Emis­si­ons­han­dels­sy­stem: Eine Flat­rate auf Monsteremissionen

Der Bund erliess den grössten Umwelt­ver­schmut­zern von 2013 bis 2020 drei Milli­arden Franken an CO2-Abgaben und schenkte ihnen gleich­zeitig Emis­si­ons­rechte im Wert von schät­zungs­weise 361 Millionen Franken. Das zeigen bislang unver­öf­fent­lichte Berech­nungen vom Online­ma­gazin das Lamm. 
Illustration: Luca Mondgenast

Sach­buch: CO2-Ausstoß zum Nulltarif

Auf der Grund­lage dieser Arti­kel­serie ist ein Sach­buch entstanden, welches am 18.02.2024 beim Rotpunkt­verlag in Zürich erschienen ist. Das Buch „CO2-Ausstoß zum Null­tarif – Das Schweizer Emis­si­ons­han­dels­sy­stem und wer davon profi­tiert“ ist bei uns im Shop oder in der Buch­fi­liale deines Vertrauens erhältlich.

In Kürze

  • Das Lamm veröf­fent­licht die erste allum­fas­sende Analyse des Schweizer Emis­si­ons­han­dels­sy­stems (EHS).
  • Unsere Berech­nungen zeigen: Gross­kon­zerne zahlten über das EHS in den letzten Jahren wenig bis nichts für ihre Emissionen. 
  • Dem Staat entgingen dabei 2.9 Milli­arden Franken an CO2-Abgaben. Gleich­zeitig schenkte der Bund allen Firmen im EHS Gratisemissionsrechte.
  • Viele Firmen erhielten gar mehr Gratis­rechte, als sie selber benö­tigten. Diese über­schüs­sigen Emis­si­ons­rechte haben einen Wert von schät­zungs­weise 361 Millionen Franken und können von den Firmen am Emis­si­ons­markt verkauft werden.

Eigent­lich muss in der Schweiz eine Abgabe zahlen, wer fossile Brenn­stoffe verbraucht und damit CO2 verur­sacht. Das ist eines der Haupt­in­stru­mente der Schweizer Klima­po­litik. Die grössten CO2-Verur­sa­cher sind davon jedoch ausge­nommen, weil das für sie zu teuer würde. Statt­dessen müssen sie ledig­lich beim Emis­si­ons­han­dels­sy­stem (EHS) mitma­chen und dort für jede Tonne CO2, die sie verur­sa­chen, ein Zerti­fikat, sprich ein Emis­si­ons­recht, abgeben. Die Zerti­fi­kate erhalten die Konzerne jedoch gröss­ten­teils vom Bund zuge­teilt. Gratis. 

Eine Recherche von das Lamm zeigt nun: Das System funk­tio­nierte bis anhin nicht. Schlimmer noch: Die Gross­ver­ur­sa­cher von CO2-Emis­sionen nutzten das System, um damit Geld zu verdienen. Emis­si­ons­re­duk­tionen, um in nütz­li­cher Frist auf null zu kommen, wurden nicht erreicht.

Der Haupt­grund dafür sind die Gratis­zer­ti­fi­kate. Der Bund möchte mit dem Austeilen der Gratis­zer­ti­fi­kate verhin­dern, dass sich die für die Klima­gas­emis­sionen verant­wort­liche Produk­tion aufgrund hoher CO2-Kosten in ein anderes Land verla­gert – Stich­wort: Carbon-Leakage. Unsere Recher­chen zeigen: So gut wie alle privat­wirt­schaft­li­chen Firmen im Schweizer EHS profi­tierten in der letzten Handel­s­pe­riode mit dieser Begrün­dung von einer extra gross­zü­gigen Zutei­lung an Gratiszertifikaten.

Zwar ist es in der Schweiz nicht mehr kostenlos, das Klima zu bela­sten – aber nicht alle zahlen denselben Preis.

Das Resultat: Dem Staat entgingen von 2013 bis 2020 nicht nur drei Milli­arden Franken an Staats­ein­nahmen, sondern er verschenkte auch mehr Zerti­fi­kate an die EHS-Konzerne, als diese für ihre eigenen Emis­sionen brauchten. Diese über­schüs­sigen Zerti­fi­kate können von den Firmen gewinn­brin­gend verkauft werden. Der aktu­elle Gegen­wert aller ange­häuften Emis­si­ons­rechte beläuft sich, Stand 25. Januar 2023, schät­zungs­weise auf 361 Millionen Franken. 

Ein Beispiel: Der Baustoffriese Holcim hat in der letzten Handel­s­pe­riode schät­zungs­weise 1.8 Millionen Franken für seine Klima­gas­emis­sionen bezahlt. Würden für den Konzern jedoch dieselben Regeln gelten wie für uns alle, hätte Holcim 833 Millionen hinblät­tern müssen. Das Fazit: Zwar ist es in der Schweiz nicht mehr kostenlos, das Klima zu bela­sten – aber nicht alle zahlen denselben Preis. 

Denn während die grössten Klima­killer glimpf­lich davon­kommen, bezahlen Privat­per­sonen und die meisten Schweizer Firmen 120.– Franken CO2-Abgabe auf jede Emis­si­ons­tonne aus fossilen Brenn­stoffen. Das wirft Fragen auf: Wieso gibt es in der Schweiz verschie­dene Bezahl­sy­steme für Klima­gas­emis­sionen? Wie viele Tonnen Gratis­e­mis­sionen erhielten die Gross­kon­zerne? Welche Firmen haben gespart oder gar Profit gemacht bei diesem CO2-Spezi­al­deal? 

Diesen und weiteren Fragen geht das Lamm in der mehr­tei­ligen Serie EHS: Eine Flat­rate auf Monster­emis­sionen nach. Damit veröf­fent­licht das Lamm erst­mals eine allum­fas­sende Analyse der vergan­genen EHS-Handel­s­pe­riode von 2013 bis 2020. 

Nicht nur die Schweiz, sondern auch die EU setzen trotz all dem stark auf das Emis­si­ons­han­dels­sy­stem. Deshalb wird es sich wohl zu einem der wich­tig­sten Polit-Instru­mente im Kampf gegen die Klima­krise entwickeln. Umso wich­tiger wäre es, dass die darin abge­wickelten Klima­deals trans­pa­rent kommu­ni­ziert werden. Dies ist bis heute nicht der Fall. Denn die Regeln des EHS sind dermassen verschach­telt und irre­füh­rend, dass kaum eine klare Doku­men­ta­tion und Auswer­tung möglich ist.

Mehr als einmal haben wir uns während der Recherche gedacht: Das kann doch nicht sein, irgend­etwas verstehen wir falsch, über­sehen wir. Aber nein: Im Nach­hinein hat sich jeweils heraus­ge­stellt, dass wir vieles durchaus richtig verstanden haben. Wir hatten ledig­lich die Absur­dität des EHS unterschätzt.

Falls auch du im Laufe der folgenden sieben Artikel an einen Punkt kommst, an dem du denkst: „Das kann nicht sein!“, empfehlen wir dir: „Zweifle nicht nur an dir selbst, sondern auch am System EHS.“ Denn so einiges am Emis­si­ons­han­dels­sy­stem scheint zwar unglaub­lich – ist aber trotzdem wahr.

Was ist das EHS und wer rechnet seine Klima­gas­emis­sionen darin ab?

Im Schweizer Emis­si­ons­han­dels­sy­stem (EHS) werden Rechte für den Ausstoss von Klima­gasen gehan­delt. Grosse Schweizer Indu­strie­an­lagen wie Zement­werke, Raffi­ne­rien, Papier­fa­briken, Stahl­kon­zerne oder Phar­ma­riesen rechnen ihre Klima­ko­sten im EHS ab – mit dem Ziel, die Emis­sionen zu senken. Rund 40 Firmen mit etwa 50 verschie­denen Indu­strie­an­lagen waren in der vergan­genen Handel­s­pe­riode im EHS betei­ligt. Darunter auch bekannte Namen wie Holcim, BASF, La Roche oder der Flug­hafen Zürich. Ende 2020 ging die zweite Handel­s­pe­riode zu Ende.

Konnte das EHS die Emis­sionen der Schweizer Indu­strie redu­zieren?

In acht Jahren konnten die EHS-Konzerne laut dem eidge­nös­si­schen Emis­si­ons­han­dels­re­gi­ster ihre Emis­sionen um 0.6 Millionen Tonnen Klima­gase redu­zieren. Die für diese Berech­nung verwen­deten Zahlen werden jedoch durch Austritte und Konkurse verfälscht. Im besten Fall konnten die EHS-Firmen von 2013 bis 2020 rund 10 Prozent Emis­si­ons­re­duk­tionen vorweisen. Das ist nicht nichts, aber um in nütz­li­cher Frist auf null zu kommen, ist das deut­lich zu langsam.

Wieso sind die Klima­ko­sten für Unter­nehmen im EHS tiefer als die allge­mein­gül­tige CO2-Abgabe?

Wenn Firmen ihre Klima­ko­sten über das Emis­si­ons­han­dels­sy­stem (EHS) abrechnen, sind sie von der CO2-Abgabe (120.– Franken pro Tonne) befreit. Dafür müssen sie für jede Tonne CO2, die sie in die Luft pusten, ein EHS-Zerti­fikat abgeben. Diese Zerti­fi­kate sind aber bedeu­tend billiger als die CO2-Abgabe (Stand 25. Januar 2023: rund 80.– Franken). Zudem müssen die Firmen nur für einen Bruch­teil ihrer Emis­sionen Zerti­fi­kate kaufen. Den Gross­teil der Zerti­fi­kate erhalten die EHS-Firmen vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) geschenkt.

Wieso verschenkt das BAFU Emis­si­ons­rechte?

Die Vergabe der Gratis­zer­ti­fi­kate dient dem Schutz vor soge­nanntem Carbon-Leakage. Unter Carbon-Leakage versteht man die Abwan­de­rung der Klima­gas­emis­sionen in Länder mit weniger hohen Klima­ko­sten. Das Verhin­dern von Carbon-Leakage durch das Verteilen von Gratis­zer­ti­fi­katen ist dementspre­chend eine Mischung aus Klima­schutz und dem Schutz der inlän­di­schen Wett­be­werbs­fä­hig­keit. Je nach Branche ist jedoch weit­ge­hend unklar, ob es für die betrof­fenen Firmen über­haupt infrage käme, ins Ausland abzuwandern.

Wie wirken sich die tieferen Klima­ko­sten auf die Dekar­bo­ni­sie­rung der Indu­strie aus?

Die Politik konzi­pierte ein System, das für CO2 einen Preis einführen sollte, um emis­si­ons­in­ten­sive Konzerne dazu zu bewegen, das Klima weniger zu bela­sten. Doch weil das Instru­ment tatsäch­lich funk­tio­nieren würde, schenkt die Politik den Firmen mit den höch­sten Emis­sionen Gratis­zer­ti­fi­kate, um die Kosten für eben diese Unter­nehmen tief zu halten. Oder anders ausge­drückt: Die gross­zügig verteilten Gratis­zer­ti­fi­kate scheinen das eigent­lich wirk­same Instru­ment zur Reduk­tion des CO2-Ausstosses zu sabotieren.

Die Spiel­re­geln des EHS werden vorwie­gend von der EU vorge­geben. Kann die Schweiz hier über­haupt Einfluss nehmen?

Bis zu einem gewissen Grad schon. Einer­seits könnte die Schweiz ihre natio­nale Klima­ge­setz­ge­bung besser mit den Regeln des EHS harmo­ni­sieren. Zum Beispiel indem den EHS-Konzernen die Diffe­renz zwischen den Kosten im EHS und den CO2-Abgaben trotzdem in Rech­nung gestellt würde. Ande­rer­seits gibt es eine weitere Bevor­tei­lung der EHS-Konzerne, die auf der Schweizer Gesetz­ge­bung basiert und nichts mit den euro­päi­schen Regeln des EHS zu tun hat: Firmen, die über das EHS abrechnen, sind zwar von der CO2-Lenkungs­ab­gabe befreit, profi­tieren aber trotzdem von deren Rück­ver­tei­lung. Die CO2-Lenkungs­ab­gabe wird gröss­ten­teils an die Schweizer Bevöl­ke­rung zurück verteilt. Damit soll klima­freund­li­ches Verhalten belohnt werden. Aber auch EHS-Firmen erhalten bei dieser Rück­ver­tei­lung Geld, obwohl sie gar keine CO2-Abgabe bezahlt haben. Bei den EHS-Firmen entwickelt die CO2-Abgabe also genau den gegen­tei­ligen Effekt: Anstatt dass das Geld von klima­feind­lich zu klima­freund­lich umver­teilt wird, fliesst es von klima­feind­lich zu ultra-klimafeindlich. 

Die vorlie­gende Recherche bezieht sich auf die vergan­gene EHS-Handel­s­pe­riode. Wie sieht die Zukunft des EHS aus?

Die EU wird den EHS im Rahmen des „Fit for 55“-Programms voraus­sicht­lich verschärfen. Bis die fossile Indu­strie jedoch tatsäch­lich adäquat zur Kasse gebeten wird, könnten noch mehrere Jahre vergehen. Die voll­stän­dige Abschaf­fung der Gratis­zer­tif­kate ist nach den aktu­ellen Plänen der EU erst im Jahr 2034 geplant.

Die Recher­chen für diesen Artikel wurden vom Peter Hans Hofschneider-Recher­che­preis für Wissen­schafts- und Medi­zin­jour­na­lismus der Stif­tung Expe­ri­men­telle Biome­dizin unter­stützt. Der Recher­che­preis wird in Zusam­men­ar­beit mit dem Netz­werk Recherche vergeben.


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Die Produk­tion aller sieben Beiträge der EHS-Recherche hätte eigent­lich 14’080 Franken geko­stet
(640 Arbeits­stunden à 22 Franken)

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