Alleine die Wahl hat Kolum­bien verändert

Seit dem 19. Juni hat das südame­ri­ka­ni­sche Land mit Gustavo Petro und Francia Márquez zum ersten Mal eine linke, aus der Arbeiter*innenklasse stam­mende Regie­rung. Der Glaube daran, dass mit diesem Wahl­sieg ein tief­grei­fender Wandel einge­läutet wird, hat sich trotz strö­mendem Regen am Wahltag in den Strassen der Haupt­stadt abgezeichnet. 
Mann mit Kolumbienflagge
Kolumbien auf dem Weg in eine neue Zukunft? (Foto: Unsplash/Luis Cortés)

„Hijue­puta! Petro hat schon 400’000 Stimmen Vorsprung“, schreit Mario Laborde, springt von seinem Stuhl auf und holt ein Sixpack Bier aus dem Kühl­schrank. Es ist Nach­mittag und soeben hat der Fern­seh­sender Noti­cias Caracol die neusten Resul­tate der kolum­bia­ni­schen Präsi­dent­schafts­wahlen bekannt gegeben. Zu diesem Zeit­punkt sind 48 Prozent der Stimmen ausge­zählt. Kurz nach der Schlies­sung der Wahl­büros um 16 Uhr präsen­tieren die kolum­bia­ni­schen TV-Sender bereits die ersten Resultate. 

Der linke Kandidat Gustavo Petro liegt vorne, die Distanz zum partei­losen Gegner Rodolfo Hernández ist aller­dings moderat. Alle paar Minuten werden neue Resul­tate publi­ziert und als nach einer knappen Stunde achtzig Prozent der Stimmen ausge­zählt sind, hört man durch das Fenster plötz­lich die Freu­den­schreie der Menschen, Auto­hupen und das Knallen von Feuer­werks­kör­pern. Es ist klar: Kolum­bien hat zum ersten Mal in seiner Geschichte einen linken Präsidenten. 

Schon am Sonn­tag­morgen hatte Laborde als einer der wenigen an den Sieg Gustavo Petros geglaubt. Er wohnt im histo­ri­schen Zentrum von Bogotá. Auf der Nord­seite des Hauses, das er sich mit Freunden teilt, erhebt sich Bogotás Haus­berg, der Monser­rate, durch die Fenster auf der anderen Seite sieht man auf die darun­ter­lie­gende Stadt. Er trinkt den letzten Schluck seines Kaffees, bevor er sich auf den Weg zum ihm zuge­teilten Wahl­büro in einem anderen Stadt­teil macht. 

Kaum auf der Strasse, fängt er an zu erzählen. „Es wird knapp“, meint der 32-jährige Produ­zent für audio­vi­su­elle Medien. Er glaube aber, dass Gustavo Petro die kolum­bia­ni­schen Präsi­dent­schafts­wahlen gewinnen könne. „Es ist jetzt oder nie“, sagt er und meint damit die Möglich­keit für einen tatsäch­li­chen Wandel im bevöl­ke­rungs­mässig zweit­grössten Land Südame­rikas. Sollte der von der Rechten unter­stützte Kandidat, der 77-jährige Hitler-Fan Rodolfo Hernández, gewinnen, würde das die junge linke Bewe­gung Kolum­biens für Jahre lahm­legen, glaubt Laborde. 

„Petro ist maximal ein Sozialdemokrat“ 

Während des knapp 40-minü­tigen Spazier­gangs von der Altstadt ins Viertel Teus­aquillo erklärt Laborde, weshalb er für den 62-jährigen Kandi­daten vom Pacto Histórico, einer Koali­tion aus verschie­denen linken Parteien und Bewe­gungen, stimmen will. Wie viele der jungen und gebil­deten Einwohner*innen Bogotás hält auch er Petro nicht ansatz­weise für so links, wie ihn rechte Kreise darstellen. „Er ist maximal ein Sozi­al­de­mo­krat“, meint er lachend und fügt im selben Satz hinzu: „Aber das ist natür­lich trotzdem bei Weitem die beste Alternative.“ 

Der aus Santa Marta an der kari­bi­schen Küste stam­mende Laborde lebt seit acht Jahren in der Haupt­stadt und hat die zwei letzten Amts­jahre noch miter­lebt, in denen Petro das Amt des Ober­bür­ger­mei­sters von Bogotá inne­hatte. Eine Amts­zeit, die Laborde positiv bewertet. „Er hat hier viel verän­dert, insbe­son­dere im sozialen Bereich“, erzählt er und spielt damit etwa auf Erfolge im Rahmen des Programms Bogotá Humana an, das mehr Kinder ins Schul­sy­stem inte­griert und den Zugang zum Gesund­heits­wesen für Menschen aus armen Vier­teln verbes­sert hat. Petro würde sich auch als Präsi­dent für mehr Chan­cen­gleich­heit enga­gieren, glaubt der studierte Filmwissenschaftler. 

Nach zehn Minuten biegt Laborde auf die Carrera Séptima ab. In der Fuss­gän­ger­zone ist wie üblich viel los. Strassenverkäufer*innen bieten gebrauchte und neue Klei­dung, Spiel­zeug und hand­ge­machten Schmuck feil, aus unzäh­ligen kleinen Wagen werden frisch­ge­presste Limo­nade, frit­tierte Empa­nadas und Hamburger verkauft. In vielen Teilen des Landes war die Stim­mung kurz vor den Wahlen extrem ange­spannt – oder sogar tödlich: Im Depar­te­ment Cauca im Südwe­sten des Landes wurden am Sonn­tag­morgen Roberto Carlos Rivas und Jersain de Jesús Ramírez, die mit dem Pacto Histórico in Verbin­dung standen, ermordet. 

Im Zentrum Bogotás merkt man davon am Wahltag nicht viel, die Stim­mung ist aufge­regt und fröh­lich, aus kleinen Laut­spre­chern klingt Salsa, die Polizei und das Militär halten sich im Hinter­grund. Hier waren in den vergan­genen Tagen noch verein­zelt Gruppen unter­wegs, die mit subver­siven Methoden für den Kandi­daten der Linken warben. Etwa eine Gruppe von Jugend­li­chen, die Lebens­läufe von Gustavo Petro verteilte, ein Dutzend Velofahrer*innen, die Fähn­chen des Pacto Histórico an ihren Rädern ange­bracht hatten. 

Oder eine Gruppe junger Personen, die mit Trom­meln durch die Strassen zogen und Slogans für Gustavo Petro skan­dierte. Subversiv mussten die Aktionen sein, weil während acht Tagen vor den Wahlen jeweils keine poli­ti­schen Demon­stra­tionen mehr erlaubt sind. Dass die erwähnten Inter­ven­tionen alle den linken Kandi­daten unter­stützten, ist kein Zufall, wählt Bogotá doch tradi­tio­nell, wie auch in diesem Jahr, eher links. 

„Jetzt bin ich richtig aufge­regt“, sagt Laborde und lacht, als er beim Wahl­lokal eintrifft, das sich in einem Amts­ge­bäude befindet. Er hat seine Stimm­rechts­karte dabei und zeigt sie den Polizist*innen beim Einlass, bevor er in einem der weissen Zelte verschwindet, wo er sein Kreuz für Petro setzen wird. Ein älterer Mann in der Uniform des Trans­port­un­ter­neh­mens Trans­Mi­lenio nähert sich. „Könnten Sie bitte ein Foto von mir machen, mit dem Wahl­lokal im Hintergrund?“ 

Er stellt sich auf den Gehweg vor der Schule, in der Hand ein kleines Stück Papier, dass seine Teil­nahme an den Wahlen bestä­tigt und das einige Arbeit­neh­mende ihren Vorge­setzten vorzeigen müssen, weil sie für die Teil­nahme an den Wahlen einen halben Tag frei kriegen. Er will zunächst nicht sagen, für wen er gestimmt hat. „Das ist eine Privat­sache“, sagt er und lacht verlegen. In Kolum­bien üben die Arbeitgeber*innen in vielen Fällen Druck auf ihre Mitar­bei­tenden aus. Oft werden daher die von der Firma bevor­zugte Kandi­die­renden gewählt, um einen Jobver­lust zu vermeiden – auch wenn die Wählenden anders denken. 

Mario Labarde in seinem Zuhause in Bogotá. Er hat am Montag­abend mit Freund:innen gefeiert. (Foto: Ayse Turcan)

„Habe soeben für Petrosky gestimmt“

Als Laborde nach fünf Minuten strah­lend auf die Strasse tritt, entwickelt sich ein Gespräch zwischen den beiden. Sobald der Busfahrer hört, dass Laborde für Petro gestimmt hat, entspannt er sich und meint: „Ich hoffe sehr, dass er gewinnt, aber in den Medien sind sie ständig darauf herum­ge­ritten, dass er ein Ex-Gueril­lero ist.“ Nicht nur die Vergan­gen­heit Petros in der intel­lek­tu­ellen Guerilla M‑19 wurde von seinen Gegner*innen betont. Er wird, seit er 2018 zum ersten Mal für die Präsi­dent­schafts­wahlen kandi­dierte, als Links­extremer darge­stellt, als Kommu­nist, der die Reichen enteignen und Kolum­bien in ein zweites Vene­zuela verwan­deln will. 

Laborde schickt einem Freund auf Whatsapp ein Foto seines Wahl­zet­tels und schreibt dazu: „Habe soeben für Petrosky gestimmt.“ Seit Petro im Wahl­kampf von 2018 eine Allianz mit Russ­land und Vene­zuela unter­stellt wurde, kursiert unter Linken dieser scherz­haft gemeinte Spitz­name, der die Absur­dität der Unter­stel­lungen unter­streicht. Petro ist aber nicht nur Ex-Gueril­lero, er stammt auch aus einer Bauern­fa­milie. Ähnlich wie seine Vize-Präsi­dentin Francia Márquez die aus armen Verhält­nissen stammt. „Bisher hatten wir immer Präsi­denten, die aus reichen Fami­lien stammten und zum Estab­lish­ment gehörten“, sagt Laborde, während er sich auf den Weg macht, um zu seiner Wohnung zurückzukehren. 

Sechs Stunden später steht bereits fest, dass das, was auch viele von Petros Unterstützer:innen nicht für möglich gehalten hätten, tatsäch­lich Wirk­lich­keit wird. Auch wenn das Resultat mit rund drei Prozent­punkten Vorsprung eher knapp ist, steht fest: Kolum­bien hat seine erste linke Regie­rung. Das Fern­sehen zeigt Bilder jubelnder Menschen aus verschie­denen grossen Städten im Südwe­sten, der Küste und aus der Haupt­stadt. In Bogotá blockieren Autos die Strassen und Haupt­ver­kehrs­achsen wie die Avenida Caracas, und obwohl um 17 Uhr ein starker Regen einsetzt, kursieren schon nach kurzer Zeit Videos, die zeigen, wie Leute in den verschie­den­sten Vier­teln auf die Strasse strömen und tanzen, auf Autos herum­springen und Feuer­werks­körper zünden. 

Politik „der Liebe und des Friedens“

In der Movi­star Arena, einem Stadion im Zentrum Bogotás, wo sich die Anhänger:innen des Pacto Histórico versam­melt haben, treten der neue Präsi­dent und seine Vize-Präsi­dentin um 19.30 endlich ans Mikrofon, um sich zu bedanken, um zu bekräf­tigen, dass sie sich für soziale Gerech­tig­keit einsetzen und für eine Politik „der Liebe und des Frie­dens“ einstehen wollen. Viel Pathos, das findet auch Laborde, der die Reden am Computer verfolgt, vor dem er seit mehreren Stunden sitzt und Wahl-TV schaut, währenddem er gleich­zeitig an seinem Handy unzäh­lige Text- und Sprach­nach­richten verschickt und empfängt, mit Freund*innen und seiner Mutter in Santa Marta telefoniert.

Egal ob zu Fuss oder im Auto: Die Einwohner*innen Bogotás zog es am Sonn­tag­abend auf die Strasse, in diesem Fall auf die Avenida Carrera 30. (Video: Larry Paipa)

Laborde wartet zu Hause unge­duldig auf einen Freund, der bei ihm über­nachten soll, und geht immer mal wieder ans Fenster, um zu beob­achten, was draussen passiert. Um halb zehn Uhr tritt er schliess­lich auf die Strasse, um zum rund fünf Minuten entfernten Plaza Bolivar zu gelangen. Am östli­chen Rand des Platzes trifft er auf eine Gruppe von Freund*innen, die meisten sind Musiker*innen oder Künstler*innen. Einer von ihnen, der wie so viele hier trotz des landes­weiten Trink­ver­bots während der Wahlen eine Flasche Whisky in der Hand hält, ist Larry Paipa. 

Der Afro­ko­lum­bianer ist Filme­ma­cher und hat sich in den vergan­genen fünf­zehn Jahren immer wieder für Petro einge­setzt, wie er erzählt. „Nicht für Geld, einfach so, ich habe immer mal wieder Filme gemacht, um seine Kampa­gnen zu unter­stützen.“ Es sei ein unglaub­lich glück­li­cher Tag für ihn, sagt er. Und betont: „Egal, was in den näch­sten vier Jahren passiert, die Tatsache, dass diese zwei Leute heute gewählt wurden, ist ein Zeichen dafür, dass Kolum­bien sich bereits verän­dert hat.“ Insbe­son­dere die Bedeu­tung der Wahl von Francia Márquez, die damit als erste Afro­ko­lum­bia­nerin ins Amt der Vize­prä­si­dentin tritt, sei gar nicht zu über­schätzen, meint der Filmemacher. 

„Sie hat auch Teller gewaschen“

Er holt sein Handy hervor und zeigt ein Bild einer älteren Schwarzen Frau. Es ist seine Mutter. „Siehst du, was ich meine?“ Seine Mutter sei bitterarm aufge­wachsen, diskri­mi­niert worden, habe ihr Leben lang die Klei­dung anderer Leute gewa­schen. „Genau wie Francia Márquez, sie hat auch Teller gewa­schen“, so Paipa. Und genau wie Márquez habe auch seine Mutter den sozialen Aufstieg geschafft und nach ihrer Pensio­nie­rung ein eigenes Geschäft gegründet. „Sie ist jetzt Chefin“, sagt Paipa, sicht­lich gerührt. Er zeigt ein Video seiner Mutter im weissen Kleid, die auf der Strasse zwischen Autos tanzt, bevor er sich verab­schiedet und mit seinen Freund*innen losgeht, um zu Hause weiterzufeiern. 

Nicht nur Larry Paipas Mutter, auch seine Brüder, beide Musiker, feiern an diesem Tag Gustavo Petro und Francia Márquez‘ Sieg. (Video: Larry Paipa)

Nach Bekannt­gabe des Resul­tats sind von überall her Leute auf den Plaza Bolivar vor dem Regie­rungs­ge­bäude geströmt, auf dem Schät­zungen zufolge über 45’000 Menschen Platz haben. Als Mario Laborde eintrifft, regnet es wieder stärker. Der Platz hat sich geleert und doch sind immer noch mehrere Tausend Menschen vor Ort. Einige tanzen Salsa, andere haben sich um ein paar Musiker*innen geschart, die laut und rhyth­misch auf ihre Trom­meln schlagen. Trotz des starken Regens hüpfen sie auf und ab und schreien im Chor: „Si se puede“ – Ja, es ist möglich. Laborde macht sich, immer noch auf dem ganzen Gesicht strah­lend, langsam auf den Rückweg. Obwohl er müde ist von diesem histo­ri­schen Tag, wird er zu Hause weiterfeiern. 


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