In der Nacht auf den 1. Januar 2020 war die Fotografin Nicole Kramm wie Tausende andere Chilen:innen am Feiern. Ein neues Jahr, noch ohne Corona, aber mit einer sozialen Bewegung, die sich aufmachte, das Land grundlegend zu verändern. Es war Abend, die Stimmung war gut. Die Fotografin war mit ihren Kolleg:innen auf dem Weg zur Plaza Dignidad (Platz der Würde), dem Treffpunkt aller Demonstrationen und Epizentrum der sozialen Bewegung.
Auf einmal wurde ein Trupp Polizist:innen auf die mit Kameras ausgestattete Gruppe aufmerksam und begann ohne Grund mit Steinschleudern auf sie zu schiessen. In diesen Monaten war das normal, mal wurden Schrotflinten, mal Granatwerfer und ein andermal Steinschleudern eingesetzt.
Kramm erzählt: „Wir waren klar als Fotograf:innen gekennzeichnet. Die hatten es auf uns abgesehen.“ Sie wird getroffen und fällt zu Boden. Ein Erste-Hilfe-Team kommt und kümmert sich um sie. Die Polizist:innen hören nicht auf zu schiessen. Steine und Bleikugeln fliegen in Richtung der Gruppe. Die Verletzte muss mit einem Schutzschild abgedeckt werden, bis sie schliesslich ins Krankenhaus gebracht werden kann. Durch die Verletzung verliert Kramm ein Auge.
Seit Beginn der Protestwelle vom 18. Oktober (Das Lamm berichtete) hat die Gewalt gegen Journalist:innen deutlich zugenommen. Die rechtsgerichtete Regierung Piñera geht zunehmend gegen kritische Berichterstattung vor und schreckt nicht davor zurück, Fernsehsender direkt anzurufen oder die Bewegungsfreiheit von Journalist:innen einzuschränken. Regelmässig gibt es Berichte über Festnahmen und Anzeigen wegen Schlägen, sexueller Gewalt und anderen Formen der Misshandlungen auf den Kommissariaten.
Die Gewalt hat zugenommen
Danilo Ahumada zeigt sich besorgt über die derzeitige Situation. Er ist Präsident der chilenischen Journalist:innenkammer, der Gewerkschaft für Medienschaffende in Chile. „Seit mehr als einem Jahr werden wir zunehmend an unserer Arbeit gehindert“, sagt er. Der Journalist und Dozent an einer staatlichen Universität in Valparaíso zählt drei verschiedene Formen der Beschränkung der Pressefreiheit und Versuche der Zensur auf: Spionage, Aggressionen gegenüber Medienvertreter:innen und direkte Einflussnahme auf die Verlagshäuser.
Anfang April wurde bekannt, dass das Militär mit Erlaubnis des Verteidigungsministers bereits unter der ersten Regierung des rechten Präsidenten Sebastián Piñera von 2010 bis 2014 begonnen hatte, mehrere bekannte Journalist:innen zu bespitzeln. Diese hatten entweder über Korruptionsfälle oder Menschenrechtsverletzungen durch das Militär berichtet.
Seit Oktober 2019 haben zudem direkte Übergriffe auf Journalist:innen zugenommen. Ahumada spricht von über 300 Fällen, in denen Journalist:innen direkt angegriffen wurden. Die Zahlen stammen vom unabhängigen Observatorio por el Derecho a la Comunicación. In einigen Fällen kam es wie bei Kramm zu Augenverletzungen, andere wurden tätlich angegangen oder festgenommen. Es gibt Berichte über Schläge nach der Festnahme und sexuelle Übergriffe gegen Pressevertreter:innen. „Jedes Mal wenn ein:e Journalist:in festgenommen wird, ist das ein direktes Attentat auf die Pressefreiheit“, meint Ahumada.
Er selbst wurde am 1. Mai des vergangenen Jahres festgenommen, da er sich angeblich ohne Sonderbewilligung während des Lockdowns auf der Strasse aufgehalten habe. In Chile dürfen Menschen während des Lockdowns nur an einer gewissen Anzahl von Tagen pro Woche aus dem Haus. Journalist:innen haben eigentlich ein Grundrecht auf Bewegungsfreiheit, doch dieses wird von der Regierung nur halbherzig respektiert. Für Ahumada war das Resultat eine Nacht in der Zelle. Anstatt sich zu entschuldigen, reichte die Regierung am Folgetag eine Klage gegen Ahumada ein.
Zusätzlich zu den direkten Angriffen auf einzelne Journalist:innen nahm die Regierung in den letzten Wochen direkten Einfluss auf die Verlagshäuser. Dies trifft vor allem den kleinen Fernsehsender La Red TV. Dieser strahlte Interviews von radikal linken Persönlichkeiten und Satiresendungen über das Militär aus. Als Reaktion rief die Regierung direkt beim Besitzer des Fernsehsenders in Miami an, veröffentliche Briefe gegen die Sendungen und klagte zuletzt über den Presserat gegen die Inhalte des Senders.
„Das sind Formen des Drucks, die einer Demokratie unwürdig sind“, meint Ahumada dazu. Dabei sei dies nicht immer so gewesen: „Seitdem die Presse gegenüber der Regierung und den herrschenden Verhältnissen kritischere Positionen eingenommen hat, wird sie zunehmend bedrängt.“ Über Jahre wäre zu wenig kritisch über die Regierung und Korruptionsfälle berichtet worden. Damit sei nun Schluss.
Neue Medienhäuser stehen im Auge des Hurrikans
Der Journalist Marco Ortiz kommentiert die Situation der Presse seit Jahren über seinen Twitteraccount Ojo del Medio (zu Deutsch etwa: Presseauge). Er ist nicht der Meinung, dass die bisherige Presse sich verändert habe. Vielmehr seien neue Medien entstanden, die eine kritische Position eingenommen hätten. „In Chile herrscht eine enorme Medienkonzentration. Über 80 % der Presse gehören zwei reichen chilenischen Familien. Dies führt zu einem sehr einseitigen Blick in der Berichterstattung“, meint er. Diese Medien würden keine Debatten anstossen oder Kritik an der Regierung veröffentlichen, sondern seien viel mehr das Sprachrohr der wirtschaftlichen Eliten. In den Worten von Ortiz: „Sie stoppen und verhindern Debatten.“
Ortiz meint, dass seit der Revolte von Oktober 2019 vielen Menschen klar geworden sei, dass die grossen Medienhäuser nicht in ihrem Sinne und schon gar nicht unabhängig über die Lage der Nation berichten würden: „Während Millionen von Menschen auf der Strasse gegen das neoliberale Wirtschaftssystem protestierten, redeten die grossen Medien nur von Vandalismus und Verbrecher:innen auf der Strasse.“ Die erlebte Realität glich nicht mehr dem, was in den Medien erzählt wurde.
Deswegen haben sich immer mehr Menschen kleinen Medienprojekten zugewandt. Es sind zum Grossteil linke Onlineportale, deren Redakteur:innen meist freiwillig Berichterstattung betreiben und klare Position gegen die Regierung Piñera beziehen. Ortiz zählt den Fernsehsender La Red TV zu dieser Gruppe hinzu. Seit einem Jahr habe der Fernsehsender einen neuen, linken Direktor, Víctor Gutiérrez. Zudem seien die Besitzer in Miami und nicht wirklich an den Kleinkriegen der chilenischen Elite interessiert. Solange die Zahlen stimmen, könne der Direktor tun, was er wolle.
Diese neuen Medien haben während der Protestwellen eine enorm wichtige Rolle gespielt: Sie berichteten aus nächster Nähe über die Geschehnisse.
Journalismus aus Überzeugung
Kramm ist von der Bedeutung ihrer Arbeit überzeugt: „Wir haben die Polizeigewalt genau dokumentiert.“ Dieses Material ist nicht nur für die Presse wichtig, sondern auch für die juristische Aufarbeitung. Bereits im November 2019 wurde gegen die Regierung wegen Menschenrechtsverletzungen Klage eingereicht.
Der Menschenrechtsanwalt Oscar Castro ist einer der Kläger:innen. Er erzählt gegenüber das Lamm von den wenigen Fortschritten in der Ermittlung. Zwar habe die Staatsanwaltschaft offiziell begonnen, Beweise zu sammeln, doch mehr sei bis anhin nicht geschehen. Das Kläger:innenkollektiv habe bislang selbst Zeug:innenaussagen und Videos gesammelt. Mit Hilfe des Materials könne laut Castro bewiesen werden, dass überall und entgegen den offiziellen Aussagen die Polizei mit Schrotgewehren und Gasgranatenwerfern direkt auf die Köpfe der Menschen gezielt habe.
Die Presse habe dies genau dokumentiert und werde nun dafür bestraft. „Sie ist das Auge der Proteste, sie dokumentiert die Polizeigewalt und ist deswegen besonders stark angegangen worden“, ist sich der Anwalt sicher.
Kampf um Gerechtigkeit und Wiedergutmachung
Kramm und Hunderte weitere Journalist:innen sind die Leidtragenden dieser Politik. Sie ist Mitglied bei der Coordinadora de Víctimas de Trauma Ocular, einer Organisation aus Menschen, die ihre Augen durch den Einsatz der Polizei verloren haben. Seit Oktober 2019 zählt die Coordinadora mindestens 500 Fälle, vor allem Demonstrant:innen. Kramm geht von einer grossen Dunkelziffer aus: „Viele haben Angst, sich mit uns in Verbindung zu setzen oder in ein Krankenhaus zu gehen. Sie befürchten politische Repression.“ Aufgrund dessen geht Kramm von bis zu 1 000 betroffenen Personen aus.
Als Betroffene kämpft sie für eine angemessene medizinische Behandlung und eine Wiedergutmachung von der Regierung. Sie meint: „Niemand kann mir mein Auge zurückgeben, aber die Verantwortlichen müssen bestraft und es muss dafür gesorgt werden, dass so etwas nie wieder vorkommt.“
Als Fotografin hört Kramm immer wieder von neuen Fällen von Polizeigewalt. Sie ist besorgt über die aktuelle Lage, denn: „Die Gewalt nimmt ständig zu.“ Jeden Freitag, dem traditionellen Protesttag, hört sie von Aggressionen gegen Pressevertreter:innen und Festnahmen, die mit den Hygienemassnahmen im Rahmen der Pandemie begründet werden. Die Lage ist kritisch und bislang gibt es kein Licht am Ende des Tunnels.
Danilo Ahumada und die gesamte Journalist:innenkammer zeigten sich in den letzten Wochen äusserst besorgt über die aktuelle Lage und haben versucht, durch öffentliche Briefe internationalen Druck aufzubauen.
Chile steht kurz vor einem verfassungsgebenden Prozess. Die neue Verfassung ist ein Resultat der Protestwelle vom Oktober 2019 und soll, so der Wille der linken Kräfte, das neoliberale Wirtschaftsregime hinter sich lassen. Mitte Mai werden die Mitglieder des zuständigen Verfassungskonvents gewählt.
Ahumada hofft, dass dort auch das Recht auf Pressefreiheit verankert wird, bisher sei dieses in Chile einzig durch ein allgemeines Recht auf Meinungsfreiheit geschützt. Das sei nicht genug, so Ahumada: „Wir brauchen ein Grundrecht auf Pressefreiheit und eine unabhängige Medienförderung, nur so können wir garantieren, dass in Zukunft die Presse frei und unabhängig gegenüber reichen Familien über das politische Geschehen berichten kann.“
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