Als der Honduraner Christopher Castillo zum ersten Mal von den ZEDEs hörte, fühlte er Empörung und Angst. Empörung darüber, dass es für Unternehmen so einfach ist, Leute so fundamental zu bedrohen. Angst, weil sein Land und die Ideale, für die der Menschenrechts- und Umweltaktivist kämpft, auf längerfristig aufhören könnten, zu existieren.
ZEDEs steht für „Spezielle Zonen für Wirtschaftliche Entwicklung“. Es sind Gebiete und ganze Städte, die von privaten Unternehmen geführt werden und in deren Territorium die nationale Gesetzgebung von Honduras nicht gilt – sogenannte Liberty Cities. Die Projekte werden unter anderem aus der Schweiz gefördert, wie das Lamm berichtet.
„Es ist ein Ausverkauf des Landes“, meint Castillo. Er ist Koordinator der linksrevolutionären Umweltbewegung ARCAH – der Alternative zur Gemeinschaftlichen Förderung der Umwelt von Honduras – und springt seit Wochen von einer Mobilisierung zur anderen, von Fernsehshow zu Fernsehshow. Denn für Castillo stehen nicht nur Menschenrechte auf dem Spiel. Es geht um die Zukunft des ganzen Landes.
Ein Leben für den Umweltschutz
Castillo ist 26, er hat Architektur studiert an der Nationalen Universität von Honduras. Aufgewachsen ist er in bescheidenen Verhältnissen in Comayagüela, der indigenen Nachbarstadt der Hauptstadt Tegucigalpa. Er lebe in einer Diktatur, so Castillo. Denn nach dem Militärputsch von 2009 haben keine fairen Wahlen mehr stattgefunden, die politische Opposition wird verfolgt und teilweise ins Exil gezwungen.
Für Castillo bedeutet Diktatur mehr als das Fehlen von freien Wahlen und demokratischen Grundrechten. Er beschreibt sein Land als eine „Narcodictadura“, eine Diktatur, die tief mit dem Drogenhandel und weiteren illegalen Geschäften verbandelt ist. Er muss nicht weit ausholen, um das zu begründen. Im vergangenen Jahr wurde der Bruder des derzeitigen Präsidenten Juan Orlando Hernández in den USA wegen Drogenhandel verurteilt. Laut Aussagen der US-Amerikanischen Staatsanwaltschaft soll auch der Präsident selbst an den Geschäften beteiligt gewesen sein.
Das Studium hat Castillo politisiert, im Jahr 2018 gründete er zusammen mit anderen Aktivist:innen die Umweltorganisation ARCAH. Es geht um die Unterstützung der lokalen Bevölkerung gegen Projekte wie Staudämme oder verschmutzende Industrien. Im Frühjahr 2021 kämpfte ihre Umweltbewegung gegen ein Tierzüchter und ‑schlachter im Süden von Tegucigalpa, der seine Fäkalien direkt in den benachbarten Fluss geleitet hatte, der durch die Stadt fliesst.
Sie verhandelten und protestierten vor den Toren des Unternehmens und wurden schlussendlich aufgrund von „desplazamiento forzado“ festgenommen – ein Gesetz, das soviel bedeutet wie „gezwungener Standortwechsel“ und vor allem gegen kriminelle Banden im Rahmen von Entführungen angewandt wird. Gegen Castillo und fünf weitere Aktivist:innen läuft derzeit ein Verfahren, er könnte jeden Moment ins Gefängnis kommen. Der Fall ist mittlerweile um die Welt gegangen. Castillo zeigt voller Hoffnung einen Protestbrief von Parlamentarier:innen der Europäischen Union, der die Einstellung des Verfahrens verlangt.
Castillo lebt in ständiger Angst. 2018 wurde er von Polizist:innen aufgrund seiner politischen Tätigkeiten mit vorgehaltener Waffe bedroht, auch wenige Stunden nach dem Interview mit das Lamm wird er auf offener Strasse von einem Mann mit einem Messer bedroht, wie er später berichtet. Dieser entriss ihm sein Handy und sagt, er solle sich nicht weiter politisch engagieren. In einem zweiten Gespräch berichtet Castillo über das erlebte. Gemessen an der Bevölkerung ist Honduras das Land in Lateinamerika mit den meisten Morden an Umweltaktivist:innen. Im Jahr 2019 waren es allein deren 14. Castillo sagt, es gebe in Honduras kaum Schutz für Umweltaktivist:innen wie ihn selbst.
Kampf um nationale Souveränität
Doch was in Honduras derzeit umgesetzt wird, überschreitet alles, was Castillo bisher erlebt hat. Seit 2010 streben Regierung und Parlament die Schaffung von sogenannten Speziellen Zonen für die Wirtschaftliche Entwicklung an. Entstehen sollen Wirtschaftsenklaven, in denen die nationale Gesetzgebung nicht mehr vollständig gilt und das öffentliche Leben von Unternehmen verwaltet wird. Damit sollen Gelder aus dem Ausland nach Honduras gelockt werden. Mittlerweile werden drei dieser Zonen gebaut, weitere sind in Planung. Sie werden auch Liberty Cities genannt – zu deutsch: freie Städte, frei von staatlicher Kontrolle und Grundrechten, die die Unternehmen einschränken würden. Eine neoliberale Utopie.
Castillo ist entsetzt über diese geplanten Zonen für Privilegierte, die sich nicht an Umwelt- oder Arbeitsgesetzgebung halten müssen, sondern unter sich leben und wirtschaften sollen. Ein erster Vorfall in der ZEDE Próspera, bei dem die Polizei wegen illegaler Abholzung einschreiten wollte, zeigt die Reichweite der Autonomie dieser Orte. Die Patrouille wurde am Eingang zur ZEDE abgewiesen, die Polizei sei hier nicht zuständig, es sei kein Einschreiten möglich, hiess es vonseiten der Staatsmacht. Auch die NZZ am Sonntag berichtete über diesen Vorfall.
Vor wenigen Jahren wäre das noch ein Verfassungsbruch gewesen, da der Staat und die Polizei Hoheitsrecht über all sein Territorium hat und insbesondere Ausländer:innen sich an die Gesetze halten müssen. Im Jahr 2011 änderte das Parlament den entsprechenden Absatz in der Verfassung und ermöglichte die Entstehung selbstverwalteter Gebiete mit eigenen Gesetzen und eigener Polizei. Als das Verfassungsgericht die Gesetzesreform ablehnte, wurden die Richter:innen im Jahr 2012 einfach ausgewechselt. Der Gesetzestext erhielt leichte Änderungen und wurde im Jahr 2013 vom Parlament erneut angenommen, die neuen Richter:innen hatten nichts mehr einzuwenden.
Aufgrund der Skandale und der Bedrohung von Honduras hat sich mittlerweile eine nationale Allianz gegen die ZEDEs gebildet – la Plataforma contra las ZEDEs. Es sind nicht nur Umweltorganisationen, sondern auch Parteien, Berufsverbände und Gewerkschaften, die in den freien Städten die nationale Souveränität des Landes zugunsten reicher Ausländer:innen bedroht sehen. Was sich hier zusammenfindet, ist die grösste Allianz gegen ein Regierungsprojekt seit dem Putsch von 2009.
Die Facetten des Widerstands
Gissela Castillo Fúnez ist als Mitglied des feministischen Anwältinnennetzwerks zur Verteidigung der Menschenrechte Teil dieser Allianz. Sie zeigt sich erfreut über den Zulauf und die Mobilisierungskraft: Linksrevolutionäre Organisationen wie die von Christopher Castillo, Teile der katholischen Kirche sowie die gesamte politische Opposition lehnen die Einführung von freien Städten ab.
Vor allem freut sich Gissela Castillo Fúnez darüber, dass sich immer mehr Gemeinden als „frei von ZEDEs“ erklären. Im Süden des Landes, wo sie lebt und politisch aktiv ist, sind es bereits sechs von 17 Gemeinden. In einer allgemeinen Vollversammlung beraten die Bürger:innen über die mögliche Einführung einer ZEDE, sie stimmen ab – und entschieden sich bislang immer dagegen. Ein Gemeindedekret legte daraufhin fest, dass im Gemeindegebiet keine ZEDE gegründet werden darf. Laut der aktuellen Verfassung muss der Zentralstaat diese Entscheidung als Volkswillen respektieren und einhalten.
Das Kollektiv von Castillo Fúnez berät die Gemeinden bei der Abhaltung der Versammlungen, die vorher zwar theoretisch existierten, aber kaum angewandt wurden. Sie erzählt: „Viele Bürgermeister:innen kennen sich nicht aus oder haben Angst vor Verfolgung durch die Unternehmen.“ Castillo Fúnez setzt nach und spricht von „theoretischer Verfolgung“, denn bislang ist noch keine:r Bürgermeister:in etwas passiert. Aber in Honduras herrsche ein Klima der Angst. Insbesondere Umweltschützer:innen, die gegen das Handeln von Unternehmen protestieren, würden verfolgt. Der bekannteste Fall ist der von Berta Cacéres, die im März 2016 umgebracht wurde. Während die direkten Mörder mittlerweile verurteilt sind, bleiben die Auftraggeber:innen unbekannt.
Trotz der möglichen Bedrohung werden die Lokalversammlungen gut besucht. Castillo Fúnez erzählt, es gäbe ein reges Interesse der Bevölkerung daran, über die Zukunft der Gemeinden mitzubestimmen: „Die Gemeindeverwaltungen wurden lange Zeit als autoritäre Gebilde gesehen, die kaum die Bevölkerung in die Entscheidungsprozesse einbezogen haben.“ Bei den Versammlungen sei das anders. Es werde diskutiert, die Menschen würden gehört und können sich aktiv an der Gemeindepolitik beteiligen. Es sei ein Demokratieanschub in einem Land unter autoritärer Herrschaft.
Gleichzeitig strebt die Plattform gegen die ZEDEs eine Klage gegen den Präsidenten und alle Parlamentar:innen wegen „Vaterlandsverrates“ an. Die Verfassung habe vor der Veränderung besagt, dass sich alle Ausländer:innen an die lokalen Gesetze halten müssen. Dies sei nun nicht mehr so: „Es geht im Prinzip um einen Verrat an Honduras“, resümiert die Anwältin.
Auch Christopher Castillo bewertet die grosse Allianz positiv. Doch er sieht keine Massendemonstrationen gegen die ZEDEs und glaubt daher nicht, dass die Allianz lange bestehen wird – zu verschieden seien die politischen Akteur:innen. Und er gibt zu bedenken: „Viele sehen im Kampf gegen die ZEDEs die nationale Souveränität bedroht, doch wer von Souveränität spricht, sollte auch gegen die acht US-Amerikanischen Militärbasen in Honduras einstehen oder für die Ernährungssouveränität kämpfen.“
„Wie soll man Souveränität essen?“, fragt Castillo rhetorisch, um darauf aufmerksam zu machen, dass Honduras schon vor dem Putsch von 2009 eines der ärmsten Länder des Kontinents war.
Die ZEDEs in Bedrängnis
Die vormals rosigen Zukunftsaussichten für die ZEDEs haben sich mit dem massiven Widerstand verändert. Wie die NZZ am Sonntag berichtet, sind die Bauarbeiten in der ZEDE Próspera mittlerweile pausiert. International wird zunehmend kritisch über die Projekte berichtet.
So auch von SP-Nationalrat Fabian Molina. Nachdem er Anfang November im Süden von Honduras, wo eine weitere ZEDE geplant ist, zu Besuch war, erzählt der Nationalrat das Lamm per Telefon von einem „schlechten Horrorfilm“. Es sei ein „turbokapitalistisches Experiment“ auf Kosten der Umwelt, der Bevölkerung und der Demokratie. Molina befürchtet, dass sich das Modell bei Erfolg auf andere Länder ausweiten könnte: „Lateinamerika ist ein weiteres Mal Experimentierfeld neoliberaler Prägung.“
Molina meint, die Bewegung sei ein Hoffnungsschimmer für die Demokratie im ganzen Land. Am 28. November wählt Honduras eine:n neue:n Präsident:in. Der alte Juan Orlando Hernández darf laut der Verfassung nicht noch einmal antreten. Dies hätte er zwar bereits 2017 nicht tun dürfen, aber trotzdem getan.
Als Favorit für die aktuellen Wahlen gilt sein Parteikollege Nasry Asfura, der in den Panama-Papers in Zusammenhang mit Steuerhinterziehung erwähnt wird und widersprüchliche Aussagen zur Zukunft der ZEDEs gemacht hat. Anfangs war er für die Sonderzonen, doch je näher die Wahlen rücken, desto kritischer wird er und meint, den Volkswillen respektieren zu wollen. Asfura gilt nicht zuletzt als Favorit, da alle Akteur:innen der Opposition mit Wahlfälschung zu seinen Gunsten rechnen.
Auf die Frage, ob er auf einen Wandel bei den Wahlen hoffe, lacht der Aktivist Castillo: „Die Wahlen sind hoffnungslos. Die einen nehmen schon gar nicht an den Wahlen teil, da sie von einer Wahlfälschung ausgehen. Die anderen rufen zur Wahl auf, um die Wahlfälschung zu verhindern, aber niemand glaubt ernsthaft an faire und freie Wahlen.“ Doch er räumt ein: Würde die Oppositionelle Xiomara Castro, die Ehefrau des 2009 gestürzten Manuel Zelaya, die Wahlen gewinnen, wäre die Möglichkeit zu einem Machtwechsel gegeben – auch wenn die rechten Kräfte sich mit aller Kraft gegen politischen Wandel stemmen werden.
Was das genau bedeuteten könnte, ist schon jetzt zu erahnen. Anfang Oktober verabschiedete der Nationalkongress, der von der Regierungspartei dominiert wird, ein Gesetz, dass den Rechtsbruch der Besetzung von Grundstücken auf öffentliche Plätze ausweitet. Es sieht eine Haftstrafe von bis zu sieben Jahren vor, sofern mehrere Personen an der Tat beteiligt sind. Im Prinzip ist dies ein Verbot von Demonstrationen, aus Angst vor den Mobilisierungen, die bei einer möglichen Wahlfälschung zu erwarten sind.
Castillo ist sich sicher, die Zukunft Honduras werde sich nicht bei den Wahlen allein entscheiden, sondern anhand der Mobilisierungsfähigkeit der Kritiker:innen auf der Strasse, durch internationale Vernetzungen und dem Druck von unten. Er setzt dabei auf eine politische Neugründung des Landes: „Wir brauchen eine neue Verfassung, eine demokratische, damit die Bevölkerung ihre eigenen Gesetze machen kann und diese dann auch verteidigen will, da sie sich mit ihnen identifiziert.“
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