Bin ich aufgestiegen?

Alle spre­chen über sozialen Aufstieg. Doch dieser bedeutet wenig, wenn man danach immer noch unter prekären Bedin­gungen arbeitet. 
Geht's hier wirklich bergauf? (Foto: Unsplash / Maksym Ostrozhynskyy)

Wer einen catchy Titel für sein Buch wählt, der muss immer und immer wieder aushalten, auf den Titel ange­spro­chen zu werden; selbst schuld. In meinem Fall – ich habe ein Buch geschrieben, das den Titel „Keine Aufstiegs­ge­schichte“ trägt – lautet die Frage: Bist du nicht doch aufge­stiegen? Ich bekomme sie in jedem Inter­view zu meinem Buch gestellt, bei ausnahmslos allen Lesungen und sämt­li­chen Veran­stal­tungen, auf denen ich spreche.

Und weil es gerade irgendwie in Mode zu sein scheint, seine Privi­le­gien zu checken, hier der als Kolumne getarnte Selbst­ver­such: Bin ich aufgestiegen? 

Diese Kolumne? Schreibe ich doch mit links! Also mit der linken Hand, denn seit zwei Monaten habe ich eine Sehnen­schei­den­ent­zün­dung. Um fair zu sein, so ganz schreibe ich sie nicht mit der linken Hand, ich fange zwar mit links an, aber nach circa dreissig Sekunden flippe ich aus: Alles geht viel zu langsam.

M e i n  l i n k e r  Z e i g e f i n g e r  s c h w e b t  s u c h e n d  ü b e r  d e r  T a s t a t u r,  B u c h s t a b e  f ü r  B u c h s t a b e  w i r d  e i n g e g e b e n, bis meine mangelnde Impuls­kon­trolle schliess­lich über­nimmt und dafür sorgt, dass ich auch diesen Text in bewährter und chao­ti­scher Sieben­fin­ger­technik schreibe. Hätte ich doch nur bloss nicht Nein gesagt, als mir meine Mutter mit sech­zehn einen Zehn-Finger-Schreib­kurs spen­dieren wollte. 

Diese Sehnen­schei­den­ent­zün­dung führt mich zur (erneut gewon­nenen) Erkenntnis, dass selbst­stän­dige Arbeit in aller Regel Unsi­cher­heit bedeutet. Wenn ich vor einer Podi­ums­dis­kus­sion krank werde, wird die Veran­stal­tung ohne mich statt­finden und ich bekomme kein Geld. Und auch meine Sehnen­schei­den­ent­zün­dung verschleppe ich, denn auf das Geld aus meinen beiden Kolumnen kann ich nicht verzichten u n d  m i t  d e m l i n k e n Z e i g e f i n g e r  t i p p t  e s  s i c h  n i c h t  g u t. Auch mein Buch, an dem ich gerade arbeite, schreibt sich nicht von allein. Also schreibe ich weiter, trotz Entzün­dung im Handgelenk.

„David gegen Goliath“ ist hier Programm. Olivier David 
gegen die Goli­aths dieser Welt. Anstatt nach unten wird nach oben getreten. Es geht um die Lage und den Facet­ten­reichtum der unteren Klasse. Die Kolumne dient als Ort, um Aspekte der Armut, Preka­rität und Gegen­kultur zu reflek­tieren, zu bespre­chen, einzu­ordnen. „David gegen Goliath“ ist der Versuch eines Schrei­bens mit Klas­sen­stand­punkt, damit aus der Klasse an sich eine Klasse für sich wird. Die Kolumne erscheint eben­falls als Newsletter.

Wieder Schulden machen

Frei­be­ruf­lich arbeiten heisst Armuts­ri­siko: Es braucht nur ein paar Ausfälle und alles steht kopf, denn so wie fast alle Freiberufler*innen gehöre ich zu denje­nigen, die keine Rück­lagen bilden können. Schlimmer noch: Ich habe Schulden. Keine hohen Schulden, aber Schulden.

Und ich studiere. Für das Studium bin ich einer der lucky ones, der Bafög, also finan­zi­elle Unter­stüt­zung des Staats bekommt, eltern­un­ab­hängig, Jackpot. Das sind 850 Euro, dazu darf ich noch 330 Euro dazu­ver­dienen. Würde ich allein leben, läge ich damit unter­halb der Armuts­grenze. Komm her, du geiler Aufstieg, was bist du gut zu mir!

Durch meine Arbeit verdiene ich mehr Geld als ich darf, also muss ich dem Bafög-Amt jähr­lich Geld zurück­zahlen. Für das vergan­gene Jahr waren es in etwa 4’500 Euro. Infla­tion, gestie­gene Lebens­mit­tel­preise, die hohen Ener­gie­preise – ich hatte es nicht geschafft, die 4’500 Euro in Gänze zurück­zu­legen. Dumm gelaufen. Also wieder Schulden machen. 

Die ehema­ligen Nachbar*innen aus der Strasse, in der ich aufge­wachsen bin, haben keine Stimme. Mit dem Buch und meinen beiden Kolumnen, die ich schreibe, habe ich mir dagegen eine Stimme verliehen.

Wenn ich irgend­wann mit dem Studium fertig sein sollte, habe ich noch mal ein paar Tausend Euro Schulden beim Bafög-Amt. Ich bin dann irgendwo zwischen Mitte und Ende dreissig, habe viele Jahre nicht in die Renten­kasse einge­zahlt und mein Renten­be­scheid liegt unter­halb der Mindest­rente. Voraus­ge­setzt, ich bin von nun an bis zum Renten­be­ginn nicht krank.

Meine Geschichte sagt mir, dass ich davon besser nicht ausgehen sollte. Mit Mitte dreissig habe ich bereits Krebs, eine Herz­mus­kel­ent­zün­dung, psychi­sche Erkran­kungen und Arthrose gehabt – damit habe ich keine Chance, in eine Berufs­un­fä­hig­keits­ver­si­che­rung aufge­nommen zu werden.

Neben der ökono­mi­schen Perspek­tive gibt es auch eine kultu­relle. Hier wird es unan­ge­nehm für mich, denn da haben die zahl­rei­chen Journalist*innen, mit ihrer Frage nach meinem Aufstieg vermut­lich einen Punkt. Die ehema­ligen Nachbar*innen aus der Strasse, in der ich aufge­wachsen bin, haben keine Stimme. Mit dem Buch und meinen beiden Kolumnen, die ich schreibe, habe ich mir dagegen eine Stimme verliehen. Mir wird zuge­hört, ich kann auf Podien und dann und wann im Fern­sehen meine Meinung verbreiten. Mit dem Studium gene­riere ich kultu­relles Kapital, das mir helfen kann, anschlies­send Fuss zu fassen.

Von Arbeiter*innenkindern und allen anderen Arbeiter*innen auch

Viele der Leute, die so wie ich aus der Armuts- oder Arbeiter*innenklasse kommen, nennen sich Arbeiter*innenkinder. Damit verweisen sie auf eine Posi­tion in der Klas­sen­ge­sell­schaft, die sich im Fahr­stuhl nach oben befindet. Aufstieg durch Bildung heisst dieses Versprechen. 

Während die Eltern noch mit ihren Händen schuften mussten, studieren sie. Sie lernen die Kultur­tech­niken der akade­mi­schen Welt und schon wähnen sie sich, der Lage ihrer Eltern entkommen zu sein. Viele beschäf­tigen sich dann, wenn sie über Klasse reden, nicht mehr mit der Ausbeu­tung, die für die Armut ihrer Eltern gesorgt hat, sondern mit den verin­ner­lichten Spuren sozialer Herkunft und mit der Diskri­mi­nie­rung, die ihnen aufgrund dieser Herkunft widerfährt.

Es gibt gute Gründe, an der Sinn­haf­tig­keit dieser Verschie­bung zu zwei­feln, allein die Zahlen geben es her: Laut einer Studie der OECD braucht man für einen nach­haltig gelun­genen Aufstieg aus Hartz 4 in die soge­nannte Mitte der Gesell­schaft 180 Jahre bezie­hungs­weise sechs Gene­ra­tionen. Ein grosser Teil dieser sich im Aufstieg wähnenden Gruppe wird nach dem Studium also Schwie­rig­keiten haben, sich beruf­lich im akade­mi­schen Betrieb oder in der Kultur- und Medi­en­in­du­strie durchzusetzen. 

Ich plädiere für einen reali­sti­scheren Blick auf Arbeit und Klasse.

Was bleibt in einer Gesell­schaft, in der der Kampf um den Status­er­halt und der Abstieg die Regel ist, während der Aufstieg die popkul­tu­rell aufge­la­dene Ausnahme bleibt? Schlecht bezahlte Jobs, in denen junge, über­qua­li­fi­zierte Uniabsolvent*innen arbeiten. 

Manche gebrau­chen nach dem Studium ihre Hände, um zu arbeiten. Wie ihre Eltern.

Das ist nicht schlimm, nein, es ist höch­stens tragisch. Denn unter ihnen sind welche, die sich – ob um sich des Abstandes gegen­über ihren Eltern zu versi­chern oder aus dem Wunsch heraus, sich der Unter­schiede zwischen ihnen und Akademiker*innenkindern an der Uni bewusst zu machen – Arbeiter*innenkinder nennen. Ganz so, als hätten sie die ruppige Arbeits­welt ihrer Eltern für immer hinter sich gelassen.

Ich plädiere für einen reali­sti­scheren Blick auf Arbeit und Klasse. Für mich bedeutet es, dass ich mich weder klein­ma­chen will, indem ich meine Erfolge schmä­lere, noch dass ich mich als prole­ta­ri­schen Arbeiter begreife, der mit seinen Händen arbeitet. Denn das tue ich nicht, wenn­gleich meine Sehnen­schei­den­ent­zün­dung gerade eine andere Meinung dazu hat.

Es kann aber jeder­zeit sein, dass der Fall eintritt, dass ich meine Hände zum Arbeiten benutzen muss – so wie es schon viele Male einge­treten ist – und ich mit schlechter Laune und meinen Bewer­bungs­un­ter­lagen bewaffnet vor der Zeit­ar­beits­firma, vor der Bäckerei oder dem Waren­lager stehe und Einlass begehre. Was macht das nach Distink­tion stre­bende Arbei­ter­kind in mir dann? 

Wie soll ein Gefühl für die eigene Klas­sen­lage in der unteren Klasse entstehen, wenn ständig alle Leute, die irgendwas von sich erzählen oder kreativ arbeiten, aus ihr heraus­ge­rechnet werden oder sich selbst aus ihr herausrechnen?

Meine Art des Umgangs könnte man als eine Art depres­siven Realismus beschreiben, der für eine bessere Welt kämpft, der sich aber nicht von unrea­li­sti­schen Aufstiegs­nar­ra­tiven von jenen verein­nahmen lässt, die die Botschaft zu verkaufen haben, dass am Ende doch alles gut wird. 

Es wird nicht alles gut – es sei denn, wir sorgen dafür. Das Aufstiegs­nar­rativ sorgt jeden­falls nicht dafür, dass alles gut wird, soviel ist sicher. Dem Heraus­rechnen und Ausklam­mern von krea­tiven Teilen der Unter­klasse kommt eine wich­tige, spal­tende Funk­tion im Klas­sen­kampf zu. Wie soll ein Gefühl für die eigene Klas­sen­lage in der unteren Klasse entstehen, wenn ständig alle Leute, die irgendwas von sich erzählen oder kreativ arbeiten, aus ihr heraus­ge­rechnet werden oder sich selbst aus ihr heraus­rechnen – nur damit sie dann doch nicht fair bezahlt werden. Und prekär und unsi­cher beschäf­tigt den Clown für die Kultur­bour­geoisie spielen?

Ich mache da nicht mit. Als Autor nicht und auch nicht als jemand, der sicher noch mal seine Hände zum Arbeiten benutzen muss.


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