Die guten Armen und die Charity-Falle

Laut einer Studie spenden arme Menschen mehr als Reiche. Sind Arme die besseren Menschen? Das ist die falsche Frage, findet Kolum­nist Olivier David. Statt­dessen sollten wir über den Zweck von Charity sprechen. 
Reiche schmücken sich gerne mit Philanthropie – und bekämpfen gleichzeitig Steuererhöhungen. (Bild: Arbnore Toska)

Zwei Sachen fallen bei der Studie des Deut­schen Insti­tuts für Wirt­schafts­for­schung (DIW) von Ende 2022 auf. Zunächst das Erwart­bare: Die ober­sten zehn Prozent sind für 37 Prozent des gesamten Spen­den­auf­kom­mens verant­wort­lich. Aber dann: „Relativ zum verfüg­baren Einkommen spenden einkom­mens­schwache Haus­halte deut­lich mehr als einkom­mens­starke.“ Arme Menschen spenden im Durch­schnitt 1.9 Prozent ihres Einkom­mens, die ober­sten zehn Prozent dagegen nur 0.9 Prozent. 

Eine Erhe­bung des Bundesamt für Stati­stik aus dem Jahr 2017 über das Haus­halts­budget der Schweizer*innen ergibt ein ähnli­ches Bild: Die nied­rigste Einkom­mens­klasse hat damals knapp 0.5 Prozent ihres Einkom­mens gespendet, die höchste Einkom­mens­klasse nur rund 0.3 Prozent. Dass arme Menschen mehr spenden als Reiche, ist ein inter­na­tio­naler Trend. Skan­di­na­vi­sche Forscher*innen befragten in einer Studie welt­weit 46’000 Personen und fanden heraus, „dass Personen, die in einem ressour­cen­armen Umfeld aufge­wachsen sind, im Vergleich zu anderen eine stär­kere mora­li­sche Iden­tität haben. Sie waren eher bereit, Geld für wohl­tä­tige Zwecke zu spenden.“

Menschen, die arm sind, haben eine stär­kere mora­li­sche Iden­tität. Bäm, da habt ihr den direkten Vergleich, ihr Schnösel, möchte man denje­nigen zurufen, deren Sport es ist, arme Menschen zu verun­glimpfen. Hat sich die erste Freude über die Erkenntnis gelegt, stellt sich aber die Frage, warum es uns über­haupt so wichtig ist, Beweise für eine tolle Moral der Unter­klasse zu liefern? 

Das Netz­werk Chancen, eine Initia­tive, die Arbeiter*innenkindern den Aufstieg erleich­tern will, beant­wortet die Frage indi­rekt – indem sie auf Insta­gram eine Grafik der Studie des DIW posten. Darunter steht: „Was meint Ihr, was das über unsere Gesell­schaft sagt?“

Die Geschichte von den guten Armen

Ja, was sagt uns das jetzt? Arme sind die besseren Menschen und Reiche sind geizig? Viel­leicht ist es das, was man beim Netz­werk Chancen impli­ziert hatte. Viel­leicht ist die Antwort aber eher, dass Armuts­be­trof­fene darauf ange­wiesen sind, dass ihnen geholfen wird, und daher selbst öfter helfen. Schlag­zeilen wie die von spen­den­wil­ligen Armen sind Gegen­ar­gu­mente zu klas­si­sti­schen Framings und Vorur­teilen à la Arme sind faul, sie wählen rechts et cetera. Studien, wie die oben ange­führte, helfen, falsche Bilder über Armuts­be­trof­fene ins rich­tige Licht zu rücken. Das ist erst mal etwas Gutes. 

Die Logik, die hinter einer solchen Nach­richt steckt, ist aller­dings eine mora­li­sie­rende. Der Subtext: Guck, die sind gut, also müssen wir für sie kämpfen. Wenn arme Menschen sich für andere einsetzen, dann haben sie es verdient, dass man sich eben­falls für sie einsetzt. Gewiss meinen es viele Menschen – und auch die Leute vom Netz­werk Chancen – nicht böse, wenn sie sich an derar­tigen Wert­ur­teilen betei­ligen. Das Ergebnis aber ist dasselbe: Es wird zwischen guten, weil inte­gren, und schlechten Armen unter­schieden. Wo nach Gründen gesucht werden muss, warum Menschen Armut nicht verdient haben, da ist die Erkenntnis nicht weit weg, dass manche ihre Armut viel­leicht doch verdient haben. 

Diesen Twist kennt man aus Migra­ti­ons­de­batten, wo fein säuber­lich zwischen guten, weil fleis­sigen und gut ausge­bil­deten Arbeitsmigrant*innen und unrecht­mäs­sigen Migrant*innen unter­schieden wird. Oder die Unter­schei­dung zwischen Asyl­su­chenden und soge­nannten Wirt­schafts­flücht­lingen, die „nur“ arm sind und nicht aus Kriegs­ge­bieten flüchten.

Das Problem bei dieser Logik ist: Es wird immer Gründe geben, warum man sich über Arme erheben kann. Seien es die gerin­geren Corona-Impf­quoten, die gerin­gere Betei­li­gung an Wahlen oder ihre poli­ti­sche Ausrichtung. 

Statt über die mora­lisch über­le­genen Armen – und die geizi­geren Reichen – zu spre­chen, ist es lohnens­wert, sich dem Phänomen der Charity an sich zu widmen. Warum über­haupt Spenden? Warum wird so positiv übers Spenden gespro­chen? Eigent­lich ist der Fakt, dass gespendet werden muss, um gesell­schaft­liche Ungleich­heit auszu­glei­chen, doch an sich skan­dalös. Private Spender*innen und kari­ta­tive Initia­tiven füllen die Lücken, die ein dysfunk­tio­naler Sozi­al­staat hinter­lassen hat.

Charity als Feigenblatt

Welche Funk­tion erfüllt also Charity in einer unge­rechten Gesell­schaft, in der Geld immer nach oben strömt? In einer Gesell­schaft, die genau dieje­nigen über­vor­teilt, die sich dann anschlies­send als Gönner*innen insze­nieren können? 

Der Schweizer Unter­nehmer Beat Curti zum Beispiel ist „an Stif­tungen betei­ligt und Förderer der Schweizer ‚Tafel‘, wendet sich gleich­zeitig aber gegen höhere Steuern“, schreibt die TAZ. Die Geschichte der Charity ist untrennbar verbunden mit dem Gedanken, den eigenen Reichtum zu recht­fer­tigen. Curtis Vorgehen, eine soziale Insti­tu­tion wie die Tafel zu unter­stützen und gleich­zeitig gegen höhere Steuern zu lobby­ieren, ist keine Ausnahme, sie ist der histo­risch gewach­sene Grund für Charity. 

Obwohl es ein inter­na­tio­nales Phänomen ist, dass arme Menschen prozen­tual mehr spenden als Reiche, haben die ober­sten Prozente einen massiven Anteil am gesamten Spen­den­vo­lumen. Ergo gelingt es ihnen, über ihre Spen­den­be­reit­schaft, das Bild von rück­sichts- und skru­pel­losen Reichen zur Erzäh­lung von gross­her­zigen Retter*innen zu konvertieren.

Und das, obwohl viele Reiche Charity nicht nur brau­chen, um ihr Image zu trans­for­mieren, sondern um hohe Abgaben zu umgehen. So schreibt der Spiegel: „Gutes tun, kann sich auch steu­er­lich lohnen. Ameri­kaner können Spenden vom zu versteu­ernden Einkommen abziehen, und zwar in faktisch unbe­grenzter Höhe.“ 

Das ist in der Schweiz nicht anders, hier dürfen private Haus­halte und Firmen bis zu zwanzig Prozent des Rein­ge­winns spenden – Geld, das in der Steu­er­erklä­rung abge­setzt werden kann. Spenden ist also mitnichten nur ein Projekt gross­her­ziger Reicher, die „etwas zurück­geben wollen“. Oft wird gespendet, um Einfluss zu vergrös­sern und um Steuern zu sparen. Häufig fliessen Spenden auch direkt an die eigene Familienstiftung. 

Neulich wurde ich gefragt, ob ich für einen Abend in einem Wohl­tä­tig­keits­klub aus meinem Buch lesen und von meinem Schicksal erzählen wollte. Genau die Klasse, deren Lobbyist*innen eine faire finan­zi­elle Besteue­rung ihres Reich­tums verhin­dern, heuchelte Inter­esse an den Lebens­rea­li­täten der Menschen, deren Not durch ihre Kapi­tal­in­ter­essen über­haupt erst entstanden sind. Ich habe ihnen, dem Lions Club Hamburg-Wandsbek, natür­lich nicht geant­wortet, denn ich werde mich nicht zum Feigen­blatt für ihren Reichtum machen lassen.



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