Dass Raclette und Sauergemüse im Winter bei uns so hoch im Kurs stehen, hat nicht nur kulinarische, sondern historisch gesehen auch praktische Gründe. In der vorindustriellen Schweiz gab es während der kalten Jahreszeit weder genügend Viehfutter für eine intensive Milchproduktion noch laufenden Nachschub an frischem Gemüse aus den Gewächshäusern Spaniens. Deshalb war es wichtig, die Kalorien des Sommers in den Winter hinein lagern zu können.
Eine zentrale Rolle spielte dabei das Verkäsen der Milch. Damit konnte die in der Milch gespeicherte Energie für den Winter haltbar gemacht werden. Zwiebeln, Gurken und Co. wurden frisch gehalten, indem man sie sauer einlegte. Milch und Gemüse konnten so auch genossen werden, wenn draussen Schnee lag, die Felder längst abgeerntet und die Kühe im Stall waren.
Beim sauer eingelegten Gemüse ging es aber nicht nur darum, die Bäuche vollzukriegen, sondern auch um die Gesundheit: Über die langen Winter konnten Vitamine zur Mangelware werden. In eingelegtem oder fermentiertem Gemüse bleiben die Vitamine jedoch grösstenteils erhalten. Vitamine in Form der heute so beliebten Maiskölbchen dürften in der Schweiz jedoch frühestens ab dem 17. Jahrhundert aus dem Essig gefischt worden sein; die Pflanze stammt ursprünglich aus Südamerika.
Alte Tradition made in India
Essiggemüse nimmt also neben Cervelat und Schabziger einen ganz besonderen Platz auf der historisch-kulinarischen Speisekarte der Schweiz ein. Umso grösser war unser Erstaunen, als wir vor einigen Monaten bei einem Einkaufsbummel in der Migros um die Ecke das Etikett eines dieser Maiskölbchengläser genauer betrachteten: Die gelbe Köstlichkeit wurde nicht etwa aus dem Aargau, sondern aus Indien importiert. Die Kölbchen haben also mehr als 8’000 Kilometer zurückgelegt, bevor ich sie für das nächste Raclette in den Einkaufswagen legen konnte.
Und nicht nur die Maiskölbchen der Migros reisen weit. Auch die von Denner, Aldi und Coop wachsen auf Feldern in Indien. Nur der Mais in den Gläsern der Marke Chirat legt etwas weniger Kilometer zurück: Er kommt aus der Türkei.
Wachsen die Maiskölbchen im indischen Klima besser? Gäbe es zwischen den Alpen und dem Himalaya keine näheren Felder für unsere Raclettebeilage? Wir haben bei den grössten Verteilern nachgefragt, weshalb sie ihre Maiskölbchen nicht von weniger weit weg in die Schweizer Läden holen. Zuerst bei der Migros. Und zwar mit dem auf dem Einkaufsbummel entstandenen Bild via Instagram:
Der orange Riese schreibt uns auch auf Instagram zurück:
Guten Morgen
Es gäbe schon Produzenten, welche näher an Europa dran sind. Das Problem ist aber, dass die Länder kleine Mengen produzieren und damit meist den Eigenbedarf decken. Somit können sie die internationale Nachfrage nicht decken.
Für die Versorgung über eine lokalere Produktion essen wir also zu viele Maiskölbchen. Deshalb wollten wir von der Migros wissen, ob es nicht eine Option wäre, selber einen näherliegenden Anbau aufzuziehen. Die Antwort hat eine humoristische Note:
Eine solche Produktion in der benötigten Menge würde sich nicht rentieren. Die Migros ist im internationalen Vergleich ein kleiner Player, weshalb wir kostentechnisch ganz weit weg wären von dem, was wir jetzt anbieten.
Die Nachfrage nach Maiskölbchen ist laut der Migros also gerade zu gross, um lokaler befriedigt werden zu können, aber auch zu klein, um den Aufbau einer eigenen Produktion rentabel zu gestalten. Damit wendet die Migros das zentrale Argument der ersten Antwort um 180 Grad.
Coop weicht mehrmals aus
Auch bei Coop, Aldi und Denner haben wir per Mail nachgefragt:
Guten Tag
Ich schreibe an einem Artikel über saure Maiskölbchen und hätte eine Frage an Sie. Die Maiskölbchen kommen ja von Indien. Sie müssen also etwa 8’000 Kilometer weit reisen, bevor sie bei uns im Laden stehen. Würden solche Maiskölbchen nicht auch weniger weit weg wachsen?
Vielen Dank für eine kurze Antwort und liebe Grüsse
Dazu hat Coop Folgendes zu sagen:
Guten Tag
Gerne beantworten wir Ihre Anfrage wie folgt:
Die betreffenden Maiskölbchen sind nach Fairtrade-Standards gehandelt. Damit leistet Coop einen Beitrag für faire Preise und Arbeitsbedingungen für die Produzenten in Indien.
Mit freundlichen Grüssen
Coop
Fair ist zwar sicher besser als unfair. Die Frage, ob die Maiskolben nicht weniger weit weg angepflanzt werden könnten, beantwortet Coop damit aber nicht. Und auch nach weiteren Mails erhalten wir darauf keine Antwort. Ob Coop uns keine Auskunft geben will oder kann, bleibt offen. Schliesslich rät man uns Folgendes: „Bitte wenden Sie sich hierfür an eine Fachperson.“
Was wir auch machen. Die nächste Mail geht an das Kompetenzzentrum für landwirtschaftliche Forschung des Bundes, Agroscope. „Selbstverständlich könnten diese Maiskölbchen in der Schweiz produziert werden“, schreibt uns die Kommunikationsabteilung auf die Frage, ob man die kleinen Kolben theoretisch auch bei uns anbauen könnte. Dass dies nicht geschehe, sei lediglich eine Frage der Produktionskosten und ‑auflagen und der Konsumentenpreise. Denn bei Pestizideinsatz, Löhnen und Sozialauflagen würden in Indien schlicht tiefere Standards gelten als in der Schweiz.
Und auch vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau erhalten wir eine ähnliche Antwort. Lucius Tamm, Leiter des Departements Nutzpflanzenwissenschaften, meint dazu: „Es wäre sicher möglich, die Maiskolben bei uns zu produzieren, aber ich vermute, dass viel Handarbeit involviert ist.“ Handarbeit, die in der Schweiz wohl um einiges teurer wäre als in Indien. Unter anderem weil in der Schweiz jede Arbeitskraft ein Anrecht auf ein paar Wochen Ferien, eine Unfallversicherung und eine Altersvorsorge hat.
Die Rechnung ist also einfach: Je besser die Arbeitsbedingungen und je strenger die Auflagen, die den Einsatz von Pestiziden regeln, desto teurer wird das Maiskölbchenglas. Oder wie es die Migros formulierte: desto weiter weg wäre man kostentechnisch von dem, was man jetzt anbiete. Dass der Preis der wahre Grund ist, weshalb man die Maiskölbchen nicht in der Schweiz anbaut, liegt auf der Hand. Deutlich aussprechen will man das aber weder bei Coop noch bei der Migros.
Auch bei Denner und Aldi geht es um den Preis
Etwas weniger Hemmungen, das eigentlich Offensichtliche zuzugeben, scheint man bei Denner und Aldi zu haben. Gerade bei den Maiskölbchen der Denner-Eigenmarke sei das Preis-Leistungs-Verhältnis ein wichtiges Kriterium, schreibt der Discounter. Dies, weil sie zum sogenannten „Preis-Einstiegs-Segment“ gehören würden. Zwar hätten Schweizer Produkte grundsätzlich Vorrang. Aber: „Gibt es keinen Anbieter, der in puncto Liefersicherheit, Qualität und Preis/Leistung die Kriterien erfüllt, suchen wir Alternativen im Ausland.“ Zweifellos gebe es näher gelegene Produzenten. Nur erfülle keiner die oben erwähnten Kriterien, schreibt uns Denner.
Seit Februar ist unsere Redaktorin mit einer tiefgreifenden Recherche beschäftigt. Das Thema: Sauer eingelegte Maiskölbchen. Denn an der Raclette-Beilage zeigt sich mehr Globalpolitik, als man meinen würde. Entstanden ist eine dreiteilige Serie:
Teil 1: Eine der wichtigsten Raclettebeilagen kommt mehrheitlich aus Indien. Wir haben bei den Läden nachgefragt, wieso das so ist.
Teil 2: In Indien kommen Pestizide zum Einsatz, die zwar in der Schweiz hergestellt werden, deren Anwendung hierzulande aber verboten ist. Landen diese Giftstoffe auch auf den Maiskölbchen-Felder?
Teil 3: Es gibt sie auch in Fairtrade. Aber genügt das?
Und auch bei Aldi sei der Hauptgrund für die Lieferantenwahl stets das Preis-Leistungs-Verhältnis. Wobei auf der Seite der Leistungen auch „Aspekte wie Qualität, Nachhaltigkeit sowie mögliche Zertifizierungen“ eine Rolle spielen würden. Ein Fairtrade-Signet sucht man auf den Aldi-Gläsern aber trotzdem umsonst. Und eine lokalere Produktion wäre sicher nachhaltiger.
Die Umweltschutzauflagen, die wir uns für unsere eigene Natur geben, und die sozialen Mindeststandards, die wir in unseren eigenen Anstellungsverträgen lesen wollen, scheinen den Maiskölbchenanbieter:innen und ‑käufer:innen zu teuer zu sein. Wir alle wollen sauberes Trinkwasser und eine garantierte Anzahl Wochen Ferien im Jahr. Dennoch sind wir offensichtlich nicht bereit, für unser Essen einen Preis zu bezahlen, der anderen genau das ermöglichen würde. Und auch die Detailhändler produzieren lieber dort, wo weder Umweltauflagen noch Arbeitsschutz die Rendite stören: in Indien.
Klimaverträgliche Vitamine
Die klimatischen Bedingungen sind also nicht der Grund, weshalb die Detailhändler das ganze Jahr über Erdöl verbrauchen, um die gelben Köstlichkeiten aus 8’000 Kilometern Entfernung her zu schippern.
Schon dass Frischgemüse dank des billigen Erdöls aus Spanien, Italien oder sogar Chile eingefahren wird, ist ökologischer Schwachsinn. Wird jedoch gar eingelegtes Gemüse um die halbe Welt geschifft, geht dabei nicht nur der eigentliche Sinn und Zweck des Einmachens flöten, sondern auch noch mehr Erdöl. Denn die Kolben wandern laut Coop, Migros, Aldi und Denner bereits in Indien in den Essig.
Zusätzlich zum Gewicht der Maiskölbchen muss also auch noch das Gewicht von Glas und Flüssigkeit transportiert werden. Doch auch wenn die Kölbchen erst in der Schweiz eingelegt werden würden, wäre das wenig sinnvoll. Denn dann müssten die Maiskölbchen gekühlt transportiert werden. Was auch wieder zusätzliche Energie verschwenden würde. Die Quintessenz ist: Der Sinn von eingemachtem Gemüse war es, Vitamine vom Sommer in den Winter zu transportieren, nicht von Indien in die Schweiz.
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