Bubble-Bildung auf dem Bahn­hof­platz: Warum Wegwei­sungen im öffent­li­chen Raum die Demo­kratie gefährden

Er gilt in 18 Kantonen und erweist sich als unbü­ro­kra­ti­sches und effi­zi­entes Mittel zur „Ästhe­ti­sie­rung” des öffent­li­chen Raumes: der Geset­zes­ar­tikel zur Wegwei­sung. Doch er ist für unser Zusam­men­leben nicht unge­fähr­lich — und hat besorg­nis­er­re­gende Paral­lelen zur Filter­blasen-Bildung in den Social Media. 
Das Bahnhofsportal Luzern. Viele Nutzungskonflikte heute finden in der Umgebung von Bahnhöfen statt. (Foto: Wolf-Dieter)

Eines vorweg: es gibt in der Schweiz keine gesetz­liche Defi­ni­tion des öffent­li­chen Raumes. Doch es besteht ein scheinbar über­grei­fendes Grund­satz­ver­ständnis. Der öffent­liche Raum grenzt sich in erster Linie vom privaten Raum ab, heisst also: von dem Raum, der nicht der öffent­li­chen Hand gehört. Zudem unter­scheidet er sich von Räum­lich­keiten der öffent­li­chen Hand, die eine expli­zite Aufent­halts­be­wil­li­gung verlangen. Darunter fallen etwa Mili­tär­ein­rich­tungen oder Spitäler. Was übrig bleibt, sind Seepro­me­naden, Stadt­parks und Bahn­hofs­plätze, die sich gerade im Sommer grosser Beliebt­heit erfreuen.

Der demo­kra­tie­för­dernde Charakter des öffent­li­chen Raumes

In einer Zeit, in der soge­nannte „Bubble-Bildungen“ in den Sozialen Medien eine immer grös­sere Heraus­for­de­rung für die Demo­kratie darzu­stellen scheinen, erhält der öffent­liche Raum neue Bedeu­tung. Während man online unlieb­same Lebens­welten und Welt­an­schau­ungen mit wenigen Klicks raus­fil­tern kann, ist man beim Gang durch den Bahnhof gezwungen, sich diesen zu stellen. Unter­schied­liche Meinungen sind die Grund­lage für poli­ti­schen Diskurs, die Konfron­ta­tion mit dem Unbe­kannten und Befremd­li­chen sein Antrieb. 

Gerade aber diese Konfron­ta­tion ist in Gefahr. Die welt­weite poli­ti­sche Pola­ri­sie­rung wird immer öfters in Zusam­men­hang mit der „Bubble-Bildung“ in den Sozialen Medien gebracht. Zwar ist dieser Zusam­men­hang umstritten. Doch niemand bezwei­felt, dass die Verla­ge­rung des poli­ti­schen Diskurses von der Stamm­tisch- und Lands­ge­meinde auf Face­book und Twitter eine tief­grei­fende Verän­de­rung bedeutet.

Genau in dieser Situa­tion könnte der öffent­liche Raum Abhilfe schaffen. Es ist unrea­li­stisch (und auch nicht wünschens­wert), den poli­ti­schen Diskurs voll­ständig zu seinen analogen Ursprüngen zurück­zu­führen. Aber dadurch, dass die Nutze­rInnen des öffent­li­chen Raumes keine Filter anwenden können, kommt ihm neue Bedeu­tung zu: nämlich als Ort, wo die unter­schied­lich­sten Lebens­wege und Welt­an­schau­ungen kolli­dieren können.

Wobei: Neu ist diese Bedeu­tung nicht. Wie der Archi­tekt Chri­stoph Haerle sagt, beginnt die Geschichte des öffent­li­chen Raumes bei den alten Grie­chen. Dort wurden Frei­räume geschaffen, umrahmt von staat­li­chen Insti­tu­tionen, Bildungs­an­stalten, Handels­ge­bäuden und Kultur­pa­lä­sten. Der symbo­li­sche Charakter ist offen­sicht­lich: Die grossen Elemente einer zivi­li­sierten Gesell­schaft bilden einen Raum, in welchem Begeg­nungen ermög­licht und provo­ziert werden. 

Es ist wohl kein Zufall, dass der öffent­liche Raum, wie wir ihn heute verstehen, seinen Ursprung in der Wiege der Demo­kratie hat. So merkt Haerle im zweiten Teil des sehr empfeh­lens­werten Gesprächs mit der Platt­form Geschichte der Gegen­wart an, dass „[ö]ffentlicher Raum [dann] glückt, wenn dieses Aushan­deln so passiert, dass alle Betei­ligten zugun­sten eines Gesamt­in­ter­es­sens einen Schritt von ihrem Eigen­in­ter­esse zurück­treten.” Die demo­kra­ti­sche Grund­ma­xime also. 

Ein biss­chen Mittel­alter in der Moderne

In der Realität ist die Diskus­sion um öffent­liche Räume aber seit je her geprägt von Nutzungs­kon­flikten. Im Mittel­alter galt die Wegwei­sung aus dem Stadt­staat als gängige Strafe, in Istanbul gingen die Menschen 2013 gegen den Bau eines Einkaufs­zen­trums auf dem Gebiet des Gezi-Parks auf die Strasse. Erstere Methode erlebt in der Schweiz seit 1997 ein Revival. Damals wurde mit der Einfüh­rung der Lex Wasser­fallen in Bern zum ersten Mal ein soge­nannter Wegwei­sungs­ar­tikel in ein kanto­nales Poli­zei­ge­setz geschrieben. Dieser erlaubt es der Polizei, eine Person mit einem Rayon­verbot zu belegen, wenn „der begrün­dete Verdacht besteht, dass sie oder andere, die der glei­chen Ansamm­lung zuzu­rechnen sind, die öffent­liche Sicher­heit und Ordnung gefährden oder stören”. Der dama­lige Poli­zei­di­rektor Kurt Wasser­fallen wollte mit dem neuen Poli­zei­ge­setz eine Möglich­keit schaffen, die offene Drogen­szene rund um den Bahnhof zu bekämpfen. 

Doch früh war auch klar, dass die offene Formu­lie­rung des Arti­kels dafür verwendet werden kann, alle unlieb­samen Personen und Ansamm­lungen aus dem öffent­li­chen Raum zu verbannen. „Ursprüng­lich war die Lex Wasser­fallen dazu gedacht, störende Menschen aus dem öffent­li­chen Raum zu vertreiben”, ist Ruedi Löffel, lang­jäh­riger Gassen­ar­beiter beim Verein Kirch­liche Gassen­ar­beit Bern, über­zeugt. Der Hinter­ge­danke: Menschen­an­samm­lungen, die nicht der gesell­schaft­li­chen Norm entspre­chen, schaden dem Stadtbild. 

Der Verein Kirch­liche Gassen­ar­beit Bern gehörte zu den ersten Stimmen, die sich gegen die Einfüh­rung und Umset­zung des Arti­kels einsetzten. Er unter­stützte die Betrof­fenen auch bei der Formu­lie­rung von Beschwerden. „Am Anfang gab es viele Einspra­chen, einige wurden sogar gewonnen. Aber da die Einspra­chen auf die Wegwei­sung keine aufschie­bende Wirkung haben, hatten sie keinen unmit­tel­baren Effekt”, erin­nert sich der Gassen­ar­beiter. Trotz des vehe­menten Wider­standes gegen die Praxis erwies sich der Wegwei­sungs­ar­tikel als Export­schlager für Bern: Heute steht er in der einen oder anderen Form in 18 kanto­nalen Polizeigesetzen.

Stadt­auf­wer­tung mittels Wegweisungen

Und so seien Wegwei­sungen mitt­ler­weile ein „aner­kanntes Instru­ment der Poli­zei­ar­beit”, wie der Sicher­heits­di­rektor von Bern, Reto Nause, unlängst fest­stellte. Ein Mittel mit dem man dem Wunsch aus der Bevöl­ke­rung nach mehr Sicher­heit nach­komme. Doch gerade hier wider­spricht Löffel: “Den Sicher­heits­aspekt bei den Wegwei­sungen, mit welchen wir zu tun haben, sehe ich nicht.” Die meisten Wegwei­sungen, mit denen der Verein Kirch­liche Gassen­ar­beit Bern zu tun habe, fänden in Stadt­ge­bieten statt, die vor allem durch Kund­schaft und Touri­stInnen frequen­tiert sind. „Aus meiner Sicht ist es ein Instru­ment dafür, das Stadt­bild sauber zu halten.” Oder, um es in einem einpräg­samen Schein­an­gli­zismus auszu­drücken: Die Wegwei­sungen dienen der „City-Pflege“.

Durch die Wegwei­sung von Menschen, die den gesell­schaft­li­chen Normen nicht entspre­chen, kann der öffent­liche Raum aufge­wertet werden, so die Theorie hinter der „City-Pflege“. Und wenn man sich die Sprache von Poli­ti­ke­rInnen anschaut, die sich für Wegwei­sungen einsetzten, dann erhärtet sich der Eindruck, dass zumin­dest implizit der Wunsch nach einem ästhe­ti­schen Stadt­bild mitschwingt. Da verkommt der Bahnhof Basel schnell mal zur Beiz für Rand­stän­dige, die Fluss­pro­me­nade von Olten zur schlechten Visi­ten­karte für die Stadt, das alte Bahn­hof­s­portal in Luzern wird zu einem Schand­fleck.

„Bubble-Bildung” im öffent­li­chen Raum

Hier offen­bart sich der Nutzungs­kon­flikt. Für die einen nehmen soge­nannte „Rand­stän­dige” den öffent­li­chen Raum in die Mangel; für die anderen bilden die Wegwei­sungen einen unrecht­mäs­sigen Eingriff in ihre Bewe­gungs­frei­heit. „Bei Wegwei­sungen entsteht bei den Betrof­fenen nicht das Gefühl, etwas Falsches getan zu haben. Sie halten sich in ihrem Wohn­zimmer, der Gasse, auf und verstehen nicht, wieso sie stören”, sagt Ruedi Löffel. „Wenn sich meine Freunde irgendwo treffen, dann gehe ich doch wieder dorthin. Da nehme ich die Busse halt in Kauf.”

Dabei sei nach dieser langen Zeit auch eine Resi­gna­tion zu spüren. So gibt es Personen, die schon mehr als 100 Wegwei­sungen erhalten habe. Das führt laut Löffel zu einem Teufels­kreis: Da viele Betrof­fene kein Geld hätten, um die entspre­chenden Bussen zu zahlen, würden sie ins Gefängnis gehen, um diese abzu­sitzen. Das sei nicht nur mora­lisch frag­würdig, sondern auch aus finanz­po­li­ti­scher Sicht völlig unsinnig: Laut Löffel sitzt man pro Tag 100 Franken Busse ab, während ein Tag im Gefängnis den Staat laut Schät­zungen 400.- kostet.

Und nicht minder bedenk­lich als der mora­li­sche und finan­zi­elle Aspekt der Praxis: Die Wegwei­sung als Instru­ment der „City-Pflege“ funk­tio­niert als Filter im öffent­li­chen Raum. Moti­viert durch eine Ästhe­ti­sie­rung des Stadt­bildes werden gewisse Perso­nen­gruppen syste­ma­tisch aus dem öffent­li­chen Raum fern­ge­halten. Dadurch entfällt nicht nur die Reprä­sen­ta­tion dieser Lebens­welten in der öffent­li­chen Debatte, sondern es wird auch eine Sensi­bi­li­sie­rung für die Probleme einer Gesell­schafts­schicht verhin­dert. Oder wie es der Zürcher Staats­rechtler Daniel Moeckli ausdrückt: „Je mehr man die Leute vor Anders­ar­tig­keit schützt, desto ängst­li­cher werden sie, desto mehr rufen sie nach stren­geren Gesetzen.”

Der öffent­liche Raum muss nach der demo­kra­ti­schen Grund­ma­xime gestaltet sein. Ist dies zum Beispiel aufgrund von Rayon­ver­boten nicht der Fall, wird produk­tive Konfron­ta­tion verhin­dert, der poli­ti­sche Diskurs unter­bunden. Wer sich vor einer Bubble-Bildung in den Social Media fürchtet, der sollte minde­stens genauso viele Sorgen um ein Stadt­bild haben, das einen sowieso schon unter­re­prä­sen­tierten Teil der Gesell­schaft ausschliesst. 

Einige, wie zum Beispiel Daniel Moeckli, sehen durch die Wegwei­sungen den Rechts­staat in Gefahr. Für die Menschen, mit denen der Verein Kirch­liche Gassen­ar­beit Bern zu tun hat, bedroht die Praxis ihren Lebens­mit­tel­punkt, ihr Wohn­zimmer — und im Endef­fekt ihre Freiheit.


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