Angefangen hat das Datendebakel mit der Zahl 190’000. In einer Medienmitteilung zu den coronabedingten Überbrückungskrediten für die Luftfahrt kommunizierte das Eidgenössische Finanzdepartement anfänglich Folgendes: „Gemessen an Vollzeitstellen beschäftigt die Luftfahrtbranche mehr als 190’000 Mitarbeitende in der Schweiz.“ Dabei arbeiten bei den Airlines, auf den Flughäfen und in der Flugsicherheit laut dem Bundesamt für Statistik lediglich rund 21’000 Menschen. Verglichen mit anderen Branchen, wie zum Beispiel der Gastrobranche, die direkt 120’000 Personen beschäftigt, ist das nichts.
Die total überrissene Zahl kam dadurch zustande, dass die Behörden neben den direkt Beschäftigten auch noch Stellen dazurechneten, die in andere Branchen fallen und über sogenannte indirekte, katalytische und induzierte Effekte entstehen. Als Reaktion auf die Recherche von das Lamm passte das Eidgenössische Finanzdepartement die Formulierung an. Doch nicht stark genug: In der Medienmitteilung steht nämlich weiterhin, dass die durch den privaten Flugverkehr direkt und indirekt ausgelöste Wertschöpfung ca. 190’000 Arbeitsplätze betreffen würde. Und dieses Aufbauschen ist kein Einzelfall.
Die Botschaft gaukelt dem Parlament eine zu grosse Flugbranche vor
Dies zeigt sich eindrücklich in der bundesrätlichen „Botschaft zu einer dringlichen Änderung des Luftfahrtgesetzes angesichts der COVID-19-Krise“, die der parlamentarischen Diskussion zur Vergabe der Corona-Kredite an die Flugbranche zugrunde lag. In der Botschaft, für welche das Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) verantwortlich ist, stehen in der Beschreibung der Ausgangslage folgende drei Zahlen:
- „Mehr als ein Drittel aller Exporte, bezogen auf den Wert der Waren, verlassen die Schweiz per Luftfracht.“
- „Gemäss einer Berechnung, die im Rahmen der Erarbeitung des Berichts […] über die Luftfahrtpolitik der Schweiz erstellt wurde, generiert der private Flugverkehr direkt und indirekt eine Wertschöpfung von rund 30 Milliarden Franken pro Jahr.“
- „Für rund 70 Prozent der Schweizer Unternehmen ist die Abwicklung von Luftfracht eine wichtige Grundvoraussetzung.“
Alle drei Aussagen sind irgendwo zwischen tendenziös, irreführend und falsch anzusiedeln.
Zu Punkt Nummer eins: Laut der eidgenössischen Zollverwaltung machten 2019 die Flugexporte wertmässig tatsächlich viel aus. Nämlich nicht nur 30, sondern gar 50 Prozent. Was jedoch zur Einordnung dieser Zahl auch wichtig wäre: Mengenmässig bringen die Exporte via Luftfracht nur gerade etwa ein Prozent aller Schweizer Exporte auf die Waage (das Lamm berichtete). Bei einer so kleinen Menge könnte Potenzial vorhanden sein, einen Teil der Flugfracht auf Züge, LKWs und Schiffe zu verlagern – je nachdem, was transportiert wird und wohin die Exporte gehen. Die einseitige Nennung des wertmässigen Anteils suggeriert hingegen, dass dies kaum möglich sei.
Total aufgeblasene Wertschöpfung
Die zweite Aussage ist so, wie sie hier steht, falsch. Denn die Flugbranche generiert laut dem luftfahrtpolitischen Bericht (Lupo) die 30 Milliarden Wertschöpfung nur zum Teil durch direkte und indirekte Effekte. Mehr als die Hälfte stammt aus induzierten und katalytischen Effekten. Den 30 Milliarden Franken Wertschöpfung liegt also dieselbe problematische Berechnungsmethode zugrunde wie den zuvor vom eidgenössischen Finanzdepartement kommunizierten Arbeitsplatzzahlen.
Direkt generiert die Luftfahrt nur rund acht Milliarden Franken, wobei hier die Wertschöpfung der Restaurants und Geschäfte auf dem Flughafenareal miteinberechnet wird, obwohl diese ja eigentlich nicht in der Flugbranche, sondern in der Gastrobranche und dem Detailhandel anfällt. Indirekt, also über Betriebe, die die Flugbranche beliefern, generiert die Luftfahrt laut Lupo nochmals knapp vier Milliarden Franken. Somit sind noch 18 von den 30 Milliarden Franken übrig, die allesamt über katalytische und induzierte Effekte zusammenkommen und somit klar ausserhalb der Flugbranche erwirtschaftet werden. Zum Beispiel, wenn die PilotInnen und FlugbegleiterInnen ihr Geld beim Friseur, im Fitnessstudio oder beim Bäcker ausgeben oder weil die eingeflogenen TouristInnen in der Schweiz einkaufen.
„Würden alle Branchen so rechnen, erhielte man ein drei bis viermal so hohes Bruttoinlandprodukt, als wir es tatsächlich in der Schweiz haben“, meint Reto Föllmi, Volkswirtschaftsprofessor an der Hochschule St. Gallen, dazu.
Zudem hat das BAZL wertschöpfungsmindernde Effekte in der Berechnung der 30 Milliarden Franken nicht berücksichtigt. So verursacht der Flugverkehr laut dem Bundesamt für Raumentwicklung nämlich jedes Jahr eine Milliarde Franken externe Kosten, die nicht über die Flugtickets, sondern von der Allgemeinheit bezahlt werden müssen: beispielsweise Gesundheitskosten, die infolge anhaltender Lärmbelastung in Flughafennähe anfallen oder Infrastrukturkosten, die wegen der Klimaerhitzung entstehen. Ausserdem bringen die Flugzeuge mehr Schweizer Urlaubsgeld nach Bali, London und Berlin, als dass sie Touristenfranken aus dem Ausland einfliegen.
Beide Effekte wirken sich negativ auf die angeblich 30 Milliarden Wertschöpfung aus. Miteingerechnet wurden sie vom BAZL jedoch nicht. „Bei einer Wertschöpfungsberechnung wird immer nur der wirtschaftliche Nutzen und damit der Beitrag […] an eine Volkswirtschaft ausgewiesen“, begründet man die einseitige Berechnungsmethode beim Bundesamt.
Auch die dritte Zahl war falsch. Folgen hat das trotzdem keine
Schliesslich entpuppte sich auch die dritte Zahl in der Botschaft des Bundesrates an die ParlamentarierInnen bei genauerem Hinsehen als klar falsch. Eine Quellenangabe für die „70 Prozent der Schweizer Unternehmen“ sucht man in der Botschaft vergebens und das BAZL wollte uns wegen einer laufenden Interpellation mit derselben Fragestellung nicht verraten, woher die Zahl stammt. Erst in der bundesrätlichen Fragestunde (Seite 46) im Rahmen der aktuellen Session wurde das Rätsel dann gelöst.
Die Zahl stammt aus einer Studie der Hochschule St. Gallen. Nur: Diese Studie untersuchte nicht, wie wichtig die Luftfracht für alle Schweizer Unternehmen ist, sondern führte lediglich eine „Befragung von Empfängern und Versendern von Luftfracht sowie von Logistikdienstleistern“ durch. Dass die meisten der StudienteilnehmerInnen sagten, die Luftfracht sei für sie wichtig, wenn alle Befragten die Luftfracht sowieso schon regelmässig nutzten, erstaunt kaum. Die Aussage auf alle Schweizer Unternehmen auszudehnen, ist weder logisch noch zulässig. Die Aussage ist so, wie sie in der Botschaft steht, schlicht falsch. Das musste nun auch der Bundesrat zugeben: „Sans cette précision, cette donnée est incorrecte et doit être relativisée.“
Das dürfte eigentlich nicht passieren. Denn laut Felix Uhlmann, Professor am Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Zürich, ist die bundesrätliche Botschaft das zentrale Dokument im Rahmen der parlamentarischen Gesetzgebung. Trotzdem sucht man vergebens nach einer Pflicht zur Quellenangabe oder einer zentralen Stelle, welche die in der Botschaft kommunizierten Daten kontrolliert. „Die Botschaft ist die eigentliche Quelle“, sagt Uhlmann, „und bündelt das gesammelte behördliche Wissen“. Eigentlich gehe man grundsätzlich davon aus, dass die Informationen, die in einer Botschaft drinstehen, auch richtig seien. In der Botschaft zu den Corona-Krediten an die Flugbranche war das nicht so. Uhlmanns Antwort auf die Frage, was denn passiere, wenn man im Nachhinein feststelle, dass die gelieferte Datenbasis fragwürdig war, ist so einfach wie ernüchternd: „Nichts.“
Ein Drittel aller bundesrätlichen Botschaften waren mangelhaft
Dabei ist die Botschaft zu den Corona-Krediten an die Flugbranche kein Einzelfall. Auch andere Botschaften lagen schon daneben. Dies zeigt ein Bericht der eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) aus 2016. Darin hat die EFK rund 50 Botschaften des Bundesrates analysiert, um herauszufinden, wie gut die Bundesämter die Folgen von Gesetzesentwürfen abschätzten und in den Botschaften kommunizierten. Das Ergebnis war enttäuschend, denn die Untersuchungen ergaben, dass „bis zu 30 % der Botschaften den festgelegten Standards der EFK nicht genügen“.
Dabei regelt der Artikel 141 des Parlamentsgesetzes ziemlich klar, was alles in einer Botschaft stehen muss. Neben den personellen Auswirkungen eines Gesetzesentwurfs auf die Behörden oder den Folgen für die Wirtschaft muss in den Botschaften seit 2012 auch eine Folgeabschätzung für die Bereiche Umwelt und Gesellschaft gemacht werden. Hier fiel das Resultat der EFK jedoch noch ernüchternder aus. Nur ein Drittel der nach 2013 erstellten Botschaften hat hier die Mindestanforderungen erreicht.
Auch die Botschaft zu den Corona-Krediten an die Flugbranche wäre bei der Analyse der EFK wahrscheinlich durchgerasselt. Denn im Absatz zu den möglichen Folgen für die Umwelt und die Gesellschaft ist lediglich dies zu lesen: „Es ist offensichtlich, dass in den Bereichen Gesellschaft und Umwelt […] von dieser Vorlage keine direkten Auswirkungen zu erwarten sind; die entsprechenden Fragen wurden daher nicht geprüft.“
Es ist klar, dass bei dem Tempo, das bei der Bewilligung der Kredite angeschlagen wurde, wohl keine detaillierte Folgeabschätzung möglich gewesen wäre. Da jedoch rund ein Fünftel der Schweizer Klimagase aus dem Flugverkehr stammen und jedeR ihr jährliches CO2-Budget bereits mit einem Langstreckenflug sprengt, liegt diese Folgeabschätzung deutlich daneben.
Ohne grossen Rechercheaufwand hätte man zudem auf den Zusammenhang zwischen den Corona-Krediten und der anstehenden Revision des CO2-Gesetzes hinweisen können. Dort wird nämlich über klimapolitische Massnahmen wie beispielsweise die Flugticketabgabe debattiert werden – was die Flugbranche finanziell belasten würde. Neuerdings werden solche Massnahmen jedoch nicht nur die Gewinne der Branche schmälern, sondern auch das Risiko erhöhen, dass die Airlines das Geld der Schweizer Gesellschaft nicht werden zurückzahlen können.
Kennt das BAZL seinen Auftrag?
Wieso also steht in der Botschaft lediglich, dass die Vergabe dieser Milliarden-Kredite offensichtlich keinen Einfluss auf die Umwelt haben würden? Und wieso ist die in der Botschaft gelieferte Informationsbasis so miserabel? Klar, es musste schnell gehen. Aber dies dürfte nicht der einzige Grund gewesen sein. Der Bericht der EFK über die Qualität der bundesrätlichen Botschaften weist nämlich noch auf eine andere Schwierigkeit hin: „Tatsächlich befinden sich die Ämter, die einen Entwurf im Rahmen einer Botschaft stützen möchten, in einer schwierigen Situation. Sie müssen die Massnahmen objektiv und transparent vorstellen, obwohl die Ergebnisse der Folgenabschätzung für ihren Entwurf negativ ausfallen können.“
In anderen Worten: Wieso soll das für die Botschaft zuständige BAZL eine seriöse Abschätzung von möglichen negativen Folgen des Gesetzesentwurfs vornehmen, wenn es ja eigentlich die Kredite für die Airlines durchboxen möchte? Die richtige Antwort würde wohl lauten: weil das BAZL nicht zur Fluglobby, sondern zur Verwaltung gehört. Aber angesichts des offensichtlich einseitig geschönten Kommunikationsstils des BAZL scheint es momentan fragwürdig, ob man sich dieser Position beim BAZL noch bewusst ist.
Vielleicht sollten sich die LuftfahrtbeamtInnen wieder einmal ihre eigene Webseite anschauen. Unter der Rubrik Aufgaben steht dort nämlich Folgendes: „Das Bundesamt für Zivilluftfahrt ist für die Aufsicht über die zivile Luftfahrt in der Schweiz und die Luftfahrtentwicklung zuständig. Es ist dafür verantwortlich, dass die Zivilluftfahrt in der Schweiz ein hohes Sicherheitsniveau aufweist und eine nachhaltige Entwicklung verfolgt.“ Dass es nicht zu den Aufgaben des BAZL gehört, die Flugbranche so wichtig wie nur irgendwie möglich darzustellen, scheint man beim Bundesamt nicht auf dem Schirm zu haben.
Die ParlamentarierInnen sind gut beraten, die Informationen, die ihnen in den kommenden Sessionen zum Thema Luftfahrt serviert werden, genau unter die Lupe zu nehmen.
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