Pres­se­frei­heit in Chile: Ein Schuss mitten ins Auge

Seit Beginn der Protest­welle von Oktober 2019 gerät die Presse in Chile zuneh­mend in Bedrängnis. Insbe­son­dere Fotograf:innen werden alltäg­lich Opfer von Poli­zei­ge­walt. Ein direkter Angriff auf das Auge der Gesell­schaft. Journalist:innen hoffen nun, dass mit der neuen Verfas­sung ein Wandel kommt. 
Protestaktion von Fotograf:innen im Dezember 2019. Die Angriffe auf Medienvertreter:innen hatten sich bereits zwei Monate nach Beginn der Protestwelle gehäuft. (Foto: Nicole Kramm)

In der Nacht auf den 1. Januar 2020 war die Foto­grafin Nicole Kramm wie Tausende andere Chilen:innen am Feiern. Ein neues Jahr, noch ohne Corona, aber mit einer sozialen Bewe­gung, die sich aufmachte, das Land grund­le­gend zu verän­dern. Es war Abend, die Stim­mung war gut. Die Foto­grafin war mit ihren Kolleg:innen auf dem Weg zur Plaza Dignidad (Platz der Würde), dem Treff­punkt aller Demon­stra­tionen und Epizen­trum der sozialen Bewegung.

Auf einmal wurde ein Trupp Polizist:innen auf die mit Kameras ausge­stat­tete Gruppe aufmerksam und begann ohne Grund mit Stein­schleu­dern auf sie zu schiessen. In diesen Monaten war das normal, mal wurden Schrot­flinten, mal Granat­werfer und ein andermal Stein­schleu­dern eingesetzt.

Kramm erzählt: „Wir waren klar als Fotograf:innen gekenn­zeichnet. Die hatten es auf uns abge­sehen.“ Sie wird getroffen und fällt zu Boden. Ein Erste-Hilfe-Team kommt und kümmert sich um sie. Die Polizist:innen hören nicht auf zu schiessen. Steine und Blei­ku­geln fliegen in Rich­tung der Gruppe. Die Verletzte muss mit einem Schutz­schild abge­deckt werden, bis sie schliess­lich ins Kran­ken­haus gebracht werden kann. Durch die Verlet­zung verliert Kramm ein Auge.

Seit Beginn der Protest­welle vom 18. Oktober (Das Lamm berich­tete) hat die Gewalt gegen Journalist:innen deut­lich zuge­nommen. Die rechts­ge­rich­tete Regie­rung Piñera geht zuneh­mend gegen kriti­sche Bericht­erstat­tung vor und schreckt nicht davor zurück, Fern­seh­sender direkt anzu­rufen oder die Bewe­gungs­frei­heit von Journalist:innen einzu­schränken. Regel­mässig gibt es Berichte über Fest­nahmen und Anzeigen wegen Schlägen, sexu­eller Gewalt und anderen Formen der Miss­hand­lungen auf den Kommissariaten.

Die Gewalt hat zugenommen

Danilo Ahumada zeigt sich besorgt über die derzei­tige Situa­tion. Er ist Präsi­dent der chile­ni­schen Journalist:innenkammer, der Gewerk­schaft für Medi­en­schaf­fende in Chile. „Seit mehr als einem Jahr werden wir zuneh­mend an unserer Arbeit gehin­dert“, sagt er. Der Jour­na­list und Dozent an einer staat­li­chen Univer­sität in Valpa­raíso zählt drei verschie­dene Formen der Beschrän­kung der Pres­se­frei­heit und Versuche der Zensur auf: Spio­nage, Aggres­sionen gegen­über Medienvertreter:innen und direkte Einfluss­nahme auf die Verlagshäuser.

Anfang April wurde bekannt, dass das Militär mit Erlaubnis des Vertei­di­gungs­mi­ni­sters bereits unter der ersten Regie­rung des rechten Präsi­denten Seba­stián Piñera von 2010 bis 2014 begonnen hatte, mehrere bekannte Journalist:innen zu bespit­zeln. Diese hatten entweder über Korrup­ti­ons­fälle oder Menschen­rechts­ver­let­zungen durch das Militär berichtet.

2020 war ein schlechtes Jahr für die Pressefreiheit:
Mitte April veröf­fent­lichte Reporter ohne Grenzen die Rang­liste der Pres­se­frei­heit aus dem Jahr 2020. Das Ergebnis: So gut wie alle Länder haben an Wertung verloren. „Infor­ma­ti­ons­sperren und staat­liche Desin­for­ma­tion, will­kür­liche Fest­nahmen und Gewalt gegen Medi­en­schaf­fende schränkten die Pres­se­frei­heit auf allen Konti­nenten ein“, schreibt die Orga­ni­sa­tion. Gerade in Amerika hätten Gewalt gegen Journalist:innen und staat­liche Verun­glimp­fung stark zuge­nommen. Chile wurde für 2020 eine Farbe schlechter einge­färbt und rückte drei Plätze nach hinten, auf Platz 54 von 180. Aller­dings fehlen in der länder­spe­zi­fi­schen Darstel­lung viele Vorfälle in Chile. Es wurden meist nur Angriffe gegen deut­sche Auslandsjournalist:innen dokumentiert.
Der letzte Bericht der Orga­ni­sa­tion Ameri­ka­ni­scher Staaten ist deut­lich harscher im Bericht bezüg­lich der Pres­se­frei­heit in Chile im Jahr 2020. Es habe eine grosse Anzahl direkter Angriffe auf Journalist:innen gegeben, zudem wurden fehlender Zugang zu Infor­ma­tionen im Rahmen der Coro­na­pan­demie sowie einzelne Fälle direkter Zensur verzeichnet. Ähnliche und zum Teil schlim­mere Fest­stel­lungen gab es auch aus benach­barten Ländern. Der Bericht schliesst damit, dass mit äusser­ster Besorgnis das hohe Mass an Gewalt und direkter Zensur in ganz Latein­ame­rika beob­achtet werde.

Seit Oktober 2019 haben zudem direkte Über­griffe auf Journalist:innen zuge­nommen. Ahumada spricht von über 300 Fällen, in denen Journalist:innen direkt ange­griffen wurden. Die Zahlen stammen vom unab­hän­gigen Obser­va­torio por el Derecho a la Comu­ni­ca­ción. In einigen Fällen kam es wie bei Kramm zu Augen­ver­let­zungen, andere wurden tätlich ange­gangen oder fest­ge­nommen. Es gibt Berichte über Schläge nach der Fest­nahme und sexu­elle Über­griffe gegen Pressevertreter:innen. „Jedes Mal wenn ein:e Journalist:in fest­ge­nommen wird, ist das ein direktes Attentat auf die Pres­se­frei­heit“, meint Ahumada.

Er selbst wurde am 1. Mai des vergan­genen Jahres fest­ge­nommen, da er sich angeb­lich ohne Sonder­be­wil­li­gung während des Lock­downs auf der Strasse aufge­halten habe. In Chile dürfen Menschen während des Lock­downs nur an einer gewissen Anzahl von Tagen pro Woche aus dem Haus. Journalist:innen haben eigent­lich ein Grund­recht auf Bewe­gungs­frei­heit, doch dieses wird von der Regie­rung nur halb­herzig respek­tiert. Für Ahumada war das Resultat eine Nacht in der Zelle. Anstatt sich zu entschul­digen, reichte die Regie­rung am Folgetag eine Klage gegen Ahumada ein.

Zusätz­lich zu den direkten Angriffen auf einzelne Journalist:innen nahm die Regie­rung in den letzten Wochen direkten Einfluss auf die Verlags­häuser. Dies trifft vor allem den kleinen Fern­seh­sender La Red TV. Dieser strahlte Inter­views von radikal linken Persön­lich­keiten und Sati­re­sen­dungen über das Militär aus. Als Reak­tion rief die Regie­rung direkt beim Besitzer des Fern­seh­sen­ders in Miami an, veröf­fent­liche Briefe gegen die Sendungen und klagte zuletzt über den Pres­serat gegen die Inhalte des Senders.

„Das sind Formen des Drucks, die einer Demo­kratie unwürdig sind“, meint Ahumada dazu. Dabei sei dies nicht immer so gewesen: „Seitdem die Presse gegen­über der Regie­rung und den herr­schenden Verhält­nissen kriti­schere Posi­tionen einge­nommen hat, wird sie zuneh­mend bedrängt.“ Über Jahre wäre zu wenig kritisch über die Regie­rung und Korrup­ti­ons­fälle berichtet worden. Damit sei nun Schluss.

Neue Medi­en­häuser stehen im Auge des Hurrikans

Der Jour­na­list Marco Ortiz kommen­tiert die Situa­tion der Presse seit Jahren über seinen Twit­ter­ac­count Ojo del Medio (zu Deutsch etwa: Pres­se­auge). Er ist nicht der Meinung, dass die bishe­rige Presse sich verän­dert habe. Viel­mehr seien neue Medien entstanden, die eine kriti­sche Posi­tion einge­nommen hätten. „In Chile herrscht eine enorme Medi­en­kon­zen­tra­tion. Über 80 % der Presse gehören zwei reichen chile­ni­schen Fami­lien. Dies führt zu einem sehr einsei­tigen Blick in der Bericht­erstat­tung“, meint er. Diese Medien würden keine Debatten anstossen oder Kritik an der Regie­rung veröf­fent­li­chen, sondern seien viel mehr das Sprach­rohr der wirt­schaft­li­chen Eliten. In den Worten von Ortiz: „Sie stoppen und verhin­dern Debatten.“

Ortiz meint, dass seit der Revolte von Oktober 2019 vielen Menschen klar geworden sei, dass die grossen Medi­en­häuser nicht in ihrem Sinne und schon gar nicht unab­hängig über die Lage der Nation berichten würden: „Während Millionen von Menschen auf der Strasse gegen das neoli­be­rale Wirt­schafts­sy­stem prote­stierten, redeten die grossen Medien nur von Vanda­lismus und Verbrecher:innen auf der Strasse.“ Die erlebte Realität glich nicht mehr dem, was in den Medien erzählt wurde.

Deswegen haben sich immer mehr Menschen kleinen Medi­en­pro­jekten zuge­wandt. Es sind zum Gross­teil linke Online­por­tale, deren Redakteur:innen meist frei­willig Bericht­erstat­tung betreiben und klare Posi­tion gegen die Regie­rung Piñera beziehen. Ortiz zählt den Fern­seh­sender La Red TV zu dieser Gruppe hinzu. Seit einem Jahr habe der Fern­seh­sender einen neuen, linken Direktor, Víctor Gutiérrez. Zudem seien die Besitzer in Miami und nicht wirk­lich an den Klein­kriegen der chile­ni­schen Elite inter­es­siert. Solange die Zahlen stimmen, könne der Direktor tun, was er wolle.

Diese neuen Medien haben während der Protest­wellen eine enorm wich­tige Rolle gespielt: Sie berich­teten aus näch­ster Nähe über die Geschehnisse.

Jour­na­lismus aus Überzeugung

Kramm ist von der Bedeu­tung ihrer Arbeit über­zeugt: „Wir haben die Poli­zei­ge­walt genau doku­men­tiert.“ Dieses Mate­rial ist nicht nur für die Presse wichtig, sondern auch für die juri­sti­sche Aufar­bei­tung. Bereits im November 2019 wurde gegen die Regie­rung wegen Menschen­rechts­ver­let­zungen Klage eingereicht.

Der Menschen­rechts­an­walt Oscar Castro ist einer der Kläger:innen. Er erzählt gegen­über das Lamm von den wenigen Fort­schritten in der Ermitt­lung. Zwar habe die Staats­an­walt­schaft offi­ziell begonnen, Beweise zu sammeln, doch mehr sei bis anhin nicht geschehen. Das Kläger:innenkollektiv habe bislang selbst Zeug:innenaussagen und Videos gesam­melt. Mit Hilfe des Mate­rials könne laut Castro bewiesen werden, dass überall und entgegen den offi­zi­ellen Aussagen die Polizei mit Schrot­ge­wehren und Gasgra­na­ten­wer­fern direkt auf die Köpfe der Menschen gezielt habe.

Die Presse habe dies genau doku­men­tiert und werde nun dafür bestraft. „Sie ist das Auge der Proteste, sie doku­men­tiert die Poli­zei­ge­walt und ist deswegen beson­ders stark ange­gangen worden“, ist sich der Anwalt sicher.

Kampf um Gerech­tig­keit und Wiedergutmachung

Kramm und Hunderte weitere Journalist:innen sind die Leid­tra­genden dieser Politik. Sie ist Mitglied bei der Coor­di­na­dora de Víctimas de Trauma Ocular, einer Orga­ni­sa­tion aus Menschen, die ihre Augen durch den Einsatz der Polizei verloren haben. Seit Oktober 2019 zählt die Coor­di­na­dora minde­stens 500 Fälle, vor allem Demonstrant:innen. Kramm geht von einer grossen Dunkel­ziffer aus: „Viele haben Angst, sich mit uns in Verbin­dung zu setzen oder in ein Kran­ken­haus zu gehen. Sie befürchten poli­ti­sche Repres­sion.“ Aufgrund dessen geht Kramm von bis zu 1 000 betrof­fenen Personen aus.

Als Betrof­fene kämpft sie für eine ange­mes­sene medi­zi­ni­sche Behand­lung und eine Wieder­gut­ma­chung von der Regie­rung. Sie meint: „Niemand kann mir mein Auge zurück­geben, aber die Verant­wort­li­chen müssen bestraft und es muss dafür gesorgt werden, dass so etwas nie wieder vorkommt.“

Als Foto­grafin hört Kramm immer wieder von neuen Fällen von Poli­zei­ge­walt. Sie ist besorgt über die aktu­elle Lage, denn: „Die Gewalt nimmt ständig zu.“ Jeden Freitag, dem tradi­tio­nellen Protesttag, hört sie von Aggres­sionen gegen Pressevertreter:innen und Fest­nahmen, die mit den Hygie­ne­mass­nahmen im Rahmen der Pandemie begründet werden. Die Lage ist kritisch und bislang gibt es kein Licht am Ende des Tunnels.

Danilo Ahumada und die gesamte Journalist:innenkammer zeigten sich in den letzten Wochen äusserst besorgt über die aktu­elle Lage und haben versucht, durch öffent­liche Briefe inter­na­tio­nalen Druck aufzubauen.

Chile steht kurz vor einem verfas­sungs­ge­benden Prozess. Die neue Verfas­sung ist ein Resultat der Protest­welle vom Oktober 2019 und soll, so der Wille der linken Kräfte, das neoli­be­rale Wirt­schafts­re­gime hinter sich lassen. Mitte Mai werden die Mitglieder des zustän­digen Verfas­sungs­kon­vents gewählt.

Ahumada hofft, dass dort auch das Recht auf Pres­se­frei­heit veran­kert wird, bisher sei dieses in Chile einzig durch ein allge­meines Recht auf Meinungs­frei­heit geschützt. Das sei nicht genug, so Ahumada: „Wir brau­chen ein Grund­recht auf Pres­se­frei­heit und eine unab­hän­gige Medi­en­för­de­rung, nur so können wir garan­tieren, dass in Zukunft die Presse frei und unab­hängig gegen­über reichen Fami­lien über das poli­ti­sche Geschehen berichten kann.“

 


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