Das schöne Leben der Toten

Wessen Neugierde haben die farben­frohen Bilder aus Mexiko am Tag der Toten geweckt? Wer ist am Anfang der neuen Dekade beflü­gelt, seine Beklom­men­heit gegen­über dem Tod umzu­stülpen? Milena Mosers Buch „Das schöne Leben der Toten“ geht der Essenz auf den Grund, weshalb in Mexiko der Tod kein Tabu­thema ist und wie man mit den Toten zusammen feiern kann. 
(Francisco Javier Bautista de la Cruz)

Es ist die Nacht des 1. Novem­bers 2019 im tropi­schen Centla in Tabasco, Mexiko: der Tag der Toten. Doch statt schwarzer Trau­er­ge­wänder oder Grusel­ge­stalten ist der Raum erfüllt von ausge­las­senem Geplauder, bunte Sche­ren­schnitt-Girlanden flat­tern über den Köpfen der Gäste und ein mit Esswaren reich bestückter Altar verzückt die Sinne. Mitten­drin: ich, la güera (die Weisse/Ausländerin), wie sie mir hier liebe­voll (wirk­lich so gemeint!) sagen. Vor lauter Vorfreude und Neugierde kann ich kaum stillsitzen.

Zu Beginn der Zere­monie wenden sich alle im Gleich­schritt den vier Kardi­nal­punkten zu, während die Scha­manin das Räucher­ge­fäss mit Kopal schwenkt. In Gedanken lädt man die Verstor­benen ein, dieser Fest­ge­mein­schaft beizu­wohnen, wobei das Blasen der tradi­tio­nellen Muschel­hörner dem Wunsch Nach­druck verleiht. Die beiden Dorf­äl­te­sten gedenken in Folge in einer ausführ­li­chen Rede in der Maya Sprache Yokot t’an ihrer verstor­benen Ange­hö­rigen. Sie bedanken sich dafür, dass diese in die Gefilde der ewigen Glück­se­lig­keit aufge­nommen wurden und dass wir Hinter­blie­benen gesund sind. Nach einem Rosen­kranz-Gebet darf man nach vorne und für jeden seiner Ange­hö­rigen eine Kerze anzünden. Die Zere­monie wird von einer Trom­mel­gruppe abge­rundet, bevor die Schlem­merei beginnt. Brühe mit Rind­fleisch, tamales, pan de muertos, pozol, guarapo, Kaffee und haus­ge­machte Süssig­keiten aus Papaya und Kokos­nuss werden im Über­fluss serviert. Bis in die Nacht hinein wird getrunken und gesungen – ein reines Freu­den­fest. Die Toten hätten bestimmt auch ihren Spass.

Der Altar in Centla: Von grauer Tristesse fehlt jede Spur. (Foto: Fran­cisco Javier Bautista de la Cruz)

Kurz vor der beschrie­benen Zere­monie erschien die Publi­ka­tion Das schöne Leben der Toten von Milena Moser zu diesem Feiertag. Inspi­riert von den Eindrücken, verschlang ich die Seiten in einer einzigen Busfahrt. Das erzäh­lende Sach­buch ist ein Gemein­schafts­werk mit Mosers Partner Victor-Mario Zaballa als Illu­strator. Letz­teren begleitet sie als schwer­krank geschrie­benen Pati­enten, bedin­gungslos lebens­be­ja­henden Mann, Künstler vieler mexi­ka­ni­scher Altare für den día de los muertos und gläu­bigen Tolteken, der als Leiter ritu­eller Zere­mo­nien ausge­bildet ist. Auf diese Weise taucht sie mit einer unver­gleich­li­chen Inten­sität in die Riten dieses Fest­tages ein. Als Exilme­xi­kaner, der in einer tradi­tio­nellen Gemein­schaft in Mexiko aufge­wachsen ist, hat Victor zudem ein sensi­bles Gespür für die würde­volle Adap­t­ation oder selbst­ver­herr­li­chende Verfrem­dung des mexi­ka­ni­schen Feier­tages durch west­liche Kultur­ange­hö­rige, was im Buch humo­ri­stisch in Szene gesetzt wird. Moser schreibt unver­blümt über ihre eigene Alteri­täts­er­fah­rung, die sie anfäng­lich
gegen­über diesem Todes­brauchtum empfand, sowie ihre Bewun­de­rung dafür und
ihre schritt­weise Aneig­nung der damit verbun­denen Rituale.

Das schöne Leben der Toten vereint sach­liche Passagen zur Mytho­logie der Tolteken mit auto­bio­gra­fi­schen Anek­doten der Autorin, die in Korre­la­tion mit dem Tod stehen. So erfährt man beispiels­weise vom Unfall der gefie­derten Schlange Quetz­al­coatl, dem wir unsere Sterb­lich­keit verdanken; wie man sich im Erzählen verrückter Kapriolen des verstor­benen Freundes näher­kommen kann; oder wie man einen tamal zube­reitet, aus dessen Mate­rial Mais auch wir Menschen geformt sind. Die Kapitel werden mit prähis­pa­ni­scher Poesie und Illu­stra­tionen erwei­tert. Das schöne Leben der Toten hat, wie Moser selbst erläu­tert, keinen Anspruch auf Voll­stän­dig­keit. Während einige Aspekte im Detail geschil­dert werden, laden andere zum selbst­stän­digen Nach­for­schen ein. Das Iden­ti­fi­ka­ti­ons­po­ten­zial des Buches liegt viel­mehr darin, dass wir uns in verschie­den­sten Szenen selbst wieder­erkennen in der Angst vor dem zum Tabu­thema degra­dierten Tod und der Bewun­de­rung derer, die mit dem Tod zu feiern und zu tanzen wissen. Das Buch nimmt jedeN LeserIn auf eine ganz persön­liche Reise durch das herbst­liche San Fran­cisco der mexi­ka­ni­schen Immi­gran­tInnen mit, durch die sagen­haften Geschichten der tolte­ki­schen Welt­an­schauung und durch die eigenen Gefühle gegen­über dem Tod.

(Foto: Klein & Fein Verlag)

Der día de los muertos zeugt von einem Synkre­tismus zwischen präko­lum­bia­ni­schen und kolo­nialen Toten­ri­tualen. Die während der Erobe­rung domi­nie­rende Ethnie der Azteken hatte in unserem Juli und August zwei zentrale Feier­tage zu Ehren der Toten. An miccail­hui­tontli würdigte man die verstor­benen Kinder, indem man einen Baum fällte und dessen Strunk mit Blumen deko­rierte. Den erwach­senen Toten huldigte man an huey­mic­cail­huitl, wobei man eine Art Altar mit Opfer­gaben gestal­tete. Die Plat­zie­rung eines Fotos des Verstor­benen auf dem Altar geht vermut­lich eben­falls auf eine präko­lum­bia­ni­sche Tradi­tion zurück, den Verstor­benen mittels einer Kera­mik­figur zu reprä­sen­tieren. Die von den spani­schen Erobe­rern nach Mexiko gebrachten christ­li­chen Fest­tage  Aller­hei­ligen und Aller­seelen hatten zentrale Elemente mit den meso­ame­ri­ka­ni­schen Toten­riten gemeinsam wie das Backen eines spezi­fi­schen Brotes und die Deko­ra­tion mit Blumen. Hinzu kamen das präko­lum­bia­ni­sche Räucher­ri­tual mit Kopal, was die Tran­si­tion der Seelen ins Dies­seits erleich­tern soll, und die christ­liche Ikono­grafie der Toten­köpfe als Emblem des Todes.

Bis heute hat sich der día de los muertos stetig verän­dert. Je nach Region wurden unter­schied­liche ethni­sche Arte­fakte und Riten imple­men­tiert, im 19. Jahr­hun­dert erwei­terte er sich um poli­ti­sche Kari­ka­turen, allen voran die Catrina von José Guad­a­lupe Posada, und jüngst rüstete man mit karne­val­esken Prozes­sionen nach, die dem James-Bond-Film Spectre entsprangen und nicht wie gemeinhin irrig ange­nommen umge­kehrt den Produ­zenten inspi­riert hatten. Der Feiertag hat sich so von einem privaten und spiri­tu­ellen Ereignis um einen öffent­li­chen und kommer­zi­ellen Anlass erwei­tert, an Hete­ro­ge­nität zuge­nommen und inter­na­tional an Popu­la­rität gewonnen.

Das Räucher­ri­tual mit Kopal. (Foto: Fran­cisco Javier Bautista de la Cruz)

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