Für viele Techno-Apologetinnen und ‑Apologeten ist die Blockchain die nächste menschliche Evolutionsstufe. Die Blockchain-Forscherin Melanie Swan zum Beispiel hat die Blockchain unlängst als Vollstreckerin einer „kryptokopernikanischen 908x626Wende” bezeichnet, die nichts Geringeres herbeiführen soll, „als die Autorität von ausserhalb unserer selbst in uns selbst” zu verlegen. Das Märchen von der guten Blockchain erzählt also, wie so viele Märchen, von wundersamen Dingen: einer Welt, in der die Autonomie des Einzelnen gerettet und der Kapitalismus überwunden werden kann – mit nur einem Klick. Die traurige Realität sieht jedoch anders aus.
Was zum Teufel sind Blockchains?
Zuerst aber einen Schritt zurück. Denn die meisten Menschen fragen sich: Was zum Teufel sind Blockchains? Ich versuche, dieses Geheimnis jargonfrei zu lüften:
Linda will im Sportgeschäft um die Ecke einen Gutschein über 100 Franken kaufen. Aus Sicherheitsgründen ist die Anzahl Gutscheine limitiert und jeder Gutschein hat eine einzigartige Nummer. Geld gegen Gutschein am Tag X, Gutschein gegen Waren am Tag Y. Soweit ist das Prinzip bekannt. Nun kommt der Blockchain-Clou: Um sicherzustellen, dass der Gutschein in allen Geschäften nur von Linda und nur einmal benutzt werden kann, ruft die Verkäuferin mit dem Verkauf einige zufällig ausgewählten Filialen an und gibt eine Kopie von Lindas Pass und dem Gutschein weiter. Jede Filiale besitzt eine Kopie des grossen Buches aller Gutscheine und kann nachvollziehen, ob der Gutschein ausgegeben werden darf bzw. wem er gehört. Wenn die Mehrheit dem Verkauf des Gutscheins an Linda zustimmt, werden alle Filialen darüber informiert und schreiben die Transaktion in ihre Kopie des Buches. Danach versiegelt jede Filiale Lindas Gutscheinverkauf mit dem Firmenstempel und einer Unterschrift.
Damit macht das Sportgeschäft seine Gutscheine so fälschungssicher und nachvollziehbar wie möglich. Nehmen wir an, Linda verliert auf dem Heimweg ihre Tasche samt Gutschein. Thomas findet den Gutschein und geht ins Sportgeschäft, um sich einen Volleyball zu kaufen. In der normalen Welt: kein Problem. Niemand überprüft, ob Thomas den Gutschein selbst gekauft hat. In der Blockchain-Welt muss sich Thomas anstrengen. Er will seinen Betrug verschleiern und überschreibt Lindas Namen mit seinem – inklusive Firmenstempel und Unterschrift der Verkäuferin – in der lokalen Kopie des grossen Buches aller Gutscheine. Aber selbst das reicht nicht. Die Verkäuferin findet Thomas zwar in ihrem grossen Buch, ruft dann aber noch drei zufällig ausgewählte Filialen an und schickt ihnen eine Kopie von Thomas‘ Pass und dem Gutschein. Da in den anderen Büchern Linda als Besitzerin des Gutscheins eingetragen ist, wird der Gutschein zurückgewiesen.
Die Blockchain als Sicherheitsmechanismus? Als Instrument, um Transaktionen zu verifizieren? Das mag für Laien banal klingen, aber mehr ist nicht dabei. Blockchain beschreibt lediglich ein Verfahren, wie aufeinanderfolgende Daten so gespeichert (verkettet) werden können, dass eine nachträgliche Veränderung der Daten auffällt. That‘s it.
Die Versprechen der Blockchain-Apologeten
Wieso aber versprechen uns dann plötzlich die Blockchain-Apologetinnen und ‑Apologeten und das Silicon Valley, dass die Blockchain die Welt retten wird? Gehen wir ihre Argumente der Reihe nach durch.
Argument 1: Die Blockchain wird uns Konsumentinnen und Konsumenten befreien, weil wir dank der Verschlüsselung völlige Anonymität geniessen.
Abgesehen davon, dass die Anonymität in der Theorie besser gewährleistet ist als in der Praxis, ist sie in technischer Hinsicht fakultativ und bringt den Benutzerinnen und Benutzern eigentlich keinerlei Vorteile. Im Gegenteil. Wer nichts mit automatisierten Erpressungen (Stichwort WannaCry) oder illegalen Waffen- und Drogenkäufen am Hut hat, für den überwiegen die Nachteile: Die Otto-Normalverbraucherin möchte weisses Geld, das sorglos in die steuerliche Vermögensaufstellung aufgenommen werden kann und gegen bankrotte Banken und Diebstahl versichert ist. Doch gerade diesbezüglich ist Anonymität natürlich nicht gerade förderlich.
Argument 2: Die Blockchain gibt uns die Oberhand über unsere Daten zurück, weil unsere Daten dezentral gespeichert werden und wir jederzeit eine Kopie herunterladen können.
Gewiss, wie oben erklärt, ist die Blockchain aus dem Sportgeschäft-Beispiel, die über alle Filialen verteilt gespeichert wird, sicherer und robuster. Geht ein grosses Buch verloren, begibt man sich in die nächstgelegene Filiale, und schnell ist eine Kopie gemacht. Verliert Linda ihren Gutschein, so kann sie dank der Blockchain beweisen, dass sie die legitime Eigentümerin ist. Aber das grosse Buch aller Gutscheine ist noch immer in allen Filialen und die Daten sind allen – auch den Datenkraken – zugänglich.
Zudem: Der Preis für die Dezentralität ist, dass jede Transaktion unzählige Telefonate und viel Schreibarbeit nach sich zieht. Eine Zentrale würde diese Schritte nicht nur schneller, sondern auch umweltfreundlicher machen. (Eine Transaktion mit der zweitgrössten Kryptowährung Ethereum verbraucht über tausendmal so viel Strom wie eine konventionelle Kreditkarte.)
Damit wären wir bei einem der schwerwiegendsten Probleme einer anonymen und dezentralen Blockchain: bei ihrer Langsamkeit. Am 8. Juni brauchte eine Bitcoin-Transaktion über vier Stunden, bis sie bestätigt wurde. Wer weiss, ob Linda noch etwas im Sportgeschäft kaufen würde, wenn sie vier Stunden auf ihre EC-Karte warten müsste. So viel ist den meisten Mitbürgerinnen und Mitbürgern die neu gewonnene Autonomie über ihre Daten wahrscheinlich nicht wert.
Kurz: ja, die Blockchain könnte uns autonomer machen. Sie könnte uns die Macht über unsere Daten zurückgeben. Der Preis dafür ist aber ein beträchtlicher Zeit- und Energieaufwand!
Argument 3: Durch den demokratischen Konsensmechanismus der Blockchain liegt die Autorität bei uns Kryptobürgerinnen und Kryptobürgern.
Dass gemeinsames Entscheiden Probleme verursacht, weiss jeder, der in einer Demokratie lebt. Deshalb hat auch die Demokratie gewisse Grundsätze, die als unveränderlich gelten, und Institutionen, die autonom entscheiden dürfen (Nationalbanken, Gerichtshöfe usw.). In der Blockchainwelt à la Bitcoin gibt es nur die Basisdemokratie.
Was das heisst, möchte ich mit einer weiteren Analogie verdeutlichen: Eine Filiale hat keine Gutscheine mehr und möchte neue drucken. Sie teilt allen anderen Filialen die neuen Seriennummern der Gutscheine und den angedachten Wert mit. Die Hälfte der Filialen meldet zurück, dass sie die neuen Gutscheine nicht akzeptieren werden. Wegen diesem Streit teilt sich nun die Blockchain, denn die neuen Gutscheine werden nur in die grossen Bücher derjenigen Filialen geschrieben, die neue Gutscheine annehmen, und über Zeit werden die beiden Versionen inkonsistent.
Das Problem dabei: Wenn sich ein dezentrales Zahlungsmittel teilt, teilt sich auch der Wechselkurs und die Kurse zu „realem” Geld geraten schnell ausser Kontrolle. Die eine oder die andere Seite verliert über Zeit nachhaltig an Wert. Der Kuchen wird nicht grösser, nur weil man ihn in zwei kleine Stücke schneidet. (Abgesehen davon wünschen sich die meisten Menschen eine einzige Währung und stabile Preise. Das allein garantiert Planbarkeit und einfachen Handel.)
Nur leider schlafen die Banken nicht...
Wie wir bis jetzt gesehen haben, sind die neuen Freiheiten der Blockchain nicht nur fakultativ, sondern auch extrem unpraktisch. Könnte es trotzdem sein, dass die Blockchain die Technologie sein wird, die das Finanzsystem überrollen, dem Kapitalismus den Garaus machen und die Weltenbürgerinnen und ‑bürger aus ihrer Unmündigkeit befreien wird?
Wohl kaum. Viel wahrscheinlicher ist das Gegenteil.
Bereits heute beschäftigen sich die Banken an vorderster Front damit, wie sie die Blockchain gewinnbringend in ihr Geschäftsmodell integrieren können. Kaum eine Finanzinstitut, das kein millionenschweres Investment in ein Blockchain-Startup getätigt hat.
Ein besonders interessanter Fall ist die australische Börse, die bereits 2015 auf den Blockchain-Zug aufgesprungen ist. Um das System zu ersetzen, das alle Transaktionen bestätigt, wurde im Januar 2016 die Firma Digital Asset beauftragt. Im April 2016 kaufte Digital Asset das Schweizer Fin-Tech-Startup 11ce bzw. die Brainpower der acht Mitarbeitenden. 11ce liefert die Zutat für den kapitalistischen Blockchain-Mix, auf die alle Banken scharf sind: eine Programmiersprache für automatisierte Verträge (smart contracts).
Was ist ein automatisierter Vertrag und warum ist das für Banken interessant? Dazu wieder ein Beispiel: Linda ist Winzerin und hat sich eine Versicherung gegen schlechtes Wetter (insbesondere Hagel) gekauft. Nach einem Unwetter im Juni ist die Ernte dahin. Eine Versicherungsagentin kommt bei Linda vorbei und überprüft, ob die Bedingungen der Versicherung erfüllt sind und die Versicherung ausgelöst wird. Es ist ein aufwändiger Prozess und es dauert lange, bis Linda ihre Entschädigung bekommt.
Was, wenn Linda eine Versicherung hätte, bei der ihr die Entschädigung automatisch überwiesen wird, sobald MeteoSchweiz einen Hagelsturm der Stufe drei meldet? Keine Versicherungsagentin, keine Telefonate, keine Unsicherheiten.
Genau das wird durch die Technologie von Firmen wie Digital Asset oder Adjoint jetzt möglich. Verträge werden zu autonomen Computerprogrammen, die in eine Blockchain geschrieben werden. Wie das grosse Buch aller Gutscheine aus dem Sportgeschäft ist auch die Blockchain der Bank gegen eine nachträgliche Veränderung der Daten geschützt. Das ist aber auch schon die einzige Gemeinsamkeit mit einer herkömmlichen Blockchain. Denn die Blockchain der Bank ist privat und nur für die Bank selbst einsehbar. Entschieden wird nicht von der Mehrheit, sondern von ausgewählten Marktteilnehmern. Und die Aufsichtsbehörden kann man ebenfalls automatisiert mit den Datenkrümeln abspeisen, zu deren Weitergabe man gesetzlich verpflichtet ist.
Das Hauptproblem an automatisierten Verträgen: Die Geschwindigkeit und die Volumina auf den Finanzmärkten werden weiter zunehmen. Die Intransparenz und Anfälligkeit des Finanzsystems ebenfalls.
Sind UBS und Co. das neue Facebook?
Neu ist auch, dass die grössten Banken der Welt – sie sind de facto die Einzigen, welche über das nötige Kleingeld für diese Technologien verfügen – in die Riege von Google und Facebook aufsteigen, was das Sammeln von Daten angeht. Denn im Gegensatz zu normalen Verträgen lassen sich die automatisierten Verträge sehr einfach auswerten und in Preisinformationen bzw. Wahrscheinlichkeiten umwandeln. Und weil auf den Finanzmärkten mit ausserbörslichen Verträgen (over the counter) gegen tiefe Nahrungsmittelpreise und für einen Zahlungsausfall eines Landes gewettet werden kann, werden die Banken wissen, wo der nächste Krieg losbricht oder die nächste Hungersnot ansteht, lang bevor das gemeine Volk davon erfährt. Sie werden diesen Informationsvorsprung in bare Münze verwandeln, unabhängig davon, was die gesellschaftlichen Kosten sind.
Wer mein Blockchain-Märchen für eine paranoide Dystopie hält, der soll sich an die Heilsversprechen des Internets in den 1990er Jahren zurückerinnern. Die Wissenschaft und die Linke beschworen das aufklärerische Potenzial des Internets und prophezeiten eine baldige Demokratisierung des ganzen Erdballs.
Und was ist aus dem offenen Netz für Forschung und freie Meinungsäusserung geworden? Firmen wie Google und Facebook haben sich die freie Technologie unter den Nagel gerissen und machen so viel Geld, dass sie die Wirtschaftsleistung ganzer Staaten in den Schatten stellen. Anstatt Freiheit ist eine ungeahnte staatliche Überwachung möglich geworden, sowohl im freien Westen als auch im kommunistischen China.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 25 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1560 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 875 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 425 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?