Diese Schweiz verträgt keine grossen Veränderungen

Der „gutschwei­ze­ri­sche Kompro­miss“ gilt als heiliger Gral in Bundes­bern. Man sieht sich gern als vernünf­tiges und prag­ma­ti­sches Parla­ment. Ein wohl­tu­ender, aber verhee­render Trug­schluss, der einer Kapi­tu­la­tion vor dem Status quo gleich­kommt. Ein Kommentar. 
Die Schweiz; Land der Kompromisse? Kuppel im Bundeshaus in Bern. (Foto: Martin Abegglen)

Der Wahl­kampf ist bald vorbei – und mit ihm die Zeit der grin­senden Allwet­ter­pla­kate, der lauwarmen Polit­skan­dale und der gene­rösen Porträts in Über­länge. Der Wahl­zirkus in der Schweiz hat seinen Zenit bereits über­schritten. Die Wahl­ma­schi­nerie wird hier­zu­lande selten bis zum Abstim­mungs­sonntag betrieben. Längst disku­tiert man darüber, was man von der anste­henden Legis­latur erwarten kann. 

Das ist typisch schwei­ze­risch; genauso typisch, wie die Artikel und Politiker*innen, die die Wähler*innen jetzt daran erin­nern, dass selbst das Frauen*- und Klima­wahl­jahr nicht gross etwas ändern wird. Klar, die grünen Parteien werden zulegen – die Grünen könnten gar die CVP über­flü­geln. Und ja, das Parla­ment wird nomi­nell linker und weib­li­cher, wobei auch das wenig am soliden bürger­li­chen Männer­block ändern wird.

Das kann man in dem Jahr, in dem gerade junge Frauen* die Klima- und Frauen*bewegung wieder­be­lebt haben und sie mit unge­ahntem Erfolg anführen, ernüch­ternd finden. Oder man kann ein Loblied auf die prag­ma­ti­sche Kompro­miss­kultur der Schweiz singen. „Das Bemer­kens­wer­teste an eidge­nös­si­schen Wahlen ist, wie wenig sie unter dem Strich verän­dern”, schrieb etwa Tages-Anzeiger-Chef­re­dak­teurin Judith Wittwer in einem Leit­ar­tikel vergan­genen Samstag. Unser poli­ti­sches System sei zwar lang­weilig, aber gut. „Es lässt kein Durch­mar­schieren zu.” Der abtre­tende Stän­derat Konrad Graber (CVP) warnte unlängst vor einer zuneh­menden Pola­ri­sie­rung und warb für noch mehr Mitein­ander: „Die Polpar­teien werden für ihre Extrem­po­si­tionen belohnt.” 

In der Schweiz gibt es halt keine grossen Verän­de­rungen, sondern kleine, hart erkämpfte Kompro­misse. So sieht die Schweizer Politik sich gerne. Doch die letzten Wochen und Monate haben wieder einmal deut­lich gezeigt, dass die vermeint­lich unauf­ge­regte und gemäs­sigte Konsens­po­litik nur ein Trug­bild ist. Denn die Schweiz ist nicht prag­ma­tisch – voraus­ei­lender Gehorsam vor dem rechts­bür­ger­li­chen Status quo führt viel eher dazu, dass sie im euro­päi­schen Vergleich oft Extrem­po­si­tionen einnimmt.

Wie viele Kompro­misse verträgt ein Kompromiss?

Ein Beispiel gefällig? Als die Initia­tive für einen Vater­schafts­ur­laub im Mai 2016 lanciert wurde, war der Tenor der Initiant*innen klar: Das Volks­be­gehren sei bereits ein „gutschwei­ze­ri­scher, vernünf­tiger Kompro­miss“. Mit vier Wochen wäre die Schweiz immer noch fernab vom OECD-Durch­schnitt. Aber immerhin, ein erster Schritt.

Doch dann beschloss das Parla­ment einen bezahlten, zwei­wö­chigen Vater­schafts­ur­laub als indi­rekten Gegen­vor­schlag. Ein Witz, oder wie viele Kompro­misse verträgt ein gutschwei­ze­ri­scher Kompro­miss, bis er zur Maku­latur wird? Scheinbar viel, denn die Initiant*innen zogen das äusserst beliebte Begehren zurück – und klopften sich für den „real­po­li­ti­schen Erfolg“ auf die Schulter. Dass sich die Schweiz so weiterhin am Tabel­len­ende in der Fami­li­en­freund­lich­keit in Europa befindet, wird zur Nebensache. 

Ähnlich unrühm­lich wird mit der Konzern­ver­ant­wor­tungs­in­itia­tive (KOVI) umge­gangen. Das Anliegen ist selbst bereits ein Kompro­miss, inter­na­tional fährt die Schweiz mit ihrem Arten­schutz für Konzerne, die syste­ma­tisch Menschen­rechte verletzen, seit Jahren ein Allein­gang. Die Konzern­ver­ant­wor­tungs­in­itia­tive will das ändern, ist aber selber eigent­lich bereits ein voraus­ei­lender Kompro­miss: Für die Unter­nehmen stünde mit deren Annahme weniger die Pflicht zum Schutz der Menschen­rechte und der Umwelt im Mittel­punkt, sondern die Pflicht zur Sorgfaltsprüfung. 

Ein Kompro­miss, der sich auszahlt – vermeint­lich. Die KOVI erhält zwar in allen Umfragen konse­quent hohe Zustim­mung. Trotzdem arbei­tete der Natio­nalrat einen Gegen­vor­schlag aus, der laut einigen Expert*innen gar ein Rück­schritt zu heute geltendem Recht sei. Als wäre das nicht bereits genug, vertagte der Stän­derat dank eines Ordnungs­an­trags von Ruedi Noser (FDP) die Behand­lung des Gegen­vor­schlags auf nach den Wahlen. Noch ist unklar, ob der Stän­derat den Gegen­vor­schlag weiter verwässert.

Und selbst mit der STAF, der scheinbar grossen Errun­gen­schaft der linken Mitte in der vergan­genen Legis­latur, verhält es sich ähnlich. In der AHV-Debatte hat man das bürger­liche Schreck­ge­spenst einer ominösen Finan­zie­rungs­lücke geschluckt, beim Steu­er­teil – mit wenigen Ausnahmen – die Rahmen­be­din­gungen für den inter­na­tio­nalen Steu­er­wett­be­werb erneuert. Dass einige SP-Exponent*innen weiterhin behaupten, so würde der inter­na­tio­nale Steu­er­wett­be­werb einge­dämmt, kann wohl­wol­lend als prag­ma­ti­sche Recht­fer­ti­gung für einen wenig schmei­chel­haften Kompro­miss gedeutet werden. Oder weniger gnädig als Resi­gna­tion und Akzep­tanz einer ruinösen Steu­er­po­litik, die den inter­na­tio­nalen Wett­be­werb weiter anheizt.

Gefähr­lich für den Wirt­schafts­standort” und zu extrem“?

Egal ob Gleich­stel­lung, inter­na­tio­nale Gerech­tig­keit oder Steu­er­po­litik: Das poli­ti­sche System der Schweiz, mit seiner Behä­big­keit und seinem Bedacht auf Kompro­misse, garan­tiert keine prag­ma­ti­schen Lösungen. Im Gegen­teil: Die voraus­ei­lende Kompro­miss­be­reit­schaft und die bürger­liche Angst­ma­cherei vor zu grossen Verän­de­rungen führen para­do­xer­weise dazu, dass die Schweiz oft in Extrem­po­si­tionen stecken bleibt.

Natür­lich hat das Schweizer System mit seiner Verläss­lich­keit und Stabi­lität auch viele Vorteile. Stän­dige Regie­rungs­wechsel und grosse Verschie­bungen in den Parla­menten können zu Chaos führen; oft werden die Erfolge der vorher­ge­henden Regie­rung sofort wieder rück­gängig gemacht. Das droht der Schweiz nicht. Vernehm­las­sungen und Refe­ren­dums­fri­sten, Initia­tiven und Mitwir­kungs­ver­fahren auf Bundes‑, Kantons- und Gemein­de­ebene sorgen zudem dafür, dass sich möglichst verschie­dene Interessensvertreter*innen zu fast allen poli­ti­schen Themen äussern können. Und auch wenn beein­träch­tigte Menschen, Sexarbeiter*innen und Migrant*innen weit weniger starke Lobbys an ihrer Seite wissen als Konzerne, Bäuer*innen, Militär- und Poli­zei­in­ter­essen: Kaum irgendwo sonst kann ein derart grosser Anteil der Bevöl­ke­rung am Gesetz­ge­bungs­pro­zess teilnehmen.

Wenn aber Volks­in­itia­tiven bereits als Kompro­misse ausge­staltet werden, nur damit sie in einer mona­te­langen medialen und poli­ti­schen Diskus­sion dann trotzdem als „zu extrem” und „gefähr­lich für den Wirt­schafts­standort” abge­stem­pelt werden, ist das bedenk­lich, aber die logi­sche Konse­quenz daraus, dass beinahe alle Volks­in­itia­tiven in der Vergan­gen­heit abge­lehnt wurden. Dass diese Kompro­misse dann aber im Parla­ment weiter verwäs­sert werden und manchmal gar nicht mehr zur Abstim­mung kommen, ist ein Skandal. 

Eigent­lich ist es also an der Zeit, dass die Schweiz sich von einigen Kompro­missen verab­schiedet. In einem Land, in dem die poli­ti­sche Mitte des Parla­ments so weit rechts liegt, dass schon eine Sorg­falts­pflicht für Gross­kon­zerne mit Blut an den Händen als linker Erfolg gewertet wird, sind Kompro­misse nicht mehr „prag­ma­tisch”. Sondern oftmals vor allem ein Einknicken vor stramm bürger­li­cher Politik. 

Im euro­päi­schen Vergleich sind „gutschwei­ze­ri­sche“ Kompro­misse meist weder prag­ma­tisch noch vernünftig, sondern extrem rück­ständig. Doch statt­dessen freut man sich kurz vor dem 20. Oktober lieber darüber, dass auch diese Wahlen wieder nichts verän­dern werden – und igno­riert, wie weit rechts der poli­ti­sche Diskurs hier­zu­lande statt­findet. Schliess­lich verträgt diese Schweiz keine grossen Verän­de­rungen. Das hat auch der Demos verin­ner­licht und sorgt so – wohl oder übel – für die selbst­er­fül­lende Prophezeiung.

Trans­pa­renz: Der Autor sitzt für eine regio­nale Jung­partei im Gemein­de­par­la­ment von Olten in einer Frak­tion mit der SP. Er ist aber weder Mitglied der SP Schweiz noch der SP Olten. 


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