Das Lamm: Die momentane Lockdown-Situation trifft Selbstständige und Menschen aus der Kreativbranche besonders hart. Welche Auswirkungen hat die COVID-19 Krise auf die Tattoo-Branche?
Janik Jehle: Alle Läden sind dicht, alle Kundentermine wurden abgesagt. Das macht natürlich Sinn: Wir sind selten kürzer als zwei bis vier Stunden an einem Kunden dran und wegen der Art der Arbeit ist die Ansteckungsgefahr nicht vernachlässigbar. Die wirtschaftliche Situation ist dennoch ungünstig, denn unsere Einnahmen sind stark saisonabhängig. Der Erwerbsausfallersatz, der uns zusteht, richtet sich nach dem Durchschnitt der Einnahmen von 2019, doch gerade die Frühjahrsmonate generieren für uns TätowiererInnen überdurchschnittlich viel Umsatz, welcher uns als Polster für das restliche Jahr dient. Wenn die Massnahmen verlängert werden, dürfen wir frühestens im Hochsommer wieder arbeiten – und wir rechnen nicht damit, dass sich die Menschen dann nach langem Zuhausesitzen als erstes werden tätowieren lassen.
Denkst du, es wird zu Studioschliessungen kommen, wenn der Lockdown länger anhalten wird?
Das ist zum jetzigen Zeitpunkt noch schwierig abzuschätzen. Einerseits sind viele Vermieter gerade sehr solidarisch. Zumindest höre ich das in meinem Umfeld. Wie stark die Branche als Ganzes leiden wird, hängt wohl stark von der Dauer der Massnahmen ab. Klar ist aber, dass die kleinen Studios sicher mehr leiden werden als die grossen Tattoo-Studio-Ketten, was die Szene homogener machen kann. Das ist bei uns ähnlich wie in anderen Branchen, wo es viele kleine Anbieter und einige Quasi-Monopolisten gibt.
Und wie sieht deine Situation aus?
Ich mache mir schon Sorgen. Finanzielle Hilfe vom Kanton ist erst auf Ende April zu erwarten. Aber in der Branche sind wir uns eh einig: Wir wollen uns auch selber helfen. Unser Berufstand ist nicht unbedingt dafür bekannt, gut zu sein im Umgang mit Bürokratie und Papierkram. Aber als Community haben wir den Willen, Neues zu erschaffen und uns selbst zu helfen.
Du sprichst das Isolation Art Project an. Wie kam es dazu?
Das Projekt ist aus einer WhatsApp-Gruppe von 60 oder 70 TätowiererInnen entstanden, mittlerweile sind es rund 100 Personen, in welcher zuerst nur Merkblätter, Links und Formulare betreffend der momentanen Lage ausgetauscht wurden. R.J Tattoo aus Bern hatte dann die Idee, dass alle zusammen etwas auf die Beine stellen könnten. Daraus entstand dann das Isolation Art Project: ein vorerst virtuelles Gemeinschaftsprojekt, das alle Seiten unseres Kunsthandwerks beleuchten soll. Als Plattform dient uns Instagram. TätowiererInnen aus der ganzen Schweiz können dort Kunstwerke, Prints oder Ähnliches, was sie in dieser Zeit erstellen, hochladen und uns darauf taggen. Wir versuchen dann, diese Werke zu promoten und aufzuzeigen, wie divers und kreativ die Community und ihre Mitglieder ist. Wenn KünstlerInnen einzelne Werke zudem verkaufen wollen, helfen wir ihnen als eine Art Schaufenster bei der Vermarktung.
Die meisten Werke stammen von einzelnen TätowiererInnen, es gibt aber auch Gemeinschaftsprojekte, an denen gerade mehrere Personen mitwirken, wie die WC-Papierrolle vom Berner Tätowierer David Ryf etwa: Diese wird rumgeschickt und kooperativ bearbeitet.
Das Ziel des Isolation Art Project ist es einerseits, ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen und uns gegenseitig dazu zu motivieren, weiterhin kreativ zu sein. Andererseits möchten wir zu einem späteren Zeitpunkt die Arbeiten sammeln und als Buch herausgeben sowie eine Ausstellung der Werke organisieren.
Erwartest du, dass mit Hilfe des Projekts ein Teil der finanziellen Ausfälle aufgefangen werden kann?
Der Erlös soll an stark betroffene Personen innerhalb der Community zurückfliessen. Die Produktion des Buches möchten wir dagegen durch Spenden decken – alles gespendete Geld, welches die Produktionskosten übersteigt, möchten wir spenden. Damit möchten wir auch andere Menschengruppen unterstützen, die sich in dieser Lage weniger gut selbst helfen können als wir.
Du redest davon, durch dieses Projekt auch das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Wie eng ist die Tattoo-Community in der Schweiz miteinander vernetzt?
Vor der Krise gab es schon regen Kontakt zwischen verschiedenen Studios, aber es gab nicht wirklich dieses Zusammenhaltsgefühl, das jetzt am entstehen ist. Ich glaube, es ist in den letzten Wochen vielen bewusst geworden, dass wir unsere Kreativität nutzen können, um die Auswirkungen dieser Notlage für uns etwas abzumildern, was ein Vorteil gegenüber anderen Branchen ist – sofern wir zusammenarbeiten und uns gegenseitig unterstützen. Ich hätte nicht erwartet, dass innerhalb weniger Tage fast die ganze Tattoo-Szene der Schweiz in diesem Ausmass zusammenrückt. Durch das Isolation Art Project haben sich auch neue Chats gebildet, etwa einer für Menschen aus der Risikogruppe innerhalb der Branche, indem man sich gegenseitig berät und unterstützt. Dass sich dieser bunte Haufen so organisieren konnte, beeindruckt mich.
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