Das Gros der eingelegten Maiskölbchen in unseren Supermarktregalen wird in Indien angebaut – also 8’000 Kilometer weit entfernt. Wie die Detailhändler diese lange Reise rechtfertigen und wieso diese Rechtfertigung nicht ganz aufgeht, darüber haben wir bereits berichtet. Immerhin: Ein Teil der hier verkauften Maiskölbchen aus Indien trägt das Fairtrade-Label von Max Havelaar, und fair ist sicherlich besser als unfair. Aber ist Fairtrade tatsächlich schon fair?
Um diese Frage beantworten zu können, machen wir uns auf die Suche nach den Produzent:innen. Denn die werden uns diese Frage wohl am besten beantworten können. Wir wenden uns dafür an Migros und Coop – und erhalten tatsächlich auch prompt Antwort. Drei verschiedene Farmen bauen für die beiden grössten Detailhändler Maiskölbchen an: die Hemavathi Agro Producer Company Limited, die Purvik Farmers Producer Company Limited und die Maiskölbchen-Kooperative Golden Indian Village Farm.
Die Farmen sind auch auf der Webseite von Max Havelaar öffentlich gelistet. Und dort leicht auffindbar dank eines spezifischen Fairtrade-Codes, der zum Teil sogar auf die Maiskölbchengläsern gedruckt wird. So viel Transparenz: Das macht einen guten Eindruck, denken wir uns und stellen uns, anders als erwartet, schon einmal auf eine leichte Recherche ein.
Doch das, was dann folgt, ist alles andere als leicht. Denn: Migros und Coop nennen uns zwar die Namen ihrer Produzent:innen – aber keine Kontaktdaten. Die Mediensprecherin der Migros meint, dass ihr die Mailadresse der Maiskölbchenfarmen gar nicht bekannt sei. Die Frage, wie sie denn unter diesen Umständen mit ihren eigenen Lieferant:innen kommuniziere, bleibt indes unbeantwortet.
Stattdessen sendet sie uns eine Reportage aus dem Migros-Magazin von 2015 zu, in welcher darüber berichtet wird, wofür die Bauern und Bäuerinnen der Golden Indian Village Farm die ihnen zukommende Fairtrade-Prämie einsetzten. „Geplant sind eine mobile Krankenstation und ein WC für die Dorfschule“, heisst es da.
Andere Berichte über Fairtrade-zertifizierte Produktionsstandorte erzählen ähnliche Geschichten. 2016 hatte Max Havelaar eine Medienreise nach Kenia organisiert, damit sich die mitgereisten Journalist:innen vor Ort ein Bild von den Vorteilen der Fairtrade-Produktion von Rosen machen können. Entstanden ist eine Reportage in der Gratiszeitung 20 Minuten. „Ich konnte mir Bett und Matratze leisten“, wird eine Rosenpflückerin darin zitiert. Auf Kredit. Alles dank Fair Trade.
Und die lobende Darstellung des Fairtrade-Labels geht noch weiter: Die Arbeiter:innen hätten mit der Zertifizierung auch Gummistiefel für die Arbeit im Gewächshaus erhalten, damit sie nicht mehr mit nassen Socken arbeiten müssten. Die Fairtrade-Prämie habe ausserdem einen Ausbau der Frauenklink ermöglicht. Neu seien Wöchnerinnen dort nicht mehr zu dritt mit ihren Babys in einem Bett untergebracht, sondern nur noch zu zweit. Kritische Fragen stellt die Journalistin keine.
Endlich Kontakt
Die Frage, ob das nun wirklich schon fair ist im Vergleich zum hier üblichen Lebensstandard, ist damit eigentlich schon beantwortet. Trotzdem würden wir sie gern noch mit einer Person diskutieren, die tatsächlich an der Produktion von Fairtrade-Produkten mitarbeitet. So schwierig sollte das ja eigentlich nicht sein.
Nachdem wir bei der Migros gescheitert sind, wagen wir also einen zweiten Anlauf – und fragen bei Max Havelaar nach, ob man uns mit den Maiskölbchenfarmen in Kontakt bringen könne. Anders als Migros und Coop will man uns dort diesen Wunsch erfüllen. Dafür muss Max Havelaar Schweiz bei der Partnerorganisation Fairtrade Network of Asian and Pacific Producers (Fairtrade NAPP) nachfragen, ob Kontakt hergestellt werden könne, was schliesslich auch gelingt. Einige Wochen nach Recherchebeginn erhalten wir drei indische Handynummern.
Ist die Maiskölbchen-Produktion unter dem Fairtrade-Label wirklich schon fair? Oder einfach weniger unfair? Diese Frage konnten wir nun endlich per WhatsApp denjenigen stellen, die es am besten wissen sollten.
Leider blieben zwei von drei Chats auch nach mehreren Nachfragen stumm. Nur aus einer Maiskölbchenfarm erhalten wir Antworten auf unsere Fragen. Seit vier Jahren arbeite seine Farm mit Fairtrade zusammen, schreibt uns der Direktor und Bauer. Und das habe sich gelohnt: „Fairtrade hat uns dabei geholfen, uns weiterzuentwickeln“, so der Direktor. „Ausserdem öffnet das Label den Weltmarkt für kleine Landwirt:innen, und es bietet einen landwirtschaftlichen Standard sowie Ausbildungsprogramme.“
Unsere Ausgangsfrage bleibt allerdings unbeantwortet. Auch nach mehrmaligem Nachhaken. Der Direktor bestätigt zwar, dass sein Betrieb von der Kooperation mit Fairtrade profitiert und damit auch, dass Fairtrade besser ist als gar nichts. Aber ob es deswegen wirklich schon fair ist, wissen wir weiterhin nicht aus erster Hand.
Weil wir den Landwirten in Indien nicht mehr erreichen können, richten wir unsere Frage an Fairtrade Max Havelaar Schweiz. Die Antwort: „Fairtrade Max Havelaar hat das Ziel, Kleinbauernfamilien und Angestellten in Entwicklungsländern ein besseres Einkommen und gute Arbeitsbedingungen zu ermöglichen“, so die Medienstelle. Fairtrade sei aber kein Wundermittel, das auf einen Schlag alles besser mache. „Für eine nachhaltige Wirkung braucht es Zeit.“
Und damit bestätigt schliesslich auch Max Havelaar indirekt das Offensichtliche: Nämlich dass die Standards, die angewendet werden, nicht dem entsprechen, was wir uns hierzulande unter fairen Arbeits- und Lebensbedingungen vorstellen. Fair – das sollte doch mehr beinhalten als eine Matratze auf Pump, ein Klo auf der Dorfschule oder ein halbes Bett in der Frauenklinik. Auch wenn ein halbes Bett besser ist als ein Drittel eines Betts.
Konsum vergrössert den Graben
Fakt ist: Dank denjenigen, die sich damit zufriedengeben müssen, das Spitalbett zu teilen, sind die Preise in den hiesigen Läden billiger. Was wiederum heisst, dass wir bei jedem Kauf auf Kosten der Maiskölbchenfarmer:innen und der Rosenpflücker:innen ein bisschen was auf die Seite legen können. Bei normalen Produkten mehr, bei Fairtrade-Produkten weniger.
Doch egal ob Fairtrade oder nicht: Mit jedem Kilo Kaffee, mit jeder Rose aus Kenia und mit jedem Maiskölbchen, das wir uns in den Einkaufswagen legen, vergrössert sich der Graben ein bisschen mehr. Der Graben zwischen denjenigen, die sich über eine Toilette freuen sollen, und denjenigen, die es nicht einmal mehr merken, dass mit der hiesigen Konsumwirtschaft andere ausgebeutet werden.
Und mit den erbeuteten Franken leisten wir uns dann den wohlverdienten Ferienflug nach Indien, Kenia oder Thailand, um gleich nochmals davon zu profitieren, dass man sich dort anders als bei den Schweizer Lohnvorstellungen gegen wenig Geld von Putzkräften, Taxifahrer:innen und Gastroangestellten bedienen lassen kann. Der Billigflug ermöglicht den Klassenwechsel.
Das Schmiermittel dafür: Erdöl. Denn nur mit der Möglichkeit, Tausende von Kilometer saugünstig zurückzulegen, kann es sich überhaupt lohnen, Maiskölbchen in Indien wachsen zu lassen, Rosen aus Kenia in die Schweiz zu fliegen oder für zwei Wochen nach Thailand zu reisen. Kleiner Nebeneffekt: Klimakrise.
Für unsere Privilegien zahlen die anderen
So gehen unsere Privilegien auf Kosten derjenigen, die heute oder in Zukunft den Planeten mit uns teilen. Und derjenigen, für die scheinbar völlig andere Lebensstandards gelten als für uns. Auch wenn ein Fairtrade-Label das Anwachsen des Grabens zwischen denen hier und den anderen dort ein wenig verlangsamen kann – fair ist Fairtrade noch nicht. Denn in der Schweiz würde sich wohl niemand mit einem halben Spitalbett zufriedengeben wollen.
Die noch viel grössere Frage ist jedoch, wie es sein kann, dass in einem der reichsten Länder der Welt zu Produkten gegriffen werden kann, die vielleicht nicht einmal dieses halbe Bett garantieren können. „Das finden wir selbstverständlich nicht gut“, schreibt uns Max Havelaar Schweiz dazu zurück. Der Chat aus Indien bleibt jedoch auch bei dieser Frage stumm.
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