Wer an billigen Wohnraum für Sozialhilfebezüger*innen und Asylsuchende denkt, stellt sich nicht die Gemeinschaftswohnung vor, durch die Markus gerade führt. Schimmel sucht man vergebens, die möblierten Zimmer sind zwar spartanisch eingerichtet, verfügen aber alle über einen Internetzugang und einen kleinen LCD-Fernseher. Dass hier jemand lebt, spürt man jedoch kaum. Zwei Äpfel in einer Schale, eine Kaffeemaschine, wenig Geschirr: Das sind die einzigen sichtbaren Lebenszeichen. Lebenszeichen, mit denen die Bewohner*innen gegen die Vorschriften ihres Vermieters verstossen.
Wir sitzen mit Markus, Linda und Roger, die in Wahrheit anders heissen, auf einer Terrasse im Grossraum Zürich. Sie alle beziehen wie die meisten ihrer Mitbewohner*innen Sozialhilfe. Linda, Roger und Markus haben zudem alle mit psychischen Erkrankungen und Suchtproblemen zu kämpfen — Roger und Markus lernten sich sogar in der Psychiatrischen Universitätsklinik kennen — und sie alle haben eine verzweifelte, langatmige Wohnungssuche hinter sich. Zum Beispiel Markus: Bevor er hier einzog, schlitterte er von einem befristeten Wohnverhältnis ins nächste. Bevor er in einer dieser Situationen kurz davor war, auf der Strasse zu stehen, fand er über die Website apartment24.ch endlich eine Unterkunft mit unbefristetem Mietvertrag: sein aktuelles Zimmer.
Doch die anfängliche Freude über das neue Zuhause ist längst verflogen. Geblieben sind Resignation und Wut. Markus, Linda und Roger wollen aus Angst vor Repression anonym bleiben, aber sie sind sich einig: Die GSSA AG, das Unternehmen hinter apartment24.ch, nutzt den knappen Wohnungsmarkt und die durch die Sozialhilfe gewährte Mietzinslimite aus. Ihre Machtposition setzt sie mit strikten Regeln durch — zum Unwillen und Unverständnis der Bewohner*innen.
Eine Hausordnung für jeden Lebensbereich
„Erst war ich einfach nur froh, ein Zimmer zu haben. Sobald ich aber die ersten Schreiben des Vermieters erhielt, habe ich gemerkt, dass hier ein etwas anderer Umgangston herrscht.“ Markus erzählt, dass fast alle zwei Wochen Briefe in der Wohnung landeten — manchmal per Post, manchmal lagen sie einfach in der Wohnung oder sie wurden ihnen von Leuten übergeben, die sie nicht kannten. Es ging um Kleinigkeiten im Haushalt, Verstösse gegen die sehr strikte Hausordnung, und immer öfters hatten diese Briefe einen drohenden Ton. Er enthielt Handyfotos der Ablagefläche, auf denen die Kaffeemaschine rot durchgestrichen war, und die Warnung, diese werde beim nächsten Mal entfernt, wenn sie dort stehen bleibe. Ohne Kompensation. Wo die Kaffeemaschine stehen soll, ist aus der Küchenordnung nicht ersichtlich.
Auch weitere Dokumente, die dem Lamm vorliegen, zeigen auf, wie die GSSA AG versucht, das tägliche Leben der Mieter*innen zu kontrollieren. In Küche, Bad und Schränken schreiben Zimmernummern vor, wo welche Bewohner*innen ihre Sachen lagern sollen. Die Badezimmerordnung etwa hält akribisch und anhand von Bildern fest, wo genau im Badezimmer Duschutensilien abgestellt werden dürfen und wo nicht. Die Küchenordnung besagt, dass die Küche nur zwischen 6 und 22 Uhr benutzt werden darf; mit der Anmerkung, dass bei wiederholtem Verstoss der Strom in der Küche über Nacht abgeschaltet wird. „Schmutziges, herumstehendes Geschirr wird ohne Kostenrückerstattung durch die GSSA AG entsorgt”, steht weiter. Einmal wurde den Bewohner*innen laut eigenen Aussagen nach einem Verstoss gegen die Hausordnung durch eine Mitbewohner*in mit einer kollektiven Geldstrafe gedroht. Auf Nachfrage konnten Linda, Roger und Markus aber kein Dokument als Beleg für diesen Vorwurf vorlegen. Die GSSA AG hat auf diesen — wie auf alle weiteren Vorwürfe in diesem Artikel — nicht geantwortet (siehe am Ende des Artikels).
Für diese Regeln und den Umgangston haben die drei Bewohner*innen wenig Verständnis: „Wir fühlen uns vor den Kopf gestossen, weil das Zusammenleben zwischen uns funktioniert”, meint Markus. Linda nickt energisch und fügt an: „Als könnten wir nicht miteinander reden.” Aber statt den Bewohner*innen zu überlassen, wie sie ihr Zusammenleben regeln wollen, greift die GSSA AG in ihr Alltagsleben ein und verletzt ihre Privatsphäre. „Sie kommen ständig unangekündigt in die Wohnung”, meint Roger und erzählt, wie auch am Tag unseres Besuches ein Handwerker wiederholt unangekündigt vor der Türe stand, oder dass wegen Reparaturarbeiten ohne Wissen eines ehemaligen Mitbewohners und in dessen Abwesenheit sein privates Zimmer betreten wurde.
„Die massive Einschränkung der persönlichen Freiheiten sind das Stossendste an diesen Verträgen”, sagt Walter Angst vom Mieterinnen- und Mieterverband Zürich, dem das Lamm Auszüge aus einem Mietvertrag sowie aus Haus‑, Badezimmer- und Küchenordnung vorgelegt hat. „Wer bei mir übernachtet oder welche Gäste ich bei mir zu Hause empfange, ist nicht Sache des Vermieters.” Angst spricht damit die Einschränkungen des Besuchsrechts an. Laut Hausregeln dürfen eine Freundin oder ein Freund maximal eine Nacht pro Woche bei den Mieter*innen der GSSA AG übernachten. Die Firma behält sich laut Regeln aber auch vor, den Besuch von jeglichen Gästen zu verbieten. Ohne Angabe von Gründen. Da es sich um möblierte Zimmer mit Gemeinschaftsräumen handelt, sind laut Angst weitergehende Einschränkungen als in einer Mietwohnung zwar möglich. „Trotzdem: Diese Vorschriften gehen sehr weit“, bestätigt er die persönlichen Empfindungen der Betroffenen.
Sozialdienste im Dilemma
Kann man gegen solche Mietbedingungen nicht vorgehen? „Den Mietenden stehen die Möglichkeiten des Mietrechtes offen”, schreibt der Sozialdienst der Stadt Zürich auf Anfrage. Selber eingreifen kann die Stadt aber nicht: „Die Stadt ist nicht Mietpartei, sondern die Sozialhilfebezüger*innen.” Der Sozialdienst der Stadt Zürich unterstützt Sozialhilfebezüger*innen aber bei einem mietrechtlichen Verfahren sogar. Walter Angst relativiert: „Bei möblierten Zimmern gelten sehr kurze Kündigungsfristen von zwei Wochen. Anfechtungen sind deshalb selten.”
Schliesslich ist es auch der Sozialdienst, welcher im Fall von Sozialhilfebezüger*innen für die Mietzahlungen an die GSSA AG aufkommt. Denn in der Sozialhilfe werden Wohn- wie auch Gesundheitskosten nicht über die Bezüger*innen abgerechnet. Da gerade Wohnungskosten regional stark variieren, errechnen die Sozialdienste der Gemeinden und Städte jeweils die passende Mietzinslimite. Die Idee dahinter: Sozialhilfebezüger*innen sollen selbstbestimmt wählen können, wo sie leben wollen; die Sozialhilfe kommt aber nur für den entsprechenden Mietbetrag auf — sofern er die errechnete Limite nicht sprengt.
Bei zwei Sozialdiensten, die das Lamm im Rahmen dieser Recherche angefragt hat, ist die GSSA AG bekannt. „Apartment24 und ähnliche Anbieter werden von den Sozialen Diensten weder empfohlen noch vermittelt”, heisst es aus Winterthur. Auch die Stadt Aarau bewirbt das Angebot nicht: „Im Gegenteil. Wo immer möglich, raten die Sozialen Dienste ihren Klientinnen und Klienten davon ab, solche Angebote zu nutzen.” Die Stadt Zürich antwortet auf die konkrete Fragen zur GSSA AG nicht, hält aber in einer allgemein gehaltenen Antwort fest: „[Die Stadt Zürich möchte], dass unsere Klientinnen und Klienten in baulich und hygienisch korrekten Unterkünften wohnen können und das Verhältnis zwischen Wohnangebot und Mietzins angemessen ist.”
Sozialhilfebezüger*innen haben oft trotzdem keine andere Wahl, als sich auf die Angebote der Firma einzulassen. Für viele ist die GSSA AG die einzige Möglichkeit, etwas zum Wohnen zu finden. Sie finden schlicht nichts anderes. Denn die allermeisten Vermieter*innen verlangen bei einer Bewerbung einen Arbeitsvertrag, Referenzen und einen Betreibungsregisterauszug. Wer diese Anforderungen nicht erfüllt, hat für gewöhnlich schlechte Karten.
Nicht so bei der GSSA AG. „Die Firma verlangte keine Betreibungsauszüge”, erklärt Markus. Das möblierte Zimmer versprach endlich eine Bleibe. Endlich ein bisschen Ruhe. Dafür war Markus auch bereit, für sein möbliertes Zimmer 1’000 Franken zu zahlen — ohne eigene Küche, Wohn- oder Badezimmer. Der Betrag liegt über der Mietzinslimite für ein möbliertes Zimmer, die Sozialhilfebezüger*innen in seiner Gemeinde zusteht. Die Differenz muss Markus mit seinem Grundbedarf begleichen. „So habe ich dann halt einfach weniger zu Verfügung für Essen, Transport, Handyrechnung, Kleider und Freizeit”, erklärt er.
„Solche Anbieter kennen meist die Mietzinslimiten der jeweiligen Gemeinden — und vermieten dann einzelne möblierte Zimmer zu genau diesem Preis oder sogar ein wenig teurer”, beschreibt Eveline Althaus, Forscherin am ETH-Wohnforum, die zu Wohnzugang für benachteiligte Gruppen forscht, solche Geschäftsmodelle. Das weiss auch die Stadt Winterthur: „Die Sozialen Dienste können bestätigen, dass sich die die Mietpreise der Zimmer auf apartment24.ch an den kommunalen Mietzinsrichtlinien für die Sozialhilfe orientieren.“
Kündigung auf Bewährung
Markus fühlt sich in der Gemeinschaftswohnung nicht daheim. Ein Zuhause ist schliesslich viel mehr als ein Dach über dem Kopf. Ein Ort, an dem man sich wohl und geborgen fühlen kann. Ein Ort, der Ruhe und Sicherheit verspricht. Die Vorschriften und der Umgangston der GSSA AG verunmöglichen es Markus aber, diesen Ort zu finden. „Diese Art des Wohnens erinnert mich an die Psychiatrische Universitätsklinik”, meint er. Die fehlende Ruhe und Sicherheit wird auch dadurch verstärkt, dass die Mieter*innen ohne vorhergehende Mahnung ein Kündigungsschreiben erhalten, wenn die Miete ein paar Tage überfällig ist – jedoch inklusive Mahngebühr. Die Kündigung werde zurückgezogen, wenn der offene Saldo innerhalb von 10 Tagen bezahlt wird, heisst es im Schreiben. Eine Kündigung auf Bewährung, sozusagen.
Für die GSSA AG hingegen scheint sich das Geschäftsmodell zu lohnen. Seit der Gründung im Jahr 2010 hat sie sich mit ihrem Konzept Apartment24 zur Schweizer Marktführerin für möblierte Zimmervermietungen gemausert. Insgesamt listet sie auf ihrer Webseite zahlreiche Liegenschaften in 28 Gemeinden auf, verteilt auf 7 Kantone. „Mieten kann jeder, auch ohne Arbeitsvertrag oder Referenzen“ – so beschreibt die GSSA AG ihr Geschäftsmodell. Mit dem Slogan „Steigen Sie ein in ein äusserst lukratives System!“
Das Lamm hat die GSSA AG mit den konkreten Vorwürfen konfrontiert und weitere Fragen zum Geschäftsmodell gestellt. Ein ausführlicher Fragenkatalog wurde der Firma am 17.06.2019 zugestellt. Auf eine weitere Nachfrage erhielt die Redaktion einen Anruf mit dem Angebot, am 03.07.2019 an einer Liegenschaftsbegehung teilzunehmen. Da das Lamm bereits eine Liegenschaft besucht hat und sich die erhobenen Vorwürfe auf Dokumente stützen, die dem Lamm vorliegen, verzichtete die Redaktion auf das Angebot. In der Zwischenzeit hat die GSSA AG eine Änderung an der Webseite vorgenommen, die in einem direkten Zusammenhang mit den Vorwürfen von das Lamm stehen.
Bis vor kurzem strahlten vermeintliche, ehemalige Mieter*innen auf der Startseite. Neben dem Bild einer jungen Frau stand: „Es war nicht einfach, kurzfristig eine Wohnung zu finden. Bei apartment24 habe ich sehr schnell eine gute Lösung gefunden. Vielen herzlichen Dank!” Eine umgekehrte Bildersuche zeigt jedoch, dass die beiden „ehemaligen Mieter*innen” in Realität Stockfoto-Models sind. Laut den Grundsätzen der Schweizer Lauterkeitskommission handelt es sich bei Testimonials von fiktiven Personen womöglich um unlautere Werbung. Die GSSA AG entfernte die Bilder von der Startseite, liess aber die Testimonials stehen. Auf anderen Landingpages sind die Testimonials von weiteren Stockfoto-Models weiterhin zu finden.
Das Lamm reichte nach der Anpassung der Webseite am 24.06.2019 weitere Fragen nach. Eine Beantwortung innerhalb der Frist (bis 28.06.2019) wurde abgelehnt, aber eine mögliche Beantwortung bis 02.07.2019 in Aussicht gestellt. Aber auch diese blieb bis zum 03.07.2019 aus.
Unseren Kommentar zur Recherche finden Sie hier.
Anmerkung 10. Juli 2019: In einer ersten Version dieses Artikels wurde Walter Angst zitiert mit: „Bei diesem Anbieter gelten sehr kurze Kündigungsfristen von zwei Wochen.“ Walter Angst bezog sich laut eigenen Angaben mit dieser Aussage nicht nur auf die GSSA AG, sondern auf alle Anbieter von möblierten Zimmern, weshalb wir das Zitat auf seinen Wunsch hin korrigiert haben zu: „Bei möblierten Zimmern gelten sehr kurze Kündigungsfristen von zwei Wochen.“
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