Veranstaltungsort ja hinter sich gelassen haben. Es stellt sich unweigerlich die Frage, ob es hier um die Durchsetzung der Covid-Verordnung geht oder um die Unterdrückung von Kritik an der Politik. Das erkennt selbst die ältere Dame, die nun mit einigen der Anwesenden ins Gespräch gekommen ist.
So berechtigt die Anliegen der hier versammelten Menschen bezüglich Grundrecht, Meinungs- und Versammlungsfreiheit auch sind: Die härteren Gegenmassnahmen werden von der unüberschaubaren Masse an Ideologien, die von den Protestierenden zusammengeführt werden, auch provoziert. Immer wieder werden auf Plakaten und Schildern antisemitische Ressentiments genutzt, um zum Beispiel die Verfolgung der Juden im Dritten Reich mit der derzeitigen Situation zu vergleichen. Ein absolut inakzeptabler und abstossender Vergleich.
Am gegenüberliegenden Ende des Platzes, weit entfernt von der Kundgebung steht eine Gruppe von vier Personen der JUSO Zürich. Sie halten den Mindestabstand ein, tragen sogar Masken und zeigen ein Transparent, mit dem sie auf die kruden Verschwörungserzählungen hinweisen wollen, die immer wieder auf solchen Demos verbreitet werden. Auf dem Plakat der JUSO-Aktivist*innen steht „Gates enteignen – Klassenkampf statt Verschwörung“. Auch diese Botschaft scheint etwas kryptisch. Man möchte die Verschwörungstheoretiker wohl mit den eigenen Waffen schlagen.
Es ertönt eine weitere Durchsage der Polizei: „Es werden nun Uniformkräfte den Platz betreten und mit den Verzeigungen beginnen.“ Die JUSO-Aktivist*innen sind kurz vor der Durchsage interviewt worden und haben ihr Transparent mittlerweile zusammengelegt. Sie wollen gerade das Geschehen verlassen, doch die Polizei lässt sie zuvor die ganze Härte des ‚Rechtsstaats‘ spüren: Die Personalien der JUSO-Gruppe werden festgestellt, kurz darauf ist sie verschwunden. Unfern der älteren Dame wird die Frau mit dem gelockten Haar, die vor wenigen Minuten noch das Interview gegeben hat, von Bediensteten der Stadtpolizei Zürich gepackt. Auch die ältere Dame, die bisher noch unbeteiligt und friedlich war, beginnt jetzt auszurufen: „Lassen Sie die Frau los! Sie hat doch nichts gemacht. Wir sind hier in der Schweiz!“
Zwischen den Uniformen hört man eine weibliche Stimme: „Lassen Sie mich doch gehen. Ich bin schon letzte Woche drangekommen! Ich verlasse den Platz dann auch!“ Die Antwort in harschem Ton lautet: „Das hätten Sie sich früher überlegen müssen, dafür ist es jetzt zu spät.“ Wenige Minuten später wird die Frau wieder in einen Wagen mit Arrestzelle geschoben und fortgefahren.
Viele Protestierende haben sich an den Rand des Platzes zurückgezogen und glauben, der Aufforderung der Polizei nachgekommen zu sein – weit gefehlt. Die Staatsmacht möchte heute Härte demonstrieren. Eine Gruppe von sechs Beamten nähert sich der Ansammlung. Einer der Beamten beschleunigt plötzlich seine Schritte. Eine Frau mit Regenbogentasche, die nun sieht, wie ein Trupp Polizisten auf sie zumarschiert, gerät in Panik, dreht sich um und läuft, ohne auf den Verkehr zu achten, zum Eingang des Kino Corso auf der anderen Seite der Tramgleise. Das Szenario wirkt wie eine Hetzjagd. Mehrere Personen werden kurz darauf vor den Läden gegenüber des Sechseläutenplatzes von der Polizei angegangen. Wie die Polizei entscheidet, wessen Personalien sie feststellt und wen sie mitnimmt, lässt sich nicht erkennen. Ein Passant, der einige der chaotischen Szenen mit dem Smartphone filmt, sagt auf Berndeutsch: „Das ist eine Hetzjagd, das ist Willkür!“
#ZH2305 #coronademo@StadtpolizeiZH jagt Frau mit Regenbogentasche hinterher nachdem sie den Platz schon verlassen hat. #Polizeiwillkür pic.twitter.com/jSQ5C51MvX
— element (@__investigate__) May 23, 2020
Einige Journalisten sind noch vor Ort und versuchen, die vielen Vorkommnisse zu dokumentieren. Der Videojournalist, der noch inmitten des Platzes – zwischen Polizeifahrzeugen, nicht unter Demonstranten – steht, wird nun ebenfalls von mehreren Beamten angesprochen. Er zeigt seinen Presseausweis, wird anschliessend nach seiner ID gefragt. Auch die händigt er aus. Zwar scheint mit den Dokumenten alles in Ordnung zu sein, doch die Polizisten wollen, dass er die Videokamera ausschaltet, die seit dem Interview auf dem Stativ steht und die Szene am Platzrand filmt. Der Videojournalist verweigert es, die Kamera auszuschalten und macht darauf aufmerksam, dass er als im Berufsregister eingetragener Journalist die Rechtslage kenne. „Sie befinden sich in einer Polizeiaktion. Ich fordere Sie nochmals auf, die Kamera auszuschalten“, erwidert man ihm kalt. Auch Polizeiaktionen dürften aufgezeichnet werden, korrigiert der Journalist. Die Polizisten scheinen etwas ratlos und ändern ihre Taktik: „Sie sind Teilnehmer einer illegalen Veranstaltung.“ „Ich bin kein Teilnehmer“, erklärt er. Dies sei ein Ereignis von öffentlichem Interesse und als Journalist sei er berechtigt, das zu dokumentieren. „Ob die Veranstaltung bewilligt ist oder nicht, spielt da keine Rolle.“ Unbeirrt von seinen Ausführungen erteilt man ihm einen Platzverweis und droht mit einer Geldbusse.
Diese abstruse Diskussion findet erst ein Ende, als ein weiterer Beamter hinzukommt, der den Journalisten bittet, sich an den Rand des Platzes zu begeben. Er könne von dort aus weiter dokumentieren. Der Journalist bedankt sich beim einsichtigen Ordnungshüter und geht dessen Wunsch nach, auch wenn der Platz mittlerweile sowieso leer ist. Einige Polizisten sind noch immer vor dem Kino Corso damit beschäftigt, Personalien aufzunehmen. Viele Schaulustige scheinen ratlos und erschrocken über die Polizeimassnahme. „Ich schaue mir das hier nächsten Samstag wieder an“, sagt ein älterer Herr. Ob als Schaulustiger oder als Protestierender, verrät er nicht.
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