Er bleibt trotzdem: Ein haitia­ni­scher Slam­poet in Chile

Mit einer Zahl von knapp 200 000 sind Haitianer:innen die grösste nicht-spanisch­spre­chende Gemein­schaft in Chile. Durch insti­tu­tio­nellen wie auch gesell­schaft­li­chen Rassismus leben sie oft am Rande der Gesell­schaft. Maka­naky kämpft mit Poesie dagegen an. 
Eine konstante Reise: Makanaky am Busbahnhof von San Felipe. (Foto: Pablo Rauld)

Am zentralen Busbahnhof der chile­ni­schen Klein­stadt San Felipe steht Jean Joseph Maka­naki Audain. Er kennt die Stadt, seine Orte und die Menschen. Doch diese schauen den Afro­ka­riben, der sich selber Maka­naky Adn nennt, während des Inter­views immer wieder mit schrägen Augen an. Was macht er hier? Wieso hält ihm jemand ein Mikrofon an den Mund? Wieso läuft jemand mit der Kamera um ihn herum? Für die Menschen ist klar: Er ist hier fremd.

Maka­naky hat sich längst an das gesell­schaft­liche Klima gewöhnt. Er lebt seit sechs Jahren in Chile, geboren ist er in Haiti. Er arbeitet als Feld­ar­beiter und ist in seiner Frei­zeit Slam­poet. Er rezi­tiert Gedichte, die von seiner Heimat, der Suche nach einem guten Leben, von Ausbeu­tung und vom Stolz, Haitianer und Schwarz zu sein, handeln. 

Denn Chile hat ein Rassis­mus­pro­blem. Das Land, das seit Jahr­hun­derten Migra­tion aus Europa fördert, geht mit Vorur­teilen, Ausgren­zung und Ausbeu­tung gegen seine eigenen indi­genen und inner­ame­ri­ka­ni­sche Migrant:innen vor, so die Sozio­login und Migra­ti­ons­expertin Maria Tijoux. Es sei der Komplex eines Landes und einer Gesell­schaft, die Teil eines „weissen“ Europa sein will und deshalb noch viel härter gegen alle tritt, die diesem Stereotyp nicht entsprechen. 

Reise ins Unbekannte

Maka­naky wuchs auf der Insel Gonavé auf, nur ein paar Luft­meilen entfernt von der haitia­ni­schen Haupt­stadt Port-au-Prince. Während er durch die Strassen von San Felipe, seinem aktu­ellen Zuhause läuft, erin­nert er sich an früher: „Meine Familie über­lebt dank Geld­über­wei­sungen aus dem Ausland. Schon früher schickten uns Verwandte Geld, damit wir Essen kaufen und zur Schule gehen konnten.“

Als Maka­naky zwölf ist, migrieren seine Eltern mitsamt den jüngeren Schwe­stern in die fran­zö­si­sche Kolonie Guade­loupe. Er soll nach­kommen, doch die Einreise wird immer schwie­riger und Geschichten von geken­terten Booten bei der Über­fahrt zur Karibik-Insel machen der Mutter Angst. Später wird sein Vater aus Guade­loupe abge­schoben, übrig bleibt seine Mutter, die nun für die gesamte Familie Geld verdient – denn in Haiti gibt es keine Arbeit.

Man könne als Tourist einreisen, eine Arbeit suchen und danach das Visum bean­tragen, habe sie von Bekannten gehört.

Auf Anwei­sung seiner Mutter macht sich Maka­naky mit seinem Bruder auf nach Chile. Seine Mutter sagt, die Einreise sei einfach und das Land befinde sich im wirt­schaft­li­chen Aufschwung. Man könne als Tourist einreisen, eine Arbeit suchen und danach das Visum bean­tragen, habe sie von Bekannten gehört. Die Mutter hat genü­gend Geld gesam­melt, um ihnen den Flug zu bezahlen. So starten sie jeweils mit 1000 Dollar in der Hosen­ta­sche ihre Reise.

Das war vor fünf Jahren. Damals war Chile für seine wirt­schaft­liche Stabi­lität bekannt. Das Land hat die Wirt­schafts­krise von 2009 ohne grös­sere Probleme gemei­stert und nahm bei inter­na­tio­nalen Mili­tär­in­ter­ven­tionen in unsta­bi­leren Regionen teil. In Haiti leitete der Chilene Juan Valdés von 2004 bis 2008 einen Blau­helm­ein­satz, der nach einem Bürger­krieg wieder für Stabi­lität im Land sorgen sollte. Damals erlangte Chile auf der Insel einen grös­seren Bekannt­heits­grad. Chile, so die Meinung, sei fort­schritt­lich und respek­tiere die Menschenrechte.

Ankunft und Enttäuschung

Das war auch die Meinung von Maka­n­akys Mutter. Doch gleich nach der Ankunft kommt die bittere Realität. Die Brüder hangeln sich von Job zu Job, immer ohne Vertrag, geschweige denn Sozi­al­ver­si­che­rungen. Das Spanisch fällt ihnen anfangs schwer – ein weiterer Faktor, der es für andere leicht macht, sie auszu­nutzen. Sie werden beschimpft, mehr­mals wollen die Arbeitgeber:innen ihnen nichts zahlen. 

Die ersten Monate wohnen sie in einem baufäl­ligen Zimmer für eine viel zu hohe Miete, während die Besit­zerin ihnen auch noch die Repa­ra­tur­ko­sten aufdrücken will. Maka­naky meint erzürnt: „Jeden einzelnen Nagel mussten wir zahlen, jeden Nagel!“ Trotz der Gele­gen­heits­jobs wird das Geld nach kurzer Zeit knapp.

Es ist eine schwie­rige Zeit. Beim Spre­chen beginnt Maka­naky Gedichte zu rezitieren.

Voy dejando unas gotas de tinta

a base de rabia y reproche,

dedi­cadas

a un sistema que no tiene más

que un corazón de piedra.

Ich lasse ein paar Tropfen Tinte zurück

Tinte bestehend aus Wut und Vorwurf,

gewidmet

an ein System, das aus nichts mehr

als einem Herz aus Stein besteht.

Seine Wut trägt er auf das Blatt Papier. Von dort holt er die Kraft, um weiter nach Arbeit und einer Wohnung zu suchen. Es zieht ihn aufs Land, dort soll es mehr Arbeit geben und eine höhere Wahr­schein­lich­keit, einen Job mit Vertrag zu bekommen – der einzige Weg, das Visum verlän­gern lassen zu können.

Visum als Existenzfrage

Das rich­tige Visum ist in Chile über­le­bens­wichtig. Nur mit legalem Aufent­halt hat man Zugang zur öffent­li­chen Gesund­heits­ver­sor­gung, Bildung und weiteren Dienst­lei­stungen. Zwar stellte 2017 die dama­lige sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Präsi­dentin Michelle Bachelet per Dekret das Recht auf Zugang zum Gesund­heits­sy­stem über auslän­der­recht­liche Fragen. Doch die Praxis sieht bis heute anders aus. Selbst bei der derzei­tigen Impf­kam­pagne werden zum Teil Migrant:innen wider­recht­lich abge­wiesen und gebeten, sich als ille­gale Einwohner:innen bei der Polizei zu melden.

Doch auch wer die nötigen Papiere zusammen hat, bekommt noch lange kein Visum. Mit Antritt der rechten Regie­rung von Seba­stián Piñera verlang­samte sich die Aushän­di­gung der Visa um mehrere Monate. Aktivist:innen berichten von bis zu zwei Jahren, die es brauche, bis Visum­an­träge bear­beitet werden. Das heisst auch: zwei Jahre ohne gültige Steu­er­nummer und ohne effek­tiven Zugang zu Bildung, einem Bank­konto oder Gesundheitsversorgung. 

„Man lebt in einem rechts­freien Raum, ohne Möglich­keit, von offi­zi­ellen Stellen Hilfe holen zu können.“

Jean Claude Pierre-Paul, Menschenrechtsaktivist

Der Menschen­rechts­ak­ti­vist Jean Claude Pierre-Paul meint dazu gegen­über das Lamm: „Man lebt in einem rechts­freien Raum, ohne Möglich­keit, von offi­zi­ellen Stellen Hilfe holen zu können.“ 

Doch selbst das Visum schützt nicht vor Diskri­mi­nie­rung. Pierre-Paul, selber in Haiti geboren, arbeitet mehrere Jahre im Migra­ti­ons­de­par­te­ment einer armen Gemeinde in Sant­iago. Er erscheint im Jahr 2019 in mehreren Zeitungen, als er von einem Vorfall berichtet, den er beim Besuch eines Gesund­heits­zen­trums erlebt hatte: Einer Frau aus Haiti, die unter starken Schmerzen litt und ohnmächtig wurde, wurde die Behand­lung verweigert.

Pierre-Paul erin­nert sich, wie er laut das untä­tige Personal beschimpfte. Als die Polizei kommt, nimmt sie ihn in einen kleinen Raum und schlägt mehr­mals auf ihn ein. Er wieder­holt mehr­mals: „Ich bin bei der Gemeinde ange­stellt.“ Heute meint er gegen­über das Lamm: „Hätte ich das nicht gesagt, hätten sie mich für irgend­einen Haitianer gehalten und einfach weiter geprü­gelt.“ Pierre-Paul erstattet Anzeige, doch bis heute gibt es kein Resultat.

„Das Haus aufräumen“

Seit dem Anstieg der inner­ame­ri­ka­ni­schen Migra­tion reagieren Staat und Medien kaum unter­schied­lich auf das neue Phänomen. Breite Teile der Medien verbreiten rassi­sti­sche Klischees über Armut, Drogen­banden und fehlende Sauber­keit von Migrant:innen. Nur selten wird über die skla­ven­ähn­li­chen Arbeits­be­din­gungen, die über­be­legten Wohnungen oder die schwie­rigen Grenz­über­tritte berichtet.

Chile ist nach der Domi­ni­ka­ni­schen Repu­blik, die auf der glei­chen Insel wie Haiti liegt, das mittel- und südame­ri­ka­ni­sche Land mit den zweit­mei­sten Migrant:innen aus Haiti. Und das, obwohl zwischen den beiden Ländern 6000 Kilo­meter liegen.

„Das bedeutet in der Praxis: Wir Migrant:innen werden als Gefahr für die innere Sicher­heit gesehen.“

Jean Claude Pierre-Paul, Menschenrechtsaktivist

Der rechte Präsi­dent Seba­stián Piñera ist 2019 mit zwie­späl­tigen Aussagen aufge­treten. Während er auf inter­na­tio­nalen Veran­stal­tungen Migrant:innen dazu einlud, ins prospe­rie­rende Chile zu kommen, sprach er nach innen von krimi­nellen Banden, unge­zü­gelter Migra­tion und meinte, man müsse „das Haus aufräumen“. Pierre-Paul meint dazu: „Das bedeutet in der Praxis: Wir Migrant:innen werden als Gefahr für die innere Sicher­heit gesehen.“

Die Regie­rung erhöht die Poli­zei­kon­trollen auf gültige Aufent­halts­pa­piere, bringt angeb­lich zum Kampf gegen den Drogen­handel das Militär an die Grenze und führt öffent­lich­keits­wirksam Abschie­be­flüge durch. In weisse Schutz­an­züge gekleidet, mit Hand­schellen und Masken ausge­rü­stet, werden Migrant:innen der Presse vorge­stellt. Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen pran­gern derweil an, dass viele kein ordent­li­ches Rechts­ver­fahren erhalten. Mitt­ler­weile fordert Human Rights Watch die Ausset­zung dieser Flüge.

Nebst den Abschie­be­flügen orga­ni­siert die Regie­rung soge­nannte frei­wil­lige „huma­ni­täre Flüge“ unter anderem nach Haiti und Kolum­bien, finan­ziert durch grosse chile­ni­sche Unter­nehmen und Unternehmer:innenverbände. Migrant:innen konnten sich frei­willig melden und bekamen den Rück­flug bezahlt. Die einzige Bedin­gung: Sie können über neun Jahre nicht nach Chile einreisen. 

Schwarze Haut, weisse Masken

Auch Maka­naky erwähnt diese Flüge. Sie seien Ausdruck einer grund­ras­si­sti­schen Politik. Man beute die Migrant:innen aus, nehme ihnen alle Rechte und am Ende schaffe man sie frei­willig oder unter Zwang wieder ausser Land. 

Auch in der Gesell­schaft habe sich die Lage verschlim­mert. Maka­naky erzählt, wie häufig der Platz im Bus frei bleibt oder Leute ihm entge­gen­spucken. Es ist offener Rassismus von Leuten, die ihren Frust gegen diesen Bevöl­ke­rungs­teil richtet. 

Beim Spre­chen über den Rassismus in Chile wird Maka­naky nach­denk­lich. Er nimmt einen Vergleich vor: In Haiti gebe es bis heute eine Leit­kultur der Elite, die durch die ehema­lige Kolo­ni­al­macht Frank­reich geprägt ist. Trotz mehr als 200 Jahren Unab­hän­gig­keit spricht man unter Gebil­deten Fran­zö­sisch und in der Schule wird gesagt, man solle sich kulti­viert und euro­pä­isch verhalten. 

„Wir sollen unsere schwarze Haut vergessen“, meint Maka­naky und zitiert dabei den kari­bi­schen Schrift­steller und Psycho­ana­ly­tiker Frantz Fanon. In den 50er-Jahren veröf­fent­lichte der Autor sein Buch Peau noire, masques blancs und legte damit den Grund­stein für die Theo­rien der Entko­lo­ni­sie­rung. Er hob hervor, dass die afro­ame­ri­ka­ni­sche Elite der fran­zö­si­schen Kolo­nien versuche, „weiss“ zu sein und dabei ihre eigene Herkunft verberge und verabscheue. 

In Chile, so Maka­naky, passiere etwas Ähnli­ches. Die Bevöl­ke­rung verneine ihre indi­gene und zum Teil afro­ame­ri­ka­ni­sche Herkunft. Man wolle euro­pä­isch sein und sich vom Rest Latein­ame­rikas abschotten. Um den Unter­schied zu unter­strei­chen, werde nach unten getreten – gegen alle, die dem euro­päi­schen Stereotyp nicht folgen: ameri­ka­ni­sche Migrant:innen, Indi­gene und Afros im Allgemeinen. 

Chile muss seine indi­gene, afro­ame­ri­ka­ni­sche und latein­ame­ri­ka­ni­sche Realität anerkennen.

Chile müsse seine indi­gene, afro­ame­ri­ka­ni­sche und latein­ame­ri­ka­ni­sche Realität aner­kennen, erst dann könnte der insti­tu­tio­nelle und gesell­schaft­liche Rassismus über­wunden werden, meint Maka­naky. Für manche kommt dies zu spät. Pierre-Paul erwähnt, dass sich mitt­ler­weile immer mehr Migrant:innen entscheiden, aufgrund der Ausgren­zung, der staat­li­chen Diskri­mi­nie­rung und des unsi­cheren Lebens das Land wieder zu verlassen. Sie gehen Rich­tung USA, zum Teil über Land mit unzäh­ligen gefähr­li­chen Grenzen und bewaff­neten Konflikten.

Maka­naky hat sich vorerst entschieden, zu bleiben. Mitt­ler­weile hat er feste Freund­schaften, eine Part­nerin und ein Kind. Auch wenn er hier Wurzeln geschlagen hat, bleibt seine Heimat Haiti. Zum Schluss des Inter­views hält er fest: „Ich habe eine poli­ti­sche Aufgabe, meinen Leuten Kraft zu verleihen, um für die Sache der Schwarzen kämpfen.“


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