Dies Irae: „Adbu­sting muss weh tun!“

Sie verän­dern Werbe­pla­kate, um auf poli­ti­sche Miss­stände aufmerksam zu machen: Dies Irae machen seit sieben Jahren Adbu­sting im deutsch­spra­chigen Raum. Die „Tage des Zorns“ haben sich der klaren poli­ti­schen Botschaft verschrieben und bereiten sich gerade auf ihr Post-Corona-Come­back vor. 
Plakatwerbung verändern bis zur Kenntlichkeit (Foto: Dies Irae)

Lock­downs, Quaran­täne, geschlos­sene Läden, gesperrte Fussgänger:innenzonen und sogar Ausgangs­ver­bote: Noch nie in der jüngeren Vergan­gen­heit war der öffent­liche Raum so lange versperrt wie im letzten Jahr. Nicht nur in der Schweiz kündigt sich da allmäh­lich eine Locke­rung an. Die Aussichten stehen gut, dass uns der öffent­liche Raum bald wieder offen zur Verfü­gung steht. Da stellt sich natür­lich die Frage: Was anfangen mit all dem Raum, an den wir viel­leicht gar nicht mehr gewöhnt sind? Johannes von Dies Irae schlägt vor, es mal mit Adbu­sting zu versu­chen, und erklärt im Inter­view mit das Lamm, was es dafür braucht.

Johannes, du bist aktiver Adbu­ster bei Dies Irae. Wie geht ihr vor, wenn ihr eine Aktion starten wollt?

Dies Irae heisst „Tage des Zorns“. Unser Motto lautet: Adbu­sting muss wehtun. Und darum fragen wir am Anfang jeder Aktion: Was macht uns gerade so richtig wütend? Erst wenn wir das gefunden haben, können wir aktiv werden.

Und was macht dich heute so richtig wütend?

Das ist einfach. Mich macht gerade wütend, dass die NSU-Akten in Hessen nicht frei­ge­geben werden. In Hessen wurden Daten­ab­fragen von Polizist:innen auf Poli­zei­com­pu­tern gemacht. Abge­fragt wurden persön­liche Daten zu Wohnort und Familie von Menschen, die sich gegen Rechts­extre­mismus einsetzen. Diese Daten wurden dann offenbar an Rechts­extreme weiter­geben, die daraufhin die Menschen mit anonymen Briefen bedroht und einge­schüch­tert haben. Die Täter:innen nennen sich NSU 2.0. Die Polizei behauptet bis heute, sie wisse nicht, wie die Daten von ihren Compu­tern weiter­ge­geben werden konnten.

Wie geht ihr von Dies Irae damit um?

Wir sind eine Adbu­sting-Gruppe, das heisst, unser Medium ist das Werbe­plakat im öffent­li­chen Raum. Wir recher­chieren zu Fällen, die uns inter­es­sieren, und versu­chen dann, bekannte Werbung so zu verän­dern, dass sie unsere Kritik trans­por­tiert. Im Fall der Daten­wei­ter­gabe bei der Polizei ist uns ein schönes Motiv mit Helene Fischer gelungen. Eine Parship-Persi­flage mit einem Plakat, auf dem Helene Fischer abge­bildet ist. Dazu steht: „Poli­zei­ship – Alle sieb­zehn Minuten ruft ein Poli­zist Daten von Helene Fischer ab.“

Atemlos durch die Nacht, danach Privat­adressen an Rechtsextremist:innen weiter­leiten. (Foto: Dies Irae)

Was hat Helene Fischer mit dem NSU 2.0 zu tun?

Erstmal gar nichts, aber es gibt eine inter­es­sante Paral­lele: In der Nacht, in der Helene Fischer in Frank­furt ein Konzert spielte, wurden ihre persön­li­chen Daten 83-mal von der Polizei auf Poli­zei­com­pu­tern abge­rufen. Einfach weil den Cops lang­weilig war. Solche Daten­ab­fragen macht man eigent­lich nur, wenn man gegen eine Person ermit­telt oder sie kontrol­liert – was bei Helene Fischer garan­tiert nicht der Fall war. Daran wird deut­lich, wie unver­ant­wort­lich mit Poli­zei­daten umge­gangen wird. Die Wahr­schein­lich­keit, dass die Daten im Fall des NSU 2.0 direkt von Polizist:innen weiter­ge­geben wurden, ist also hoch. Darauf wollten wir aufmerksam machen.

Vor ein paar Tagen wurde als Verant­wort­li­cher für die Droh­briefe ein älterer Rechts­extre­mist aus Berlin fest­ge­nommen, der behauptet, keine Verbin­dungen zur Polizei zu haben. Ein soge­nannter Einzel­täter. Ist der Fall damit nicht erledigt?

Are you kidding? Es bleibt die Frage offen, wie der Tatver­däch­tige an Daten aus Poli­zei­com­pu­tern in Frank­furt am Main kommen konnte. Eins dürfte wohl klar sein: Ohne das Zutun der Ordnungshüter:innen hätte es die Droh­schreiben des NSU 2.0 wohl nicht gegeben. Entweder die Daten wurden nach den PC-Abfragen einfach fröh­lich weiter­ge­reicht oder die Polizei geht extrem leicht­fertig mit Daten um und gibt sie einfach raus, weil sich der mutmass­liche Täter als Kollege ausgab.

Ihr befasst euch in eurer künst­le­ri­schen Arbeit mit poli­ti­schen Themen und versucht, in Debatten einzu­greifen, um auf Miss­stände aufmerksam zu machen. Neben den Themen ist aber auch euer Medium selbst ein Poli­tikum. Jede Aktion prote­stiert gleich­zeitig gegen Werbung im öffent­li­chen Raum. Warum macht ihr das?

Die Idee der Rück­an­eig­nung ist uns mega­wichtig. Auf der einen Seite geht es natür­lich um die Inhalte – wir haben Bock, das, was uns nervt, zu verar­beiten und auf Papier zu bringen. Aber auf der anderen Seite ist es auch ein Meta­pro­test: Jedes Plakat, das nicht für den Burger oder den Bikini wirbt, sondern eine weiter­ge­hende Botschaft trans­por­tiert, bedeutet eine kleine Rück­an­eig­nung des öffent­li­chen Raums durch Menschen, denen dieser Raum eigent­lich gehört.

Gab es für dich ein Initi­al­er­lebnis, das dich auf den Gedanken gebracht hat: Ich muss mich mit Werbung auseinandersetzen?

Der Gedanke ist bei mir eher allmäh­lich gewachsen. Irgend­wann hab ich mir die Frage gestellt: Ist es eigent­lich okay, dass ich die ganze Zeit diese Plakate sehen muss, dass ich mich in einer Art Kampf­arena der Konzerne befinde, die sich mit ihrer Werbung gegen­seitig über­bieten oder sich rich­tig­ge­hend batteln: C&A gegen H&M, BMW gegen VW, alle sind besser, alle sind toller. Und alle haben fette Budgets, um uns noch mehr Werbung vor die Fresse zu knallen. Und wir Menschen werden zu passiven Zuschauer:innen degra­diert, die zugucken, aber nicht inter­ve­nieren dürfen. Dafür ist unser öffent­li­cher Raum einfach nicht da.

Von passiven Zuschauer:innen zum Akti­vismus. (Foto: Dies Irae)

Eine Rück­an­eig­nung in der Kampf­arena der Konzerne: Das klingt martia­lisch. Ist euer Vorgehen ein Akt poli­ti­scher Gewalt?

Auf keinen Fall, es ist eher eine Art Selbst­ver­tei­di­gung. Es hat mich ja auch niemand gefragt, ob ich diese Kack­pla­kate sehen will. Darum finde ich es legitim, selbst­er­mäch­tigt einzu­greifen. Der deut­sche Verfas­sungs­schutz hat aber durchaus schon versucht, das Adbu­sting in die Ecke „poli­ti­sche Gewalttat“ zu stellen. Damals wurde in Berlin mit Plakaten auf den struk­tu­rellen Rassismus bei der Polizei aufmerksam gemacht. Das fanden die vom Verfas­sungs­schutz offenbar so schlimm, dass sie gesagt haben: Adbu­sting ist ein Akti­ons­mittel der, wie sie es nennen, extre­mi­sti­schen Linken. Das haben sie dann unter die Über­schrift „Gewalt­ori­en­tierter Links­extre­mismus“ gefasst und verfolgt.

Was ist passiert?

Die Frak­tion der Links­partei im Bundestag hat eine Kleine Anfrage gestellt: Was soll das bitte mit Gewalt zu tun haben? Darauf musste der Verfas­sungs­schutz zurück­ru­dern, weil er auch nicht erklären konnte, was am Adbu­sting gewaltsam ist. Sie haben sich natür­lich zum Gespött gemacht.

Welche Wirkung strebt ihr mit eurer Kunst an?

Das Beste ist, wenn die Leute irri­tiert vor einem Plakat stehen bleiben und sich denken: „Hä? Verstehe ich nicht. Wer plaka­tiert denn so was? Und warum eigent­lich?“ Dann sieht man in den Gesich­tern der Menschen, dass da was passiert. Das ist ein sehr schönes Gefühl und es ist besser als alle Likes auf Social Media. Das ist echt. Da war eine Person für einen kleinen Moment wirk­lich irri­tiert. Und dann kann man viel­leicht davon ausgehen, dass die poli­ti­sche Botschaft ange­kommen ist.

Und trotzdem bleibt ihr auf die Werbung anderer ange­wiesen, um eure Botschaft verbreiten zu können. Seid ihr also heim­liche Verbün­dete der Werbeindustrie?

Unser Traum ist ein öffent­li­cher Raum ohne Werbung. Damit würden wir zwar unsere Spiel­wiese verlieren – all die Plakat­flä­chen, die wir kapern können –, aber das hiesse einfach nur: Ziel erreicht, und wir könnten uns endlich auf andere Art engagieren.

In der Aufmerk­sam­keits­öko­nomie der Werbung ist die Provo­ka­tion ein wich­tiges Mittel. Je krasser der Spruch, desto mehr Leute gucken hin. Ist das in eurer Kunst genauso?

Wir nutzen häufiger das Mittel Humor als die offen­sive Provo­ka­tion. Aber es geht natür­lich schon auch zur Sache. Ich bring mal ein Beispiel aus dem Bereich Ausbeu­tung in der Textil­in­du­strie: Wir hatten eine Ausein­an­der­set­zung mit H&M wegen übler Nach­rede und Verleum­dung. Und da haben wir einfach nur gesagt: Ach super, jetzt seid ihr sogar so blöd und inter­es­siert euch für unsere Plakate, also ärgern wir euch noch ein biss­chen mehr. Wir haben dann ein Plakat gemacht, auf dem stand: „Ja ja ja jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir stei­gern das Brut­to­so­zi­al­pro­dukt“, gesungen von einem syri­schen Flücht­lings­kind, das bei H&M in der Türkei schuftet. Mit dieser Kampagne bewegen wir uns natür­lich an der Grenze zwischen Humor und der schmerz­haften Provokation.

Wurdet ihr auch schon mal verurteilt?

Es gab Verfahren, aber die wurden alle einge­stellt, weil wir schon sehr darauf achten, dass wir nichts kaputt­ma­chen. Wir nehmen ja keine Brech­stange und wir zocken auch keine Plakate, klauen nichts. Deswegen gehts vor Gericht dann meistens um die Inhalte: Fühlt Björn Höcke sich belei­digt, wenn wir ihn als Ratten­fänger von Hameln darstellen? Ja, tut er. Und darum macht er eine Anzeige. Aber bei so was kommt in der Regel die Staats­an­walt­schaft und sagt: Sorry, Meinungsfreiheit.

Auf dem rechten Auge blind. Adbu­sting zeigt, was Werbung eher verschleiert. (Foto: Dies Irae)

Es gibt diesen Spruch aus der Werbe­branche: Auch nega­tive Werbung ist Werbung. Womit gemeint ist, dass auch ein Skandal helfen kann, die Marke, das Produkt, die Politiker:in bekannter zu machen. Lauft ihr also nicht Gefahr, doch wieder für das zu werben, was ihr persifliert?

Ich glaube, die Lösung dafür ist recht einfach: Du darfst nicht nur so eine Haha-Lustig-Kritik anbringen. Deine Kritik muss vernich­tend sein. Dieses Prinzip „Scheiss­egal wie, Haupt­sache wir bringen uns ins Gespräch“ funk­tio­niert nämlich nicht, wenn die Kritik wirk­lich schmerz­haft ist. Darum lautet unser Motto: Adbu­sting muss wehtun!

Nach einem Jahr, in dem der öffent­liche Raum quasi nicht existiert hat, nach Quaran­täne und Lock­down, wird jetzt euro­pa­weit allmäh­lich wieder geöffnet. Das heisst: Ihr kriegt eure Spiel­wiese zurück. Habt ihr euch schon über neue Themen Gedanken gemacht?

Ein wich­tiges Thema für die kommenden Aktionen wird sicher die Klima­po­litik sein, und noch ein biss­chen spezi­eller: die Wachs­tums­frage. Die Grenzen des Wachs­tums. Leider ist gerade Wachstum ein Thema, das wir noch nie so richtig cool auf ein Plakat bekommen haben. Wir haben einfach noch keinen Weg gefunden, damit plakativ und kreativ umzu­gehen. Aber wir sind dran.

Falls unsere Leser:innen jetzt auf den Geschmack gekommen sind: Kannst du eine Kurz­an­lei­tung „Adbu­sting leicht gemacht“ geben?

Klar. Bei uns läuft das so: Es fängt meistens damit an, dass wir die Zeitung aufschlagen oder Twitter lesen und uns eine Meldung raus­greifen. Dann wird das disku­tiert, man wird zuerst gemeinsam zornig, dann aktiv – und dann beginnt der Krea­tiv­pro­zess. Dafür schauen wir als Näch­stes: Gibt es eine bestehende Plakat­kam­pagne, die wir nutzen können? Wenn nicht, entwerfen wir eigene Plakate. Zu den Plakaten suchen wir dann den rich­tigen Ort. Beim NSU zum Beispiel ist das sicher­lich das Innen­mi­ni­ste­rium oder die Poli­zei­wache in Frank­furt, auf der die Daten­ab­fragen gemacht wurden. Fehlt zum rich­tigen Ort noch der rich­tige Zeit­punkt. Manchmal bieten sich gewisse Jahres­tage an. Zum Beispiel das Fabrik­un­glück von Rana Plaza. Und dann gehts los mit dem, was eigent­lich am meisten Spass macht: Plakate aufhängen, losziehen und es endlich raus­bringen. Endlich das Ergebnis im öffent­li­chen Raum sehen.

Kann ich als ange­hende Adbuster:in bei Dies Irae auch direkt in die Lehre gehen?

Das ist durchaus möglich. Wir teilen unser Wissen sehr gerne. Am lieb­sten natür­lich in Präsenz­work­shops, das macht einfach mehr Spass als online. Auch weil man dann direkt am Medium Plakat arbeiten kann. Wer Inter­esse hat, kann uns über unsere Social Media Kanäle anschreiben:
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oder einfach @nervtjeden und dann die Social-Media-Icons.


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