Die Mapuche in Chile: Ein Konflikt ohne Aussicht auf Versöhnung

Seit Tagen kommt der Süden Chiles nicht zur Ruhe. Blockierte Strassen, besetzte Gemein­de­ver­wal­tungen und lange Kara­wanen einer mili­ta­ri­sierten Polizei, markieren einen neuen Eska­la­ti­ons­punkt des Konflikts der indi­genen Mapuche mit dem chile­ni­schem Staat und der orts­an­säs­sigen Olig­ar­chie. Eine fried­liche Lösung des Konflikts scheint unter Piñera unmöglich. 
Präsident Piñera bei der Vorstellung des "Dschungelkommandos" (Foto: Presidencia)

Abge­brannte Gemein­de­ver­wal­tungen sind die Über­bleibsel einer Nacht der Gewalt. Am ersten August­wo­chen­ende versam­melten sich während der nächt­li­chen Ausgangs­sperre mehrere Hundert aufge­brachte Menschen vor insge­samt vier besetzten Gemein­de­ver­wal­tungen mit dem Ziel, diese gewaltsam zu räumen.

Die Polizei sah zu und nahm die Besetzer*innen, Ange­hö­rige der indi­genen Mapuche, schliess­lich fest. Die Menge vor den Rathäu­sern grölte rassi­sti­sche Sprech­chöre, setzte Autos der Besetzer*innen in Brand und verfolgte flie­hende Mapuche. Diese hatten mit ihrer Aktion den inhaf­tierten machi Cele­stino Cordóva und 26 weitere Mapuche-Häft­linge unter­stützt, die sich zu dem Moment im Hunger­streik befanden, um gegen ihre Haft­be­din­gungen zu demonstrieren.

Brand­stifter im Amt

Die chile­ni­sche Regie­rung verur­teile am näch­sten Morgen die Gewalt „auf beiden Seiten“, zeigte aller­dings Verständnis gegen­über „Bürgern, die ihr Rathaus zurück­haben wollen“. Die Rolle der Polizei oder der offene Rassismus der genannten „Bürger*innen“ wurden nicht thema­ti­siert. Wieso wurde niemand fest­ge­nommen, obwohl doch aufgrund der Corona-Pandemie ab zehn Uhr abends eine nächt­liche Ausgangs­sperre herrscht? Aufge­nom­mene Gespräche beweisen, dass die Polizei von den Vorbe­rei­tungen auf die Versamm­lungen, welche unter der Schirm­herr­schaft der rechts­extremen Grup­pie­rung APRA Aracaunía statt­fanden, wusste.

Die APRA Arau­canía besteht haupt­säch­lich aus Grossgrundbesitzer*innen der gleich­na­migen Region. Hier herrscht seit Ewig­keiten ein Konflikt zwischen den indi­genen Mapuche, Forst­un­ter­nehmen und euro­päi­schen Siedler*innen. Die Ersteren rekla­mieren Land für sich, welches derzeit jedoch exklusiv von den Letz­teren genutzt wird. Seit Ende der Mili­tär­dik­tatur 1990 hat keine Regie­rung den Konflikt zu lösen vermocht, im Gegen­teil: Meist wurde die Polizei einge­setzt, um die Proteste der Mapuche im Keim zu ersticken.

Ende Juli dieses Jahres setzte die Regie­rung Piñera einen neuen Innen­mi­ni­ster ein. Der Neue, Víctor Peréz, ist ein Hard­liner, kommt aus der Region und ist ein Partei­kol­lege der Spre­cherin von APRA Arau­canía, Gloria Naveillán. Er besuchte die Region einen Tag vor der nächt­li­chen Eska­la­tion und machte seinen Stand­punkt deut­lich: Ohne dass er sich mit Mapuche oder den von den Beset­zungen betrof­fenen Bürger­mei­stern traf, sprach er von Terro­rismus und forderte die unver­züg­liche Räumung der Rathäuser.

Ein Mord und ein Hungerstreik

Die Bezie­hungen zwischen den Mapuche und der derzei­tigen Regie­rung waren schon lange auf einem Tief­punkt. Noch zu Beginn der rechts­kon­ser­va­tiven Regie­rung Seba­stián Piñeras im Jahr 2018 lancierte diese eine gross ange­legte Über­ein­kunft für wirt­schaft­liche Entwick­lung und Frieden in der Arau­canía. Mit dabei: Mapuche und Unter­nehmen, welche bislang kaum im Dialog mitein­ander standen. Die Bestre­bungen endeten jedoch abrupt. Am 14. November 2018 tötete die chile­ni­sche Polizei den Mapuche Camilo Catril­lanca mit einem Schuss in den Rücken, als dieser gerade auf einem Traktor nach Hause fuhr. Angeb­lich war Catril­lanca an einem Auto­dieb­stahl betei­ligt. Die Regie­rung zögerte, sprach zuerst von „legi­timer Vertei­di­gung“ des Poli­zi­sten und brach damit jedes Vertrauen. Die Über­ein­kunft war Geschichte.

Als Antwort auf das Attentat grün­dete sich die Bewe­gung Xawn de Temu­cuicui. Der Mapuche Eduardo Curin war Teil dieser Bewe­gung: „Wir sind sofort nach Valpa­raiso vors Parla­ment gegangen, haben erreicht, dass die zustän­dige Poli­zei­ein­heit aufge­löst und der Poli­zist, der den Schuss abgab, iden­ti­fi­ziert und ange­klagt wurde.“ Doch danach bewegte sich nichts mehr. „Seit fast zwei Jahren sind die Ermitt­lungen am Laufen, und der Mörder wird für die erfüllte Mission mit einem Extra-Gehalt belohnt“, sagt Curin. Nach einem Aufent­halt in Unter­su­chungs­haft veran­lasste das Gericht im April 2020 die Über­füh­rung des Poli­zi­sten in den Haus­ar­rest. Damals stellte sich auch heraus, dass die Polizei ihm weiterhin einen Lohn von 900’000 Pesos im Monat, rund 1’000 Franken, auszahlte. Das ist in etwa doppelt so hoch wie das landes­üb­liche Einstiegs­ge­halt einer Lehrperson.

„Im Dezember 2018 haben wir uns mit einem Forde­rungs­ka­talog an die Regie­rung und das Parla­ment gewandt“, erzählt Curin. „Wir verlangten die Bildung einer Wahr­heits­kom­mis­sion.“  Ziel der Kommis­sion wäre es gewesen, die Basis für einen neuen Sozi­al­pakt zu schaffen. Dies wäre der erste Schritt gewesen, um der Mili­ta­ri­sie­rung ein Ende zu setzen und den Land­kon­flikt zu lösen. Doch dazu kam es nicht. Seit Anfang 2019 herrscht Schweigen zwischen beiden Parteien.

Curin ist aufge­bracht; ich rede mit ihm übers Telefon, da Reisen inner­halb Chiles aufgrund der Corona-Pandemie derzeit fast unmög­lich ist. Die letzten Ereig­nisse scheinen auch die Mapuche über­rum­pelt zu haben. Die Pandemie und die daraus resul­tie­rende wirt­schaft­liche und soziale Krise hatten die öffent­liche Aufmerk­sam­keit in den letzten Monaten monopolisiert.

Die Mapuche, die mehr als hundert Tage im Hunger­streik waren, hatten kaum Öffent­lich­keit. Unter ihnen ist der Medi­ziner – machi – Cele­stino Cordóva. Das Ziel der Proteste war es, dass der Staat das inter­na­tio­nale Über­ein­kommen endlich durchsetzt.

Der Fall des machi und der inhaf­tierten Mapuche ist beispiel­haft. Sie kämpfen seit Monaten dafür, dass der chile­ni­sche Staat das „Über­ein­kommen über einge­bo­rene und in Stämmen lebende Völker in unab­hän­gigen Ländern“ der Inter­na­tio­nalen Arbeits­or­ga­ni­sa­tion – kurz ILO 169 – einhält. Dieses verpflichtet die unter­zeich­nenden Länder, die spezi­ellen Rechte und Lebens­weisen der indi­genen Völker anzu­er­kennen und zu fördern. Im Fall des machi, einem Medi­ziner und geist­li­chen Ober­haupt, bedeutet dies, dass er in Verbin­dung mit seiner Gemein­schaft sein muss. So wird gefor­dert, dass er regel­mässig in sein Dorf zurück­kehren darf, um sich um die Mitglieder zu kümmern und seine Kräfte wieder aufzu­laden. Nach über hundert Tagen im Hunger­streik und der Warnung, diesen bis zum Tod fort­zu­führen, gewährte der Justiz­mi­ni­ster Hernan Larraín dem machi am 18. August einen Besuch von maximal 30 Stunden in seiner Dorfgemeinschaft.

„Ein Apart­heids­re­gime“

Der Ursprung des Konflikts liegt im 19. Jahr­hun­dert. Mit dem Aufbau des chile­ni­schen Staates wurden auto­nome Gebiete der Mapuche im Süden durch das Militär erobert. Dies ging einher mit massiven Vertrei­bungen, Mord und Land­raub. Euro­päi­sche Siedler*innen wurden in die Gebiete gebracht und bildeten die neue Ober­schicht der Region. Vicente Painel, Menschen­rechts­be­auf­tragter des indi­genen Verbands zur Forschung und Entwick­lung der Mapuche (AID), bezeichnet die Bezie­hung der weissen Ober­schicht mit den Mapuche als „Apart­heids­re­gime“, in welchem die Mapuche auf allen Ebenen diskri­mi­niert werden. „Kein einziger Offi­zier hat einen indi­genen Nach­namen, und erst seit 2018 haben wir mit Fran­cisco Huen­chu­m­illa den ersten Indi­genen im Senat“, sagt Painel. Die Region der Mapuche ist die ärmste Chiles und in der Region selbst sind es wiederum die Mapuche, die am stärk­sten von Armut betroffen sind. Länd­liche Gebiete der Mapuche haben kaum Anschluss an öffent­liche Infra­struk­turen wie asphal­tierte Strassen oder gute Bildung. Die Indi­genen leben unter stän­diger poli­zei­li­cher Kontrolle und Gewalt. „Das sind Ghettos“, fügt Painel hinzu.

Obwohl die verfolgte Stra­tegie bislang nicht zu einem Ende des Konflikts geführt hat, im Gegen­teil diesen immer weiter ansta­chelt, hält die Regie­rung an ihrer sicher­heits­po­li­ti­schen Reak­tion fest. Dabei ist Präsi­dent Seba­stián Piñera nicht gerade zimper­lich, wenn es um Poli­zei­ge­walt geht. Dies zeigte die Repres­sion bei der Protest­welle, die das Land ab Mitte Oktober 2019 erlebte (Das Lamm berich­tete). Damals tauchte das Poli­zei­kom­mando, welches im November 2018 den Mapuche Catril­lanca umbrachte, unter anderem Namen, aber mit den glei­chen Autos im Zentrum von Sant­iago auf.

Curin beendet sein Tele­fonat mit einer Ansage: Eine neue Offen­sive der Proteste muss her. Unter­dessen setzen sich rechte Unter­neh­mer­ver­bände mit der Regie­rung zusammen. Sie fordern mehr Polizei, mehr Repres­sion und mehr Sicher­heit für ihr Eigentum.  Die Situa­tion ist ein Inter­es­sen­kon­flikt – ohne Aussicht auf Besserung.


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