„Kryp­to­wäh­rungen sind Umver­tei­lungs­ma­schinen: Von unten nach oben“

Bitcoin und Co. verschärfen Ungleich­heiten und tragen zur Klima­er­wär­mung bei. Der Netz­ak­ti­vist und Inge­nieur Jürgen Geuter findet: Dieses Biest muss drin­gend gezähmt werden. Wir spra­chen mit ihm über linke Wunsch­träume und Incels in der Kryptoszene. 
Krypto ist ein Nullsummenspiel: Jemand muss echtes Geld in den Markt pumpen, damit es jemand anderes verdienen kann. (Illustration: Iris Weidmann)

Das Lamm: Kryp­to­wäh­rungen entstanden nach der Finanz­krise 2008. Mit ihrer Hilfe sollte ein Finanz­markt geschaffen werden, der abseits von Gross- und Zentral­banken funk­tio­niert: dezen­tral und unab­hängig. Das klingt aus linker Perspek­tive wie eine viel­ver­spre­chende Idee. Trotzdem kriti­sieren Sie Kryp­to­wäh­rungen und Block­chain seit Jahren vehe­ment. Warum?

Jürgen Geuter: Anknüp­fungs­punkte von links sind tatsäch­lich da: Ein Finanz­sy­stem, das ohne Hier­ar­chien funk­tio­niert, das hat anar­chi­sti­sches Poten­zial. Aber es geht um die grund­le­gende Frage: Wie soll Ökonomie funk­tio­nieren? Und wenn man diese Frage an den Kryp­to­markt stellt, landet man poli­tisch weit rechts. Denn Kryp­to­wäh­rungen basieren auf markt­ra­di­kalen Ideen: Geld darf nicht gesell­schaft­lich oder poli­tisch kontrol­liert und regu­liert werden. Mitspra­che­recht ist zudem an finan­zi­elle Mittel geknüpft. Das ist letzt­lich die Abschaf­fung des Staats und jeder poli­ti­schen Regu­lie­rung. In der Kryp­towelt soll es keine poli­ti­sche Mitbe­stim­mung oder gar Menschen­rechte geben, sondern nur Märkte.

Kryp­to­wäh­rungen sind digi­tale Währungen, die nicht von Gross- und Zentral­banken regu­liert werden. Sie basieren meistens auf soge­nannten Block­chains (siehe nächste Infobox) und werden als digi­taler Code in einer persön­li­chen soge­nannten „Wallet“ gespei­chert. Bitcoin ist die grösste von vielen Kryp­to­wäh­rungen. Andere wich­tige Währungen heissen Ethe­reum oder Monero. Sie alle basieren auf der Block­chain, funk­tio­nieren in den Details aber unter­schied­lich. Die Schaf­fung neuer Coins funk­tio­niert nicht bei jeder Währung gleich. Bei Bitcoin etwa können Nutzer*innen mathe­ma­ti­sche Aufgaben lösen, um neue Bitcoins zu „schürfen“. Diesen Prozess nennt man „Mining“.

Für viele, die in Kryp­to­wäh­rungen inve­stieren, ist der Vorteil deren Anony­mität: Der Handel lässt sich nur schwer auf einzelne Personen zurück­führen. Auch deswegen war Bitcoin – insbe­son­dere am Anfang seiner Verbrei­tung – dafür bekannt, dass er von Drogendealer*innen im Darknet verwendet wird. „Smart Contracts“ sind Programme, die auf der Block­chain liegen und Verträge zwischen zwei Parteien tech­nisch abwickeln können, ohne deren Iden­tität preis­zu­geben.
Anina Ritscher

Wenn Sie sagen „poli­tisch rechts“, – was genau meinen Sie damit?

Zum einen diesen markt­li­be­ralen, anti­de­mo­kra­ti­schen Gedanken, den ich eben beschrieb. Das analy­sierte etwa David Golumbia in seinem Buch „The Poli­tics of Bitcoin“. Aber man findet in der Kryp­to­szene auch stark anti­se­mi­ti­sche Ideo­lo­gien. Eine Idee ist weit verbreitet: Der Staat wolle viel Geld unter seine Kontrolle bringen, um es durch Infla­tion zu entwerten. Das sei ein bewusst gesteu­erter Prozess irgend­wel­cher Eliten, die wiederum oft als jüdisch markiert werden. Der Name Roth­schild oder die Bilder­berger werden in dem Zusam­men­hang immer wieder genannt – klas­si­sche anti­se­mi­ti­sche Chiffren. 

Gleich­zeitig gibt es berech­tigte, links­po­li­tisch moti­vierte Gründe, sich von den Zentral­banken zu lösen. Kryp­to­wäh­rungen können dazu doch sicher­lich etwas beitragen?

Kaum. In einer linken Vorstel­lung funk­tio­niert ein hier­ar­chie­freies System doch so: Man lässt unter­schied­liche Stand­punkte aufein­an­der­prallen und disku­tiert so lange, bis man den Konflikt auflösen kann. Da geht es um die Debatte, um Argu­mente. In der Welt der Kryp­to­wäh­rungen läuft das ganz anders: Es regiert, wer am meisten Geld hat. Auf diesem Prinzip basiert die Tech­no­logie der Kryp­to­wäh­rungen. Die Herr­schaft der Reichen wird aber unsichtbar gemacht, denn der digi­tale Reichtum ist nicht auf die Iden­tität einer Person zurückzuführen. 

Es gibt auch, anders als in einer linken Vorstel­lung, keine gemein­same poli­ti­sche Wert­vor­stel­lung in der Kryp­to­szene. Ausser dem Bestreben, gemeinsam reich zu werden und die Welt zu regieren. Daher kommt der in der Szene beliebte Slogan: „We‘re all gonna make it“, oder kurz: WAGMI. Es heisst nicht „we the people“, sondern wir, die wir mit Bitcoin handeln. Diese Menschen streben eine Welt an, in der sie die neue herr­schende Klasse sind, weil sie Kryp­to­wäh­rung besitzen und andere nicht.

Jürgen Geuter aka tante arbeitet als Berater, Autor und De-Evan­ge­list an den Schnitt­stellen von Tech­no­logie, Gesell­schaft und Politik. Er ist Grün­dungs­mit­glied des trans­dis­zi­pli­nären Other­wise Network. Er lebt in Berlin und im Internet.

Eine letzte Projek­tion: Poli­tisch Verfolgte können sich vor dem Zugriff auto­ri­tärer Regimes schützen, indem sie ihre Zahlungen per Kryp­to­wäh­rungen abwickeln. Ist da was dran?

Im einzelnen Fall kann es für Dissident*innen nütz­lich sein, aber das struk­tu­rell so zu labeln, finde ich falsch. Vor Kurzem wurde über ukrai­ni­sche Studie­rende berichtet, die ihr Geld auf ihrer Flucht nach Deutsch­land mitnehmen konnten, weil es in Kryp­to­wäh­rungen steckte. Solche Einzel­fälle gibt es. Digi­tale Assets sind leicht zu trans­fe­rieren. Aber dafür braucht es nicht unbe­dingt Kryp­to­wäh­rungen, das kann auch anders funk­tio­nieren. Es gilt: Um mit den Bitcoins irgendwas anfangen zu können, braucht es jemanden, der sie tauscht. Zudem ist diese Währung enormen Schwan­kungen ausge­setzt. Der Wert des Gutha­bens kann sich während der Mittags­pause halbieren. Das bietet poli­tisch Verfolgten keine Sicherheit.

„Wir müssen Krypto-Mining verbieten, wenn wir die Klima­ziele errei­chen wollen.“

Jürgen Geuter

Welche weiteren Krypto-Hoff­nungen halten Sie für Unfug?

Ein weiteres Narrativ ist „Banking the unbanked“. Damit wird eine Idee beworben: Menschen in Ländern mit nied­rigen Einkommen, die kein Bank­konto haben, sollen mit Bitcoin zu mehr Vermögen und finan­zi­eller Sicher­heit kommen. Aber jede Trans­ak­tion von Bitcoins kostet mehrere US-Dollar. Zudem braucht es dafür verläss­li­ches Internet und ein inter­net­fä­higes Gerät. Das sind vergleichs­weise hohe Hürden für Menschen an oder unter der Armutsgrenze. 

Im Krypto-Umfeld basiert nahezu alles auf soge­nannten Block­chains. Block­chains sind dezen­trale Daten­banken. Das bedeutet, dass die Daten­bank nicht auf einem Server oder Cluster liegt, sondern dass es theo­re­tisch unbe­schränkt viele gleich­wer­tige Kopien der Daten­bank gibt. Jede*r kann sich seine eigene Kopie besorgen und Teil der verteilten Daten­bank werden.

Die Daten­bank selbst hat eine unge­wöhn­liche Struktur. Wo die meisten tradi­tio­nellen Daten­banken Daten in Tabellen spei­chern, zu denen man jeder­zeit Zeilen hinzu­fügen, ändern und löschen kann, spei­chern Block­chains Daten in Blöcken, die mitein­ander verkettet werden und nicht nach­träg­lich zu ändern sind. Man kann sich Block­chains also vorstellen wie eine Perlen­kette, an die man immer zusätz­liche Perlen anhängen kann, aber niemals welche in der Mitte entfernen oder ändern kann. Diese Eigen­schaft wird häufig „append-only“ genannt und soll sicher­stellen, dass die Daten­bank fälschungs­si­cher ist: Die Ände­rung eines Blocks würde auto­ma­tisch allen anderen Teilnehmer*innen im Netz­werk auffallen.

Zur Dezen­tra­lität gehört auch, dass die Entschei­dung darüber, was in der Daten­bank gespei­chert wird, nicht von einer vorbe­stimmten Person, Orga­ni­sa­tion oder Gruppe getroffen wird. Durch unter­schied­liche Verfahren (soge­nannte Konsens-Algo­rithmen) wird unter allen Teilnehmer*innen eine Eini­gung herge­stellt: Bei Bitcoin zum Beispiel muss ein mathe­ma­ti­sches Rätsel gelöst werden. Nach Ablauf des Konsens­ver­fah­rens wird ein neuer Block ange­hängt und übli­cher­weise eine Beloh­nung an die Person ausge­zahlt, die den Block vali­diert hat. 

Block­chains heute werden vor allem als Kassen­bü­cher („Ledger“) verwendet. Die Blöcke enthalten Trans­ak­tionen von Kryp­to­wäh­rungen wie Bitcoin oder digi­talen Objekten (beides soge­nannte „Tokens“) zwischen Konten (soge­nannten „Wallets“). Die Wallets sind dabei pseud­onym und damit ohne Weiteres keiner natür­li­chen Person oder Orga­ni­sa­tion zuzu­ordnen. Auf diesem Wege ermög­li­chen Block­chains quasi-anonyme Trans­fers von digi­talen Assets direkt ohne Mittelsmänner.

Unter­schied­liche Block­chains haben etwas unter­schied­liche Features. Bitcoin erlaubt nur das Verwalten seiner eigenen Währung, die zweit­grösste Block­chain Ethe­reum aller­dings hat dem Konzept noch soge­nannte „Smart Contracts“ hinzu­ge­fügt. Dies sind Programm­codes, die auf der Block­chain selbst liegen und ange­spro­chen werden können. Smart Contracts können neue Tokens erzeugen, aber auch komple­xere andere Geschäfts­pro­zesse aller Besitzer*innen von Tokens abwickeln. Zum Beispiel können Divi­den­den­zah­lungen oder auch Abstim­mungs­pro­zesse berechnet und abge­wickelt werden. Die meisten nach Ethe­reum entwickelten Block­chains erlauben irgend­eine Form von Smart Contract.
Jürgen Geuter

Was passiert, wenn ein Land Bitcoin als Landes­wäh­rung einführt? Wie das beispiels­weise in El Salvador der Fall ist.

Das ist leicht­getan, aber es ändert nichts. In El Salvador hat Nayib Bukele Bitcoin einge­führt. Aber das ist ein Publi­city-Stunt von einem Diktator, der selbst in Bitcoin inve­stiert hat. Bürger*innen konnten sich per App mit ihren offi­zi­ellen Daten anmelden und haben dann die 30 Dollar in Bitcoin erhalten, die sie brauchten, um mit dem Handeln anzu­fangen. Aber die meisten von ihnen haben das Guthaben sofort in Dollar umge­tauscht und die App nie wieder ange­fasst. In der breiten Bevöl­ke­rung sind Bitcoins dort über­haupt kein Faktor, weil die Leute der Sache nicht trauen. 

Es gibt nun seit Längerem welt­weit Bestre­bungen, Kryp­to­wäh­rungen zu verbieten oder zumin­dest zu regu­lieren. Was halten Sie davon?

Die Frage ist, was genau man verbietet. China etwa hat das Mining, also das „Schürfen“ von Kryp­to­wäh­rungen durch Rechen­lei­stung verboten (siehe Infobox). Mit der Begrün­dung, man könne sonst einige Provinzen nicht mehr mit Strom versorgen, weil das Mining so viel Strom verbraucht. Meine Meinung dazu ist: Das Mining schadet dem Klima so sehr, dass wir es verbieten müssen, wenn wir die Pariser Klima­ziele noch errei­chen wollen.

Es gibt unter­schied­liche Konsens­ver­fahren auf Block­chains. Die beiden grössten (Ethe­reum und Bitcoin) setzen auf das soge­nannte „Proof of Work“. Dabei darf genau die Person den näch­sten Block schreiben, die ein aufwen­diges mathe­ma­ti­sches Problem zuerst gelöst hat (faktisch geht es darum, die passende Zahl zu erraten). Diese Verfahren verbrau­chen unglaub­liche Mengen Energie. Bitcoin zum Beispiel verbraucht pro Jahr in etwa so viel Strom wie Argen­ti­nien, erzeugt dabei so viel CO2wie Kolum­bien und so viel kleinen Elek­tro­schrott wie die Nieder­lande. Jede Bitcoin-Über­wei­sung erzeugt damit im Schnitt in etwa so viel Elek­tro­schrott wie ein Smart­phone. Ethe­reum möchte seit Jahren auf spar­sa­mere Verfahren wech­seln, ein erster Anlauf ist für Mitte/Ende September 2022 anvi­siert, aber das Unter­nehmen verschiebt diesen Wechsel immer weiter in die Zukunft. 

Doch nicht nur aus ökolo­gi­scher Sicht ist der Krypto-Space ein Problem: Die Benut­zung der Krypto-Wallets ist tech­nisch ziem­lich kompli­ziert. Weil Block­chains keine nach­träg­li­chen Ände­rungen zulassen, können Fehler oder Betrug nicht mehr korri­giert werden. Wenn eine Person einen Phis­hing-Link anklickt und damit all ihr Krypto-Geld gestohlen wird, kann niemand es zurück­holen, obwohl trans­pa­rent sichtbar ist, an welchen anonymen Account es gegangen ist.
Jürgen Geuter

Was wären denn weitere gute Ansätze, um den Kryp­to­handel zu regulieren? 

Das Ziel einer Regu­lie­rung müsste sein, den Handel mit Bitcoin unat­trak­tiver zu machen. Ein Anfang wäre es, dass jede Person, die Krypto in Geld umwan­deln will, einen Person­aus­weis hinter­legen muss. Das wird auf EU-Ebene gerade verhan­delt. Dann wäre das System zumin­dest weniger anonym und dadurch weniger beliebt. Man könnte aber auch sagen: Bitcoin wird behan­delt wie Aktien. Da gelten auch bestimmte Regeln. Wer Aktien verkauft, muss Interessent*innen etwa klar machen, dass sie ein Risiko eingehen und eine Doku­men­ta­tion über alle Verkäufe mitlie­fern. Zudem müssen Wirtschaftsprüfer*innen die Buch­hal­tung kontrol­lieren. Oder man könnte den Besitz von Bitcoin besteuern. Etwa so wie CO2-Steuern, denn auch der Bitcoin-Besitz braucht viel Strom, selbst wenn man nicht handelt oder Mining betreibt. Aber alle diese Ideen wider­spre­chen dem vorherr­schenden neoli­be­ralen Poli­tik­stil, der nicht gestalten will, sondern nur den Markt verwaltet. 

Warum inve­stieren eigent­lich so viele Leute immer noch in Kryp­to­wäh­rungen, obwohl die Risiken breit disku­tiert werden?

Es wird aktuell sehr aggressiv für Kryp­to­wäh­rungen geworben. Werbe­spots versu­chen, die Leute dazu zu bringen, echtes Geld in den Kryp­to­markt einzu­speisen. Denn letzt­lich ist dieses System ein Null­sum­men­spiel. Es muss jemand Geld rein­kippen, damit es jemand anderes raus­nehmen kann. Die Leute, die seit Jahren Tokens besitzen, wollen jetzt natür­lich echtes Geld dafür haben. Es ist die Suche nach dem näch­sten Idioten, der den Mist abkauft. Jede*r in diesem System ist Opfer und Täter*in zugleich.

„Das Marke­ting zielt auf junge Männer, die sich für schlau halten.“ 

Jürgen Geuter

Weshalb funk­tio­niert die Werbung noch immer?

Nehmen wir das Beispiel USA: Hier haben weisse insge­samt mehr Besitz als Schwarze Menschen. Bei Krypto ist es andersrum. Das hat damit zu tun, dass diese Gruppe von der Werbung stark ange­spro­chen wird. Etwa indem man wich­tige Schwarze Basket­ball­spieler als Werbe­ge­sichter holt. Oder den Regis­seur Spike Lee. Der hat in einem Werbe­spot für eine Kryp­to­wäh­rung gesagt, sie sei ein Mittel für margi­na­li­sierte Gruppen, um an Reichtum zu gelangen. Damit spricht er eine Commu­nity an, die weiss, dass sie wahr­schein­lich nie durch Arbeit zu Wohl­stand kommen wird. Klar gibt es immer wieder Leute, die Glück haben und damit verdienen. Aber grund­sätz­lich wird so Menschen, die kein Geld haben, noch mehr Kohle abge­zogen, welches dann an Grossinvestor*innen fliesst, die ihre Tokens zu echtem Geld machen. 

Fehlt es also vor allem an Aufklärung?

In den USA gibt es Leute, die wissen, dass sie keine Chance auf sozialen Aufstieg haben. Und da ist das eher wie Lotto spielen: „Ich versuch’s, selbst wenn die Chancen gering sind, dass ich damit reich werde“. Das Wissen über das Risiko hindert sie nicht. In Deutsch­land funk­tio­niert das Marke­ting etwas anders: Es zielt eher auf junge Männer ab, die sich für kompe­tent und schlau halten. Wenn sie Geld verlieren, denken sie: „Aha! Ich habe jetzt verstanden, wie es funk­tio­niert“. Und dann inve­stieren sie wieder. Da kommt man mit Aufklä­rung nicht weit. Weil sie davon ausgehen, dass sie dieje­nigen sind, die profi­tieren werden und nicht dieje­nigen, die abge­zockt werden. 

Sie haben das Thema Iden­tität schon ange­spro­chen. Gibt es auch einen Gender-Aspekt, der im Marke­ting eine Rolle spielt?

Es gibt auch Marke­ting, das speziell auf Frauen abzielt. Aber das passiert deut­lich seltener. Die Szene ist männ­lich domi­niert. Es gibt sogar einen Overlap zwischen der Kryp­to­szene und der Incel-Szene, also Frau­en­has­sern. Das sah man etwa, weil in Krypto-Foren Begriffe verwendet wurden, die eigent­lich aus Incel-Foren kommen. Das Krypto-Narrativ passt in das Incel-Welt­bild: Sie hoffen, mit Bitcoin reich zu werden, weil sie davon ausgehen, dass ihnen dann die Frauen hinter­her­laufen. Und sie wünschen sich eine Welt herbei, in der sie andere domi­nieren können.

Der Bitcoin-Kurs wird immer wieder totge­sagt, aber auch immer wieder als zukunfts­wei­send bezeichnet. Welche Perspek­tiven sehen Sie für Kryptowährungen?

Während der Kurs steigt, schwärmen alle von Krypto. In so einer Phase wurde zum Beispiel gesagt, das Grund­buch in Deutsch­land werde in die Block­chain geschrieben. Oder die Liefer­ketten. Und während der Kurs abfällt, ist der Hype wieder vorbei. Dann gibt es eine Abkühl­phase, die so lange dauert, bis alle vergessen haben, was passiert ist. Und dann wird wieder inve­stiert, bis der Kurs wieder steigt. Diese Rhythmen sehen wir immer wieder. Aber die Frequenz hat sich im Vergleich zu vor einigen Jahren verän­dert: Es schlägt höher und öfter aus. 

Das heisst die Idee, Block­chain für gewisse öffent­liche Aufgaben einzu­setzen, ist Quatsch?

Block­chains wurden für eine bestimmte Situa­tion erfunden: Wenn viele Menschen eine gemein­same Daten­bank brau­chen, ohne sich zu kennen oder zu vertrauen. Dann kann eine Block­chain eine sinn­volle Option sein. Der Preis dafür ist extreme Inef­fi­zienz. Denn Vertrauen macht Dinge effi­zient. Diesen Fall, dass niemand sich kennt oder vertraut, gibt es in der realen Welt aber fast nie. Bei Liefer­ketten muss dem oder der Lieferant*in vertraut werden, sonst schreiben die falsche Dinge in die Block­chain. Das Grund­buch zu kontrol­lieren, ist die Aufgabe der Regie­rung, der wir Verwal­tungs­auf­gaben anvertrauen. 

Warum wird das dann trotzdem immer wieder aufs Tapet gebracht? Die Idee, das Grund­buch auf die Block­chain zu schreiben, steht ja sogar im Koali­ti­ons­ver­trag der deut­schen Bundesregierung.

In Deutsch­land und ganz Europa haben Politiker*innen tech­ni­sche Neue­rungen oft verschlafen und das wissen sie. Also werfen sie heute mit Begriffen um sich, um zu signa­li­sieren, dass sie diesen Fort­schritt nun wirk­lich nicht verpassen werden. Das hat so einen mythi­schen Charakter, ist aber inhalts­leer: Niemand kann je erklären, wie genau die Block­chain für irgendein echtes poli­ti­sches Problem hilf­reich sein soll. Der Finanz­markt kann sich auch nicht vom gesell­schaft­li­chen Druck, inno­vativ sein zu müssen, frei­ma­chen. Und so spielt man für viel Geld Inno­va­ti­ons­theater und tut mit neuar­tigen Finanz­pro­dukten so, als würde man bahn­bre­chende Dinge entwickeln, die am Ende das tun, was Banken eh schon tun, nur teuer und mit störenden Seiteneffekten. 

Unter dem Namen „DeFi“ (Decen­tra­lized Finance) entwickeln diverse Unter­nehmen und unter­neh­mens­ähn­liche Konstrukte Finanz­pro­dukte vorbei am Finanz­markt und seinen bestehenden Struk­turen. Die grund­le­gende Über­zeu­gung ist, dass Banken nicht zu trauen ist und das eigene Vermögen am besten in Krypto-Token ange­legt werden sollte, die weder vom Staat beschlag­nahmt noch ohne Weiteres besteuert werden können. Token, die nur von den Besitzer*innen selbst kontrol­liert werden können und sich nach einem offenen, für alle lesbaren Smart Contract verhalten.

Dieser paral­lele Finanz­sektor ist so unüber­sicht­lich, wie die Verspre­chungen gross sind. Die Anzahl der Anbieter in dem Markt ist kaum zu bestimmen und aufgrund der durch die Tech­no­logie gege­benen Pseud­ony­mität ist oft unklar, wer das jewei­lige Projekt von wo aus steuert. Diverse Anbieter verspre­chen 20 oder mehr Prozent Zinsen pro Jahr für das Inve­stieren von Krypto-Token: weit über allem, was der normale Kapi­tal­markt hergibt.

Und all das läuft ohne jede Regu­lie­rung ab. Wo am Finanz­markt sonst diverse Sicher­heits­mass­nahmen die Investor*innen schützen sollen, existiert in dieser Hinsicht im DeFi-Bereich nichts und es soll auch nichts existieren. So ist es kein Zufall, dass die Anzahl der Betrugs­fälle in diesem Sektor astro­no­misch ist: Insi­der­handel, “Wash-Trading” (d.h. der Handel mit sich selbst, um den Preis eines Assets künst­lich in die Höhe zu treiben) oder auch “Rug-Pulls” (d.h. der Dieb­stahl aller Einlagen durch die Projektgründer*innen, bevor über­haupt eine Leistung erbracht wurde) sind nicht die Ausnahme, sondern die Norm, wie die Webseite https://web3isgoinggreat.com/ tages­ak­tuell proto­kol­liert. Es gibt das geflü­gelte Wort, Krypto und DeFi seien ein Speedrun durch 200 Jahre Finanzbetrug.

Das zentrale Problem von Krypto als digi­talem Finanz­markt ist, dass es nicht auf einer echten Wert­schöp­fung basiert, sondern ein rein speku­la­tives Asset darstellt. Das ist keine Nischen­mei­nung: Die Chefin der EU-Zentral­bank, Chri­stine Lagarde, bezeich­nete Krypto kürz­lich als „wertlos“ und sprach sich für eine harte Regu­lie­rung aus. 

Auch die Krypto-Vordenker*innen selbst scheinen das kaum anders zu sehen: In einem kürz­lich aufge­nom­menen Podcast beschrieb Sam Bankman-Friend, Vordenker der DeFi-Szene und Besitzer einer wich­tigen Krypto-Exch­ange, an der man echtes Geld in Krypto umtau­schen kann, DeFi ganz explizit als Schnee­ball­sy­stem ohne echte wirt­schaft­liche Akti­vität. Menschen inve­stieren, weil andere Menschen inve­stieren und so lange das so bleibt, bekommen alle – vor allem die, die zuerst inve­stiert haben, – grosse Renditen. Bis niemand Neues dazu kommt und alle nur noch Token haben, die niemand kaufen will und die keinen Wert haben. 

In der Ökonomie nennt man das „The Greater Fool Theory“: Das System basiert nicht darauf, dass Menschen glauben, in Dinge zu inve­stieren, die einen Wert haben, sondern darauf, dass sie hoffen, das wert­lose Objekt irgendwie für mehr verkaufen zu können, als sie selbst inve­stiert haben.
Jürgen Geuter

Birgt diese Ahnungs­lo­sig­keit auch eine Gefahr?

Ja, es kann verhee­rend werden, vor allem wenn wich­tige gemein­nüt­zige Insti­tu­tionen auf Bitcoin setzen. Das passierte etwa in Kanada, wo ein Renten­fonds Geld in Bitcoin inve­stiert hat. 200 Millionen kana­di­sche Dollar aus diesem Fonds sind jetzt weg. Das darf nicht passieren, denn wenn solche Insti­tu­tionen dieses Glücks­spiel mitma­chen, erhält es dadurch Glaub­wür­dig­keit. Zudem wird das Geld von Menschen verzockt, die dabei nicht mitreden konnten.

Was muss passieren, um das zu verhindern?

Das Auf und Ab wird so lange weiter­gehen, wie es keine Regu­la­tionen gibt. Bis dahin wandert das Geld immer von der breiten Bevöl­ke­rung – im Zweifel von der ärmeren Bevöl­ke­rung – in die Taschen von Investor*innen. Es ist eine gigan­ti­sche Umver­tei­lungs­ma­schine von unten nach oben. So lange man nicht eingreift, bleibt das so, weil immer wieder jemand diese Maschine anwerfen wird.


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