2020 ist für die Flugbranche ein Jahr zum Vergessen. Viele Flugzeuge sind immer noch am Boden, die Stimmung ist im Keller, auch wenn der Staat gerade entschieden hat, kräftig auszuhelfen. Und jetzt kommt noch ein weiteres Problem hinzu. Eines, dass sich die Branche ganz allein eingebrockt hat – und an dessen Lösung sie in den Hinterzimmern unter Hochdruck arbeitet.
Die Flugbranche ist nämlich die erste Branche mit einem weltweiten Klimaprogramm. „Carbon Offsetting and Reduction Scheme for International Aviation“ nennt sich das internationale Abkommen. Kurz: CORSIA. Und darauf ist die Branche eigentlich mächtig stolz, wie sich in fast jeder Diskussion zeigt, in der die Luftfahrt in Kritik gerät.
Jüngst zum Beispiel bei den parlamentarischen Diskussionen um die Corona-Kredite an die Flugbranche. Thomas Hurter, Nationalrat (SVP) und Präsident von Aerosuisse, dem Dachverband der schweizerischen Luft- und Raumfahrt, entgegnete dort auf ein Votum der grünen Nationalrätin Marionna Schlatter: „Frau Schlatter, bitte! Sie sagen, die Luftfahrt bezahle nichts, entrichte keine Abgaben. Entschuldigung, aber das ist einfach Mist! Die Swiss hat in den letzten Jahren acht Milliarden Franken für neue Flugzeuge eingesetzt. Wir bezahlen an das EU-ETS, wir bezahlen Lärmgebühren, wir bezahlen für das Carbon Offsetting and Reduction Scheme for International Aviation (CORSIA). Übrigens ist die Luftfahrt die einzige Branche weltweit, die ein internationales Abkommen hat; das hat sonst keine andere Branche!“
Wie funktioniert CORSIA?
Das klingt zunächst nach viel. Aber: Das Europäische Emissionshandelssystem (EU-ETS) ist viel zu lasch, wie dieses Positionspapier von sechs Umweltschutzorganisationen von 2019 zeigt. Zertifikate, welche die Airlines ersteigern müssen, sind lächerlich billig. Und erstmals abgerechnet wird erst 2021, wie das Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) gegenüber das Lamm bestätigt. Und auch für das weltweite CORSIA-Programm hat bis jetzt noch keine Airline auch nur einen Rappen bezahlt.
Zwar verpflichten sich die Airlines der teilnehmenden Staaten im Rahmen von CORSIA zu Kompensationszahlungen, falls sie mehr als die vereinbarte Menge CO2 ausstossen. Doch auch diese Zahlungen setzen erst 2021 ein – zunächst noch auf freiwilliger Basis. Erst ab 2027 sind sie verbindlich. Aber auch dann werden die Airlines bei weitem nicht all ihre Emissionen kompensieren. Denn CORSIA strebt nicht eine klimaneutrale Flugbranche, sondern ein klimaneutrales Wachstum der Flugbranche an. Tatsächliche Reduktionen sind neben den Kompensationszahlungen vorerst keine vorgesehen.
Auch CORSIA ist also ziemlich lasch. Und das ist kein Wunder, denn das Programm stammt aus der Feder der International Civil Aviation Organisation (ICAO), also der Internationalen Zivilluftfahrtbehörde der UNO. Dieses Gremium für die Ausarbeitung eines Klimaschutzkonzeptes für die Flugbranche verantwortlich zu machen – das ist, wie wenn man hierzulande das BAZL mit der Ausarbeitung eines Klimaplans für die Luftfahrt betrauen würde. Dass dabei nichts Schlaues herauskommen würde, hat das BAZL in der jüngsten Vergangenheit mehrmals bewiesen.
So weit, so gut also für Hurter und Co. In den Teppichetagen der Branche hat man sich wohl ins Fäustchen gelacht ob dieses cleveren Schachzugs, nationalen klimapolitischen Massnahmen mit einem brancheneigenen, harmlosen Abkommen, das gar noch das UN-Siegel trägt, zuvorgekommen zu sein.
Aber sie haben sich zu früh gefreut. Und damit zurück zum neusten Problem der Branche: Die Stichjahre, die der Berechnung der „erlaubten“ Menge CO2-Emissionen zugrunde liegen, sind nämlich 2019 und 2020. Ja, das Jahr von Corona. Das Jahr mit den kondensstreifenfreien Himmeln. Die Klimagasemissionen aus dem Flugverkehr werden 2020 coronabedingt historisch klein ausfallen. Die Grenze, ab welcher die Airlines über CORSIA Kompensationszahlungen leisten müssten, wird also viel tiefer liegen als geplant.
IATA empfiehlt das Jahr 2020 aus Klimaschutzgründen zu streichen
CORSIA könnte die Branche also deutlich teurer zu stehen kommen als ursprünglich geplant. CORSIA könnte tatsächlich zu griffigen Kompensationszahlungen führen. Das hatten sich die Verantwortlichen wohl anders vorgestellt.
Laut dem Luftfahrtmagazin airliners.de soll deshalb an der laufenden Sitzung des Rates der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation vom 8. bis 26. Juni in Montreal über eine Anpassung von CORSIA verhandelt werden. Der Internationale Airline-Verband IATA, also der weltweite Dachverband der Fluggesellschaften, möchte das Jahr 2020 am liebsten ganz aus der Baseline streichen, um so das Abkommen wieder zu schwächen. Aber wie soll man das denn der Öffentlichkeit begründen? Logisch. Mit dem Klimaschutz.
Die Argumentation: Wichtige Länder wie Brasilien, Indien, China oder Russland hätten noch nicht zugesagt, bei der nun anstehenden freiwilligen Pilotphase ab 2021 mit dabei zu sein. Würden die Kompensationszahlungen nun nach oben schnellen, würde das die Bereitschaft, der noch nicht teilnehmenden Länder kaum erhöhen. Die IATA schreibt dazu: „States may be less inclined to volunteer for CORSIA and indeed current volunteers may reconsider their earlier decisions.“ Und das würde dem Klima schlussendlich mehr schaden als nützen, so die IATA.
Bei CORSIA fehlt die Klimagerechtigkeit
Und irgendwie hat die IATA damit natürlich sogar recht. Doch bereits vor Corona waren Länder mit einer zwar noch eher kleinen, aber nun schnell wachsenden Flugbranche kritisch gegenüber CORSIA. Zum Teil aus berechtigten Gründen, denn während westliche Länder mit dem Konzept CORSIA die bereits vorhandenen Sockelemissionen auch nach 2021 weiterhin gratis verballern dürfen, werden sie für jeden Zuwachs ihrer Branche bezahlen müssen. Auch wenn ihre Emissionen noch weit unter denen der westlichen Länder liegen werden. Brasilien, Indien, China oder Russland fragen sich deshalb zurecht, weshalb sie mit ihrer Flugbranche nicht erst auf das Niveau von europäischen Ländern anwachsen dürfen, bevor sie kompensieren müssen. Und aufgrund der neusten Entwicklungen dürfte ihr Interesse an CORSIA sicher nicht gewachsen sein.
Kurz: Damit CORSIA tatsächlich je als globales Abkommen umgesetzt werden kann, muss es entweder gerechter sein – oder so zahnlos sein, dass es sich auch die ungerecht behandelten Länder leisten wollen, mit dabei zu sein. Deshalb stellt sich die Frage, ob CORSIA dem Klima überhaupt etwas bringt oder nicht.
CORSIA als politisches Druckmittel
Denn CORSIA ist nicht nur sehr lasch, sondern auch so ausgestaltet, dass es von der Flugbranche dazu eingesetzt werden kann, sich vor anderen, ambitionierteren Instrumenten zu drücken. So hat die Internationale Zivilluftfahrtorganisation 2019 an einer Versammlung der Mitgliedstaaten beschlossen, dass CORSIA das einzige marktbasierte System sein soll, zu welchem sich die Luftfahrt verpflichtet.
Dieser Beschluss passt freilich so gar nicht mit dem klimapolitischen Kurs der EU in Sachen Luftfahrt zusammen. Denn in der EU (und auch in der Schweiz) ist die Flugbranche zusätzlich zu CORSIA eben auch dazu verpflichtet, am europäischen Emissionshandel teilzunehmen. Die europäische Flugbranche sieht das als ungerechtfertigte Doppelbelastung. Die EU will laut einer Meldung der Nachrichtenagentur Reuters aber trotz CORSIA-Start an diesem Weg festhalten. Die Airlines werden wohl massiv dagegen lobbyieren. Und dabei mit Sicherheit einmal mehr ins Feld führen, das die Luftfahrt die erste Branche mit einem weltweiten Klimaschutzabkommen sei.
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