Die Flug­branche hat noch ein ganz anderes Corona-Problem

Die Probleme mit den leeren Flug­häfen und den geschlos­senen Grenzen tragen die Airlines gerne öffent­lich aus. Ein anderes Corona-Problem wird hingegen lieber ein wenig diskreter besprochen. 
Symbolbild (Foto: Artur Tumasjan / Unsplash)

2020 ist für die Flug­branche ein Jahr zum Vergessen. Viele Flug­zeuge sind immer noch am Boden, die Stim­mung ist im Keller, auch wenn der Staat gerade entschieden hat, kräftig auszu­helfen. Und jetzt kommt noch ein weiteres Problem hinzu. Eines, dass sich die Branche ganz allein einge­brockt hat – und an dessen Lösung sie in den Hinter­zim­mern unter Hoch­druck arbeitet.

Die Flug­branche ist nämlich die erste Branche mit einem welt­weiten Klima­pro­gramm. „Carbon Offset­ting and Reduc­tion Scheme for Inter­na­tional Avia­tion“ nennt sich das inter­na­tio­nale Abkommen. Kurz: CORSIA. Und darauf ist die Branche eigent­lich mächtig stolz, wie sich in fast jeder Diskus­sion zeigt, in der die Luft­fahrt in Kritik gerät.

Jüngst zum Beispiel bei den parla­men­ta­ri­schen Diskus­sionen um die Corona-Kredite an die Flug­branche. Thomas Hurter, Natio­nalrat (SVP) und Präsi­dent von Aero­su­isse, dem Dach­ver­band der schwei­ze­ri­schen Luft- und Raum­fahrt, entgeg­nete dort auf ein Votum der grünen Natio­nal­rätin Mari­onna Schlatter: „Frau Schlatter, bitte! Sie sagen, die Luft­fahrt bezahle nichts, entrichte keine Abgaben. Entschul­di­gung, aber das ist einfach Mist! Die Swiss hat in den letzten Jahren acht Milli­arden Franken für neue Flug­zeuge einge­setzt. Wir bezahlen an das EU-ETS, wir bezahlen Lärm­ge­bühren, wir bezahlen für das Carbon Offset­ting and Reduc­tion Scheme for Inter­na­tional Avia­tion (CORSIA). Übri­gens ist die Luft­fahrt die einzige Branche welt­weit, die ein inter­na­tio­nales Abkommen hat; das hat sonst keine andere Branche!“

Wie funk­tio­niert CORSIA?

Das klingt zunächst nach viel. Aber: Das Euro­päi­sche Emis­si­ons­han­dels­sy­stem (EU-ETS) ist viel zu lasch, wie dieses Posi­ti­ons­pa­pier von sechs Umwelt­schutz­or­ga­ni­sa­tionen von 2019 zeigt. Zerti­fi­kate, welche die Airlines erstei­gern müssen, sind lächer­lich billig. Und erst­mals abge­rechnet wird erst 2021, wie das Bundesamt für Zivil­luft­fahrt (BAZL) gegen­über das Lamm bestä­tigt. Und auch für das welt­weite CORSIA-Programm hat bis jetzt noch keine Airline auch nur einen Rappen bezahlt.

Zwar verpflichten sich die Airlines der teil­neh­menden Staaten im Rahmen von CORSIA zu Kompen­sa­ti­ons­zah­lungen, falls sie mehr als die verein­barte Menge CO2 ausstossen. Doch auch diese Zahlungen setzen erst 2021 ein – zunächst noch auf frei­wil­liger Basis. Erst ab 2027 sind sie verbind­lich. Aber auch dann werden die Airlines bei weitem nicht all ihre Emis­sionen kompen­sieren. Denn CORSIA strebt nicht eine klima­neu­trale Flug­branche, sondern ein klima­neu­trales Wachstum der Flug­branche an. Tatsäch­liche Reduk­tionen sind neben den Kompen­sa­ti­ons­zah­lungen vorerst keine vorgesehen.

Auch CORSIA ist also ziem­lich lasch. Und das ist kein Wunder, denn das Programm stammt aus der Feder der Inter­na­tional Civil Avia­tion Orga­ni­sa­tion (ICAO), also der Inter­na­tio­nalen Zivil­luft­fahrt­be­hörde der UNO. Dieses Gremium für die Ausar­bei­tung eines Klima­schutz­kon­zeptes für die Flug­branche verant­wort­lich zu machen – das ist, wie wenn man hier­zu­lande das BAZL mit der Ausar­bei­tung eines Klima­plans für die Luft­fahrt betrauen würde. Dass dabei nichts Schlaues heraus­kommen würde, hat das BAZL in der jüng­sten Vergan­gen­heit mehr­mals bewiesen.

So weit, so gut also für Hurter und Co. In den Teppiche­tagen der Branche hat man sich wohl ins Fäust­chen gelacht ob dieses cleveren Schach­zugs, natio­nalen klima­po­li­ti­schen Mass­nahmen mit einem bran­chen­ei­genen, harm­losen Abkommen, das gar noch das UN-Siegel trägt, zuvor­ge­kommen zu sein.

In den letzten Monaten sind bei uns mehrere Artikel über die Luft­fahrt in Corona-Zeiten erschienen. Hier eine Übersicht:

Aber sie haben sich zu früh gefreut. Und damit zurück zum neusten Problem der Branche: Die Stich­jahre, die der Berech­nung der „erlaubten“ Menge CO2-Emis­sionen zugrunde liegen, sind nämlich 2019 und 2020. Ja, das Jahr von Corona. Das Jahr mit den kondens­strei­fen­freien Himmeln. Die Klima­gas­emis­sionen aus dem Flug­ver­kehr werden 2020 coro­nabe­dingt histo­risch klein ausfallen. Die Grenze, ab welcher die Airlines über CORSIA Kompen­sa­ti­ons­zah­lungen leisten müssten, wird also viel tiefer liegen als geplant.

IATA empfiehlt das Jahr 2020 aus Klima­schutz­gründen zu streichen

CORSIA könnte die Branche also deut­lich teurer zu stehen kommen als ursprüng­lich geplant. CORSIA könnte tatsäch­lich zu grif­figen Kompen­sa­ti­ons­zah­lungen führen. Das hatten sich die Verant­wort­li­chen wohl anders vorgestellt.

Laut dem Luft­fahrt­ma­gazin airliners.de soll deshalb an der laufenden Sitzung des Rates der Inter­na­tio­nalen Zivil­luft­fahrt­or­ga­ni­sa­tion vom 8. bis 26. Juni in Mont­real über eine Anpas­sung von CORSIA verhan­delt werden. Der Inter­na­tio­nale Airline-Verband IATA, also der welt­weite Dach­ver­band der Flug­ge­sell­schaften, möchte das Jahr 2020 am lieb­sten ganz aus der Base­line strei­chen, um so das Abkommen wieder zu schwä­chen. Aber wie soll man das denn der Öffent­lich­keit begründen? Logisch. Mit dem Klimaschutz.

Die Argu­men­ta­tion: Wich­tige Länder wie Brasi­lien, Indien, China oder Russ­land hätten noch nicht zuge­sagt, bei der nun anste­henden frei­wil­ligen Pilot­phase ab 2021 mit dabei zu sein. Würden die Kompen­sa­ti­ons­zah­lungen nun nach oben schnellen, würde das die Bereit­schaft, der noch nicht teil­neh­menden Länder kaum erhöhen. Die IATA schreibt dazu: „States may be less inclined to volun­teer for CORSIA and indeed current volun­teers may recon­sider their earlier decis­ions.“ Und das würde dem Klima schluss­end­lich mehr schaden als nützen, so die IATA.

Bei CORSIA fehlt die Klimagerechtigkeit

Und irgendwie hat die IATA damit natür­lich sogar recht. Doch bereits vor Corona waren Länder mit einer zwar noch eher kleinen, aber nun schnell wach­senden Flug­branche kritisch gegen­über CORSIA. Zum Teil aus berech­tigten Gründen, denn während west­liche Länder mit dem Konzept CORSIA die bereits vorhan­denen Sockel­emis­sionen auch nach 2021 weiterhin gratis verbal­lern dürfen, werden sie für jeden Zuwachs ihrer Branche bezahlen müssen. Auch wenn ihre Emis­sionen noch weit unter denen der west­li­chen Länder liegen werden. Brasi­lien, Indien, China oder Russ­land fragen sich deshalb zurecht, weshalb sie mit ihrer Flug­branche nicht erst auf das Niveau von euro­päi­schen Ländern anwachsen dürfen, bevor sie kompen­sieren müssen. Und aufgrund der neusten Entwick­lungen dürfte ihr Inter­esse an CORSIA sicher nicht gewachsen sein.

Kurz: Damit CORSIA tatsäch­lich je als globales Abkommen umge­setzt werden kann, muss es entweder gerechter sein – oder so zahnlos sein, dass es sich auch die unge­recht behan­delten Länder leisten wollen, mit dabei zu sein. Deshalb stellt sich die Frage, ob CORSIA dem Klima über­haupt etwas bringt oder nicht.

CORSIA als poli­ti­sches Druckmittel

Denn CORSIA ist nicht nur sehr lasch, sondern auch so ausge­staltet, dass es von der Flug­branche dazu einge­setzt werden kann, sich vor anderen, ambi­tio­nier­teren Instru­menten zu drücken. So hat die Inter­na­tio­nale Zivil­luft­fahrt­or­ga­ni­sa­tion 2019 an einer Versamm­lung der Mitglied­staaten beschlossen, dass CORSIA das einzige markt­ba­sierte System sein soll, zu welchem sich die Luft­fahrt verpflichtet.

Dieser Beschluss passt frei­lich so gar nicht mit dem klima­po­li­ti­schen Kurs der EU in Sachen Luft­fahrt zusammen. Denn in der EU (und auch in der Schweiz) ist die Flug­branche zusätz­lich zu CORSIA eben auch dazu verpflichtet, am euro­päi­schen Emis­si­ons­handel teil­zu­nehmen. Die euro­päi­sche Flug­branche sieht das als unge­recht­fer­tigte Doppel­be­la­stung. Die EU will laut einer Meldung der Nach­rich­ten­agentur Reuters aber trotz CORSIA-Start an diesem Weg fest­halten. Die Airlines werden wohl massiv dagegen lobby­ieren. Und dabei mit Sicher­heit einmal mehr ins Feld führen, das die Luft­fahrt die erste Branche mit einem welt­weiten Klima­schutz­ab­kommen sei.


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