„Was ist mit Vulva gemeint?“ Die Frage leuchtet den Primarschüler*innen in blauer Schrift auf einem orangen Hintergrund entgegen. Darunter die drei Antwortmöglichkeiten: „A) Das ist ein anderes Wort für Vagina. B) Das ist ein
anderes Wort für Scheide. C) Das beschreibt die äusseren (sichtbaren) Geschlechtsteile der Frau.“
Die Jugendlichen sitzen im Klassenzimmer, in kleine Gruppen aufgeteilt. Sie tuscheln miteinander, plötzlich schnellt eine Hand in die Höhe. „Antwort C“, sagt der Schüler. Die Sexualpädagogin nickt: „Das stimmt.“
Etwa so könnte es ablaufen, wenn Sexualpädagog*innen von der Fachstelle S&X Sexuelle Gesundheit Zentralschweiz den Sexualkundeunterricht beginnen. Gemäss dem Jahresbericht 2020 kreierte das Team nach dem Lockdown 2020 ein interaktives Online-Quiz, das mit der ganzen Klasse gespielt werden kann, während die Abstandsregeln eingehalten werden. Da die Rückmeldungen durchwegs positiv gewesen seien, ist das Quiz weiterhin im Einsatz.
Neben Geschlechtsorganen, Menstruation, Schwangerschaft, sexuell übertragbaren Krankheiten und Verhütung gehören auch zwischenmenschliche Themen wie Freundschaft, Liebe, Beziehungen und „das erste Mal“ zum Sexualkundeunterricht. Erste sexuelle Erfahrungen zu machen, ist spannend und die Beteiligten sind meistens aufgeregt. Umso wichtiger ist es, dass alles konsensuell geschieht. Inmitten der Revision des Sexualstrafrechts, wo über die Nur-Ja-heisst-Ja-Lösung debattiert wird, stellt sich die Frage: Wird Konsens im Sexualkundeunterricht überhaupt thematisiert?
Nach Gesprächen mit Jugendlichen, Schulrektor*innen und Sexualpädagog*innen wird klar: Nicht unbedingt. Die Unterschiede zwischen einzelnen Schulen oder gar Klassen sind gross.
Geburt statt Konsens
„Wir haben viel über Verhütung und Geburt gesprochen“, erinnert sich Jana Kaufmann. Die 16-Jährige hat vor kurzem die Sekundarschule in Luzern abgeschlossen und erzählt vom Sexualkundeunterricht in der zweiten Klasse. Zwei Sexualpädagog*innen hätten einen Vormittag mit der Klasse verbracht. „Ich fand gut, dass es externe Personen waren“, so Jana. Mit der Lehrperson, die einen sowieso immer unterrichte, sei so ein Thema schwieriger zu besprechen.
Ob sie wisse, was Konsens sei? Das Wort an sich versteht sie nicht, das Konzept schon eher. Dass alle Beteiligten zu einer sexuellen Handlung einwilligen sollen, damit es konsensuell ist, findet sie logisch. Im Unterricht hiess es, „man solle klar ‚Nein‘ sagen, wenn man etwas nicht wolle“, so die Jugendliche. „Aber spezifisch thematisiert wurde das ansonsten nicht.“
Welche Themen werden denn normalerweise im Sexualkundeunterricht behandelt? „Wir sprechen generell die Themen Körper, Liebe, Beziehung, Sexualität und Verhütung an“, antwortet Samuel Wespi. Er ist seit eineinhalb Jahren als Sexualpädagoge bei der Fachstelle S&X tätig. Das Angebot von S&X inkludiert Schulbesuche, bei denen eine Sexualpädagogin und ein Sexualpädagoge eine Klasse besuchen und drei Lektionen mit ihnen arbeiten. Dies ist gemäss ihrer Webseite als Ergänzung zur schulischen Sexualerziehung gedacht.
Der Unterricht gestalte sich immer ähnlich, so Wespi, ausser wenn Lehrpersonen spezifische Wünsche anbringen – was selten passiere. Der erste Teil des Unterrichts basiere auf dem Online-Quiz, der zweite Teil werde den Fragen der Schüler*innen gewidmet.
Konsensuelles Tee-Trinken
Das Thema Konsens wird in einer Quiz-Frage behandelt: „Zwei Jugendliche wollen zum ersten Mal miteinander knutschen. Wie merken sie, ob die andere Person damit einverstanden ist, was sie während des Küssens machen wollen?“
Die richtige Antwort: Die Körpersprache der Person beachten und bei Unsicherheit nachfragen. Nach der Diskussion der Frage gingen die Sexualpädagog*innen näher auf das Thema ein, so Wespi. „Wir erklären zum Beispiel, dass dies für alle sexuellen Handlungen gilt und dass vor sowie während der Handlungen gefragt werden kann, ob sie in Ordnung sind.“ Sie würden auch darüber reden, wieso es schwierig sein kann, „Nein“ zu sagen.
Ergänzend dazu zeigen die Sexualpädagog*innen laut Wespi auch gerne ein Youtube-Video, das Konsens anhand einer Metapher über Tee-Trinken erklärt: Eine Off-Stimme erzählt von verschiedenen Situationen, während Zeichnungen das Gesagte visualisieren. Während das Quiz von der Zeit her nie ganz fertiggespielt werden könne, sei das Tee-Video seit Ostern 2022 fester Bestandteil ihres Unterrichts und werde immer gezeigt. Dies sei an einer Sitzung beschlossen worden, da die einzelnen Sexualpädagog*innen dies vorher unterschiedlich gehandhabt hätten.
Nein sagen
Was im Unterricht in welchem Umfang behandelt werden soll, legt für Volksschulen der Lehrplan 21 fest. Der Lehrplan 21 wurde 2014 eingeführt, um die Ziele der Volksschulen in der Deutschschweiz zu vereinheitlichen, dennoch hat jeder Kanton seine eigene Version. Wer im Luzerner Lehrplan nach dem Fach Sexualpädagogik sucht, wird enttäuscht. Aspekte der Sexualkunde sind jedoch in den Fachbereichen „Lebenskunde“, „Natur und Technik“ und „Natur, Mensch, Gesellschaft“ zu finden.
Konsens wird nicht wörtlich erwähnt, sondern höchstens angedeutet. Ein Lernziel fordert: Schüler*innen „kennen ihre Rechte im Umgang mit Sexualität und respektieren die Rechte anderer“.
Ein anderes nennt das „Nein-Sagen“. Eine Lehrperson, die das Lernziel sehr wörtlich liest, bringt den Schüler*innen bei, Nein zu sagen – eine nützliche Fähigkeit, die bewiesenermassen aber keine sexuellen Übergriffe verhindert. Eine andere Lehrperson, die dem Sexualkundeunterricht etwas mehr Gewicht gibt, lädt vielleicht zwei Sexualpädagog*innen von S&X ein. Diese sprechen wiederum über Konsens.
Schulen und zum Teil sogar einzelne Lehrpersonen sind frei in ihrem Entscheid, ob sie externe Fachpersonen für den Sexualkundeunterricht beiziehen oder nicht. Das bestätigt Vreni Völkle, Rektorin der Luzerner Volksschule.
Wenn sich eine Schule dafür entscheidet, kann es jedoch sein, dass gar keine externen Fachpersonen verfügbar sind. Laut Samuel Wespi müsse S&X auf Anfragen von Schulen immer wieder absagen, da sie die Nachfrage nicht decken können. Relevant ist dies insbesondere, da eine Studie der Hochschule Luzern (HSLU) schon 2018 zum Schluss kam, dass externe Fachpersonen für den Sexualkundeunterricht besonders geeignet sind.
Das Bildungs- und Kulturdepartement des Kantons Luzern unterstützt zwar die Sexualpädagogik der Fachstelle S&X mit 215 000 Franken pro Jahr. Doch dieser Betrag wurde seit mindestens 2015 nicht verändert – obgleich die hohe Nachfrage nach Fachpersonen und die Studienergebnisse für eine Erhöhung sprächen.
Kantonsschulen machen’s selbst
Während Primar- und Sekundarschulen mit dem Lehrplan 21 zumindest innerhalb desselben Kantons dieselben Vorgaben haben, haben Kantonsschulen ihre eigenen Lehrpläne. Die grösste Luzerner Kantonsschule Alpenquai ziehe „in der Regel keine externen Fachpersonen bei“, schreibt Rektor Hans Hirschi auf Anfrage. Sie gingen davon aus, dass lehrplangebundene Inhalte von den zuständigen Lehrpersonen vermittelt werden können.
Ähnlich klingt es bei der Kantonsschule Willisau: „Im Fach Biologie haben wir die Expertinnen und Experten im Haus“, so Rektor Martin Bisig. Den Inhalt und die Qualität des Unterrichts zu kontrollieren, ist derweil in beiden Kantonsschulen Aufgabe der Schulleitung – welche wohl kaum ihre eigenen Lehrpersonen an den Pranger stellen würde.
Eine Schülerin, die kürzlich ihren Sexualkundeunterricht bei ihrem Biologielehrer hatte, ist Lisa Pichler*. Die 14-Jährige listet die Themen des Unterrichts auf: „Geschlechtsorgane, Menstruation, Verhütung, Aufbau von Spermien und Eizellen, Befruchtung, Entwicklung eines Embryos, Geburt.“ Zwischenmenschliches wie Beziehungen oder „das erste Mal“ sei nicht so Thema gewesen, das hätte sie aber damals in der sechsten Klasse schon gehabt. „Meinem Biolehrer würde ich solche persönlichen Fragen gar nicht stellen wollen“, so Lisa.
War Konsens ein Thema? „Er meinte, es müssen sicher beide einverstanden sein“, erzählt die Jugendliche. Das habe er ein paar Mal erwähnt, mehr nicht.
Während Lehrpersonen wohl tatsächlich als Expert*innen in ihrem Fach gelten dürften, ist Sexualkunde aktuell weder ein eigenes Schulfach, noch fällt es per se in die Expertise der Biologielehrperson. Doch auch eine perfekt vorbereitete Lehrperson kann nicht die nötige Anonymität gewährleisten, die Schüler*innen bei diesem intimen Thema verständlicherweise vorziehen.
Konsens passiert jeden Tag
Die Variablen, die einen Einfluss auf den Sexualkundeunterricht haben, sind vielfältig: Verfügbarkeit von externen Fachpersonen, finanzielle Mittel, Zeitdruck, Interpretation des Lehrplans, Vorgaben der Schulleitung.
„Der Punkt ist: Es steht und fällt mit der Lehrperson“, erklärt Linda Bär, Fachperson sexuelle Gesundheit in Bildung und Beratung. Einfluss darauf hätten zum Beispiel pädagogische Hochschulen, die Lehrpersonen ausbilden. Bär ist selbst als Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Zürich tätig und arbeitet als Sexualpädagogin und Beraterin bei der Zürcher Fachstelle für Sexualpädagogik und Beratung Lust & Frust.
Wenn Bär als Sexualpädagogin drei Lektionen mit einer Klasse zusammen verbringe, spreche sie „natürlich“ über Konsens und erläutere Methoden dazu – doch das reiche nicht weit. „Konsens passiert jeden Tag“, so Bär, und betreffe nicht nur die Sexualität.
Ein Beispiel, das Bär gerne bringt, ist die Pizza. Wenn man mit jemandem zusammen Pizza essen gehe, spreche man zuerst darüber, welchen Belag man gerne hätte und welchen auf keinen Fall. Vielleicht einige man sich darauf, etwas Neues auszuprobieren. Nach dem Essen spreche man zusammen darüber, wie die Pizza war und ob man das nächste Mal etwas anders machen möchte.
Eigentlich seien wir sehr gut darin, zu merken, ob jemand sein Einverständnis gibt oder nicht, sagt Bär. Doch was bei der Pizza für viele logisch scheint, fällt bei der sexuellen Begegnung plötzlich weg. „Wir haben das Gefühl, dass Sex etwas Natürliches sei, das wir einfach können“, erklärt Bär. Doch dem sei nicht so. „Konsens beim Sex kann sich am Anfang komisch und fremd anfühlen, doch das kann man üben.“
Die Fachperson ist sich sicher: „Wenn du Konsens im Alltag umsetzen kannst, kannst du es eher in der Sexualität. Und darum musst du von dem Moment an, wo du anderen Menschen begegnest, Konsens lernen.“
Linda Bär beginne ihren Sexualkundeunterricht meistens damit, die Schüler*innen zu fragen, wie sie heute da seien: müde, motiviert, neugierig, ängstlich? „Das ist auch schon Konsens – Gefühle wahrnehmen, benennen und uns ineinander einfühlen.“
Was sinnvoll tönt, ist offensichtlich für die Wenigsten Realität. Dass Konsens einem Kind zu Hause, im Kindergarten und in der Schule aktiv vorgelebt wird, ist nicht garantiert. Nicht einmal der Lehrplan 21, der immerhin den Unterricht ab dem Kindergarten bis und mit der Sekundarschule in der Deutschschweiz vereinheitlichen sollte, sieht Konsens im Sexualkundeunterricht vor, geschweige denn im Unterricht überhaupt.
Was Konsens in der Sexualität, aber auch im Allgemeinen betrifft, fehlt das gesamtgesellschaftliche Wissen und somit auch die Umsetzung. Während feministische Stimmen dafür kämpfen, dass die Konsens-Lösung ins Gesetz geschrieben wird, muss das Konzept Nur-Ja-heisst-Ja auch wirklich in der Gesellschaft ankommen. Das geschieht nur durch Bildung – doch dort grassiert momentan die Willkür.
*Name von der Redaktion geändert.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 45 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 2600 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 1575 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 765 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?