Nachdem sich die Neonazis der Jungen Tat Anfang Jahr immer mehr an die Spitze der Coronaproteste gedrängt haben. Nachdem sie im Juni einen Pride-Gottesdienst in Zürich störten, Anfang Oktober vor einer Schule im schaffhausischen Neuhausen mit islamophoben Parolen protestierten und erst kürzlich Kinder und queere Künstler*innen bei einem Kulturanlass belästigt haben.
Nachdem die Republik rekonstruierte hat, wie die Staatsanwaltschaft Zürich einen Rechtsextremen, der einen Antirassisten fast zu Tode gestochen hat, mit Samthandschuhen behandelt hat. Nachdem vor zwei Wochen ein Schweizer Rechtsextremer auf der italienischen Seite des Lago Maggiore mit einem Schweizer Sturmgewehr Jagd auf Menschen machte – nach all diesen Vorfällen also stellte Kriegsreporter Kurt Pelda auf Twitter lapidar die Frage: „Wo in der Schweiz hat es denn in letzter Zeit rechte Gewalt gegeben?“
Scheinbar führt das genderkritische, chauvinistische Grundrauschen, das immer grössere Teile der Schweizer Medien- und Politlandschaft erfasst, dazu, dass selbst Journalisten wie Kurt Pelda, der sich sehr gut in der Szene auskennt, rechtsextreme Gewalt nicht mehr als das erkennen, was sie ist. Rechtsextreme Konzepte – der angebliche Bedeutungsverlust von Männern, die vermeintliche Gefahr, die von trans Personen ausgeht – haben sich längst in das Sediment des öffentlichen Diskurses gefressen.
Die Losung „Familie statt Gender-Ideologie“, die auf dem Transparent der Jungen Tat beim Angriff auf die Dragqueen-Storyhour stand, könnte so ähnlich auch in der Weltwoche oder in einem Gastbeitrag der NZZ stehen. Und wenn selbst ein Bundesratskandidat der grössten Partei im Land sich dem Kampf gegen die Gender-Ideologie, dem Angriff „gegen den Archetypus des Mannes“, verschreibt, wie soll denn das, was die Junge Tat da tut, gewaltvoll sein?
Ohne jegliche Einordnung
Diese konzeptionelle Kopflosigkeit zeigte sich am eindrücklichsten in einer Analyse der SRF-Tagesschau von Anfang Woche. In einem Beitrag werden zwei Ereignisse besprochen und miteinander vermischt: der rechtsextreme Angriff auf die Dragqueen-Storyhour in Zürich und der antifaschistische Abendspaziergang vom vergangenen Samstag in Bern, bei dem es gemäss Polizeiaussagen zu Schmierereien und vereinzelten Steinwürfen kam.
In der Textversion des Tagesschau-Beitrags werden die beiden Ereignisse gleich zu Beginn als Aktionen von „Schweizer Extremisten“ beschrieben. Danach wird der „Lagebericht des Nachrichtendienstes zur Sicherheit 2022“ zur Einordnung zitiert, der aufzeigt, dass der Nachrichtendienst 2021 mehr Gewalttaten dem linksextremen als dem rechtsextremen Spektrum zuordnen konnte. Eine Statistik, die übrigens auch die Neonazis der Jungen Tat gerne online teilen.
Dabei ordnen die Journalisten die NDB-Statistik mit keinem Wort ein. So ist die Methodik, wie der Nachrichtendienst Ereignisse dem linksextremen oder rechtsextremen Spektrum zuordnet, nicht im Bericht ausgewiesen. Genauso wenig ab wann ein solches als gewalttätig gilt.
Ein Beispiel für „gewalttätig linksextrem“ aus dem NDB-Bericht: Das Bild einer #BaselNazifrei-Demo vom Januar 2021 – eine Demonstration also, bei der es gemäss dem anwesenden Bajour-Journalisten erst dann zu Auseinandersetzungen kam, als die Polizei aus kürzester Entfernung mit Gummischrot auf Demonstrierende schoss.
Was aber gelegentlich für Hirnakrobatik betrieben wird, um die Motivation hinter rechtsextremer Gewalt zu verschleiern, hat nicht zuletzt der Fall der Zürcher Messerattacke gezeigt, den die Republik rekonstruiert hat.
Mehr als ein Hufeisen
Sei‘s drum: Zum Schluss des SRF-Tagesschau-Artikels erhält noch der besorgte Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause das Wort – und notabene kein Opfer der Gewalt –, bevor die Journalist*innen zum Schlusssatz ausholen: „Linke, die wieder Hundertschaften – zum Teil Gewalttätige zu mobilisieren vermögen, wie am Samstagabend, und Rechtsextreme, die immer selbstbewusster und provokativer auftreten, dürften diese Tendenz befeuern.“
Auf der oberflächlichen Ebene ist der Artikel ein Hufeisen erster Güteklasse und als solches nicht überraschend: Das Hufeisen ist sozusagen das Sternzeichen der Schweizer Politik, deren Selbstverständnis darauf aufbaut, dass das politische Zentrum immer zwischen zwei Punkten liegt, egal wie weit nach rechts sich das politische Koordinatensystem verschoben hat.
Dass die beiden Phänomene zusammen behandelt werden, verschleiert die unterschiedlichen Vektoren und Ziele der Gewaltformen: Die Junge Tat dringt in geschlossene Räume ein, mit dem einzigen Ziel, bereits marginalisierten Gruppen klarzumachen, dass sie nirgendwo und zu keiner Zeit sicher sind, erst recht nicht auf der Strasse.
2020, als man im Sicherheitsbericht des Nachrichtendiensts lesen konnte, dass der Rechtsextremismus sich wieder in den Schatten zurückziehe, gaben in einer landesweiten Befragung über die Hälfte der Jüd*innen an, in den letzten fünf Jahren real oder online antisemitisch belästigt worden zu sein. Mehr als ein Fünftel gab an, dass sie jüdische Veranstaltungen oder Stätten im Wohnort meiden würden, weil sie sich auf dem Weg nicht sicher fühlen würden.
Die Gewalt von links, die dieser Form der allgegenwärtigen verbalen und körperlichen Gewalt von rechts im Tagesschau-Beitrag gleichgesetzt wird, sind Schmierereien im öffentlichen Raum und ein Steinwurf gegen tatsächliche Hundertschaften in Vollmontur. Man muss Letzteres nicht verharmlosen, um aufzuzeigen, wie lächerlich die Gleichsetzung ist.
Wie Gewalt unsichtbar wird
Der Artikel leistet aber weit mehr als der klassische Hufeisenvergleich: Die Aktion der Jungen Tat wird sogar als gewaltlos geframt – als spitzbübisch, „selbstbewusst und provokant“. Auf der anderen Seite formieren sich, so die SRF-Journalist*innen, „Hundertschaften“ von gewaltbereiten Linksextremen.
Dass dieses Framing keine semantische Ungenauigkeit war, sondern der ganze Kern der Analyse ist, zeigt sich spätestens dann, als SRF-Extremismusexperte Daniel Glaus, der auch den Tagesschaubeitrag verantwortete, vor die Kamera tritt:
Neonazis, so erklärt Glaus mit hochgezogener Augenbraue, sähen die „weisse Familie aus Mann und Frau“ durch Migration und den angeblichen „woke-Wahnsinn“ bedroht. Dafür würden sie in Krafträumen und an der Waffe trainieren. „Linksextreme haben darauf eine ganz klare Antwort: Selbstjustiz.“ Sie, also die Linksextremen, würden definieren, wer rechtsextrem sei und würden diese dann angreifen.
Oder anders gesagt: Während die extreme Rechte aus einer gefühlten Bedrohungslage agiert, definieren die „Hundertschaften“ von gewaltbereiten Linksextremen selbst willkürlich ihre Feinde und greifen diese an. Rechtsextremismus als Selbstverteidigung, Linksextremismus als reine Agitation.
Diese Verschiebung des politischen Koordinatensystems und das Mainstreaming von rechtsextremen Konzepten hat ausserhalb der Medienkritik reale Konsequenzen: Die Tötung von Malte C., einem trans Mann, der im August bei einer queerfeindlichen Attacke auf ein lesbisches Paar in Münster eingriff und von einem Mann getötete wurde, dient als düstere Mahnung, dass auf Worte Taten folgen.
Dass dieser Beitrag die Qualitätssicherung der SRF-Redaktion überstanden hat, ist beunruhigend: Das öffentlich-rechtliche Medienhaus geniesst zu Recht eine hohe Glaubwürdigkeit. Umso fataler eine solch diskursblinde Analyse, die rechtsradikale Gewalt nicht nur verharmlost, sondern ihr sogar vorauseilend abspricht, Gewalt zu sein. Nicht, weil man die Inhalte, die dahinterstehen, unterstützt, sondern weil sie schon so tief in den Diskurs gesickert sind, dass sie gar nicht mehr als das erkannt werden, was sie sind.
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