Ehrlich dauert am längsten

In seiner Streit­schrift Politik der Geschwin­dig­keit, erschienen 2020 im Mandel­baum Verlag, zeigt Jonas Frick, wie das Recht der Schnel­leren zum wich­tig­sten Macht­faktor im globalen Kapi­ta­lismus werden konnte. 
Symbolbild (Foto: Johan Desaeyere / Unsplash)

Es gibt Bücher, die schon im Titel so offen­sicht­lich die gerade ange­sagten Begriffe zitieren, dass man dem Inhalt von vorn­herein nicht trauen mag: Die Zukunft nach Corona, Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise, In Zeiten der Ansteckung, Das Virus in uns usw. Eine kurze Online-Recherche fördert Tausende solcher Werk­titel zutage.

Daneben aber existieren auch solche Bücher, die mit ihrem Titel an allem vorbei zu zielen scheinen, was die Welt gerade ausmacht. Politik der Geschwin­dig­keit von Jonas Frick ist so ein Beispiel. Frisch im Jahr 2020 erschienen – dem Jahr von Pandemie, Lock­down, Quaran­täne und Still­stand –, trägt es den agita­to­ri­schen Unter­titel: Gegen die Herr­schaft des Schnel­leren.

Das hat auf den ersten Blick eine gewisse Komik – steht doch momentan eh alles still –, ist aber minde­stens mutig, wenn nicht genial. Und es weckt Inter­esse. Ein Inter­esse, das, wie schon mal fest­ge­halten werden kann, die 230 Seiten von Politik der Geschwin­dig­keit trägt.

Unis­e­minar oder Streitschrift?

Und das, obwohl sich Jonas Frick erst mal wenig Mühe gibt, die Leser*in mitzu­nehmen. Sein Buch ist in weiten Teilen eine poli­tik­wis­sen­schaft­liche Abhand­lung mit allen zuge­hö­rigen akade­mi­schen Orna­menten: endlos aufge­fä­cherte Inhalts­ver­zeich­nisse, die nicht zur Über­sicht­lich­keit beitragen; semi­nar­ar­tiger Aufbau mit ausführ­li­cher Einlei­tung, einem Haupt­teil mit langem Ausflug in die Geschichte und einem Schluss, der einordnet und nach vorne schaut. Dazu noch die passend abge­ho­bene Sprache – und wir fühlen uns aufge­for­dert zu inter­pre­tieren und zu dechiffrieren.

Wer sich darauf aber einlässt, wird unter dem univer­si­tären Duktus mit einer sympa­thisch aufrüh­re­ri­schen Streit­schrift belohnt. Eine kleine Kampf­an­sage an die Herr­schaft mittels Geschwin­dig­keit, oder, wie Frick es nennt: die Dromo­kratie. Und natür­lich passt ein solches Buch in keine Zeit besser als in die Corona-Gegen­wart, in der gerade durch das Ausbremsen, durch das gele­gent­liche Fehlen der Geschwin­dig­keit deren eigent­liche Macht spürbar wird.

Macht auch optisch was her: Politik der Geschwin­dig­keit von Jonas Frick. (Foto: Anna Moser)

In Fricks Analyse ist Dromo­kratie das späte­stens seit den Neun­zi­ger­jahren herr­schende Welt­sy­stem. Also ein globaler Kapi­ta­lismus, der über die Zusam­men­ar­beit von Staaten, Konzernen und Zivil­ge­sell­schaft so ziem­lich jeden Lebens­be­reich bestimmt. Was diese Dromo­kratie von anderen Systemen unter­scheidet, ist das zugrunde liegende Herr­schafts­prinzip: Wer schneller ist, hat die Macht. „Wir erleben eine aufkom­mende Hege­monie der Geschwin­dig­keit“, schreibt Frick, „in der das Rennen um das Höchst­tempo zur Grund­lage einer staat­li­chen, wirt­schaft­li­chen wie persön­li­chen Hand­lungs­ma­xime wird.“

Die These ist verlockend einfach. Alles, was wir heute tun, ist darauf ausge­legt, die anderen an Geschwin­dig­keit zu über­bieten. Und wer am schnell­sten ist, hat gewonnen. Akteur*innen sind dabei Konzerne wie Amazon, wo die Kund*innen schneller als irgendwo sonst an die Ware kommen, Elon Musk mit seinem Hyper­loop Projekt oder – um einen sehr dromo­kra­tisch auftre­tenden Staat zu nennen – China.

Die „Neue Seiden­strasse“ ist in Fricks Augen ein Para­de­bei­spiel für die Funk­ti­ons­weise der Herr­schaft des Schnel­leren. Für China besteht der Macht­faktor nicht mehr zuerst in billi­gerer Produk­tion, höherer Qualität oder mili­tä­ri­scher Gewalt, sondern in einem welt­weiten System von Vertriebs­wegen, das Waren, Menschen und Infor­ma­tionen schneller zusam­men­bringt, als die Konkur­renz es schafft.

Größen­wahn mit Erkenntnisgewinn

Wenn sie dieses grosse Ganze in den Blick nimmt, kommt die frick­sche Analyse zum Teil etwas grös­sen­wahn­sinnig daher. Sie versucht, die gesamte Welt auf das Prinzip der Geschwin­dig­keit zu redu­zieren, findet Beispiele im Nahost­kon­flikt genauso wie im um sich grei­fenden E‑Scooter-Verleih. An solchen Stellen verliert sich das Buch dann auch sehr in der akade­mi­schen Selbst­ge­nüg­sam­keit. Oder anders gesagt: Es bleibt seiner Klasse treu und quas­selt dem Bildungs­bür­gertum nach dem Maul.

Und trotzdem wirft Politik der Geschwin­dig­keit ein erhel­lendes Licht auf aktu­elle Politik: Viel­leicht beissen sich die USA am konkur­rie­renden Hege­monen China gerade so sehr die Zähne aus, weil sie trotz aller Über­le­gen­heit mit veral­teten Waffen kämpfen. In einer Welt des Schnel­leren verliert natür­lich, wer wie ein Dino­sau­rier aus dem vergan­genen Jahr­tau­send Zoll­schranken hoch­zieht und sich selbst ausbremst.

Wirk­lich span­nend aber wird Politik der Geschwin­dig­keit, wenn es von der über­trieben grossen Welt­theorie in die Details wech­selt. Dann zeigt sich erstaun­lich plau­sibel, wie das Dromo­kratie-Prinzip ins Leben der Menschen hinein­re­giert – mit teils fatalen Konsequenzen.

Zwei Beispiele bringen es auf den Punkt – und deuten Möglich­keiten zum Wider­stand an. Inter­es­sant sind sie auch, weil in ihnen das gleiche Prinzip von unter­schied­li­chen poli­ti­schen Akteur*innen gutge­heissen bzw. verur­teilt wird: das Migra­ti­ons­re­gime in der Schweiz und der Droh­nen­krieg der USA seit der Obama-Ära.

In beiden Fällen ist das erklärte Ziel, die Abwick­lungs­ge­schwin­dig­keit soweit wie irgend möglich zu erhöhen, um – wie man mit Frick sagen könnte – den Menschen zu erle­digen. Bei der Migra­tion geht es um die Beschleu­ni­gung der Asyl­ver­fahren, die gerne unter dem huma­ni­tären Aspekt schneller und eindeu­tiger Urteile verkauft wird. Im Droh­nen­krieg soll die Reak­ti­ons­zeit zwischen erkanntem „Problem“ im Krisen­ge­biet und Ausschalten der Gegner*innen immer weiter verkürzt werden. Auch hier wird mit Mensch­lich­keit argu­men­tiert, gehe es doch darum, aufkom­mende Kämpfe im Keim zu ersticken und zivile Opfer zu verhin­dern. Die Geschwin­dig­keit regiert, im Krieg wie in der Juristerei.

Was in beiden Fällen aber auf der Strecke bleibt – und das kann für das gesamte dromo­kra­ti­sche System gelten – ist das Recht des einzelnen Menschen. Es wird ihm oder ihr genommen, weil die immer höhere Beschleu­ni­gung der Verfahren keine Zeit mehr lässt für eine adäquate Vertei­di­gung: „In der Welt der Höchst­ge­schwin­dig­keit sind keine Rekurs­me­cha­nismen vorgesehen.“

Keine Zeit für Menschenrechte

Mit Fricks Theorie kann man von einem Migra­ti­ons­sy­stem ausgehen, das prin­zi­piell faire Asyl­ver­fahren ohne struk­tu­rellen Rassismus und ohne die brutalen Lager an den EU-Aussen­grenzen ermög­licht (nennen wir es Labor­be­din­gungen), und trotzdem ein Problem in der Fixiert­heit auf Geschwin­dig­keit sehen: Irgend­wann geht es so schnell, dass ausge­schafft wird, bevor Einzelne über­haupt in der Lage sind, alle mögli­chen Verfah­rens­wege zu kennen, geschweige denn auszu­schöpfen. Vergleichbar im Krieg, wo die intel­li­gente Bombe einschlägt, ohne dass Zivilist*innen die Zeit hätten, wenig­stens mit einer weissen Fahne auf sich aufmerksam zu machen.

Was die Dromo­kratie in ihrem Beschleu­ni­gungs­wahn also aus dem Weg räumt, ist nicht ein Haufen verschwen­deter Zeit (wie es die Apologet*innen wiederum für beide Beispiele behaupten würden), sondern immer genau die Zeit­spanne, die nötig wäre, damit eine Person ihre Rechte geltend machen kann. Was nicht selten bedeutet, sich über­haupt erst als Mensch mit Menschen­rechten zu zeigen und zu verteidigen.

Und hier treffen sich dann wieder Welt­sy­stem und Einzel­bei­spiele. Denn auch im globalen Beschleu­ni­gungs­ka­pi­ta­lismus geht es im Kern darum, das Durch­setzen von Rechten zu verhin­dern. Man muss nur auf die bekannte Platt­form­öko­nomie mit Uber Eats, Deli­veroo und all den anderen schauen, in der Liefer- und Arbeits­zeiten auf das Mini­male verkürzt werden, so dass Streiks schon darum kaum zustande kommen, weil die Arbeiter*innen sich nicht mehr begegnen, nicht mehr austau­schen, keine Zeit mehr fürein­ander finden.

Womit die Dromo­kratie zu einer perfiden Diktatur wird, die ihre Macht mit der verschlei­erten Gewalt der Null-Reak­ti­ons­zeit durch­setzt: Natür­lich können alle tun, was sie wollen – es bleibt nur leider keine Zeit dafür.

Kein Rückzug ins Private

Es ist Fricks klar poli­tisch linker Perspek­tive zu verdanken, dass aus dieser Analyse keine neue Selbst­op­ti­mie­rungs­theorie folgt. Für Frick kann Wider­stand in der Dromo­kratie nicht Rückzug in private Frei­zeiten bedeuten. „Der einzige Weg zu Selbst­be­stim­mung“, schreibt er, „liegt in der Poli­ti­sie­rung der Geschwin­dig­keit und ihrer Zeit­er­fah­rungen.“ Das heisst: nicht Yoga und Medi­ta­tion als Auszeit für das Indi­vi­duum, sondern gemein­samer Kampf, um Zeit­räume aufzutun, in denen gemein­samer Kampf über­haupt erst wieder möglich wird. Mit Blick auf Platt­form­öko­nomie und Asyl­ver­fahren ist das ein alles andere als abstrakter Ansatz.

Gerne würde man in Politik der Geschwin­dig­keit mehr darüber lesen. Auch konkre­tere Beispiele zu Wider­stand und Repo­li­ti­sie­rung der Zeit wären hilf­reich. Dafür etwas weniger von der grossen histo­ri­schen Perspek­tive, die für eine glaub­wür­dige Theorie über dromo­kra­ti­sche Herr­schaft eher hinder­lich ist.

Leider bleibt die Anlei­tung zum Wider­stand – die der Unter­titel nun mal verspricht – in Andeu­tungen und kleinen Rekursen auf linke Protest­ge­schichte stecken. Früher, heisst es, hätten Aktivist*innen mit Metall­klam­mern auf der Ober­lei­tung Züge sabo­tiert, um das System auszu­bremsen. Schon wahr, denkt man da, fühlt sich aber sofort selbst wie die vorsint­flut­liche Metall­klammer im Hyper­loop: wirkungslos oder voll­kommen fatal? Man weiss es nicht und lernt in Politik der Geschwin­dig­keit auch wenig über zeit­ge­mäs­sere Sabotageakte.

Trotzdem leistet Jonas Frick mit seinem Buch einen wich­tigen Beitrag zur theo­re­ti­schen Durch­drin­gung von Arbeits­welt und Welt­po­litik. Er schafft es nämlich, beide wieder zusammen zu denken, indem er sie auf den gemeinsam Nenner Geschwin­dig­keit bringt. Damit öffnet er neue Perspek­tiven für kommende poli­tisch-ökono­mi­sche Kämpfe, sei es für Kurier*innen im Food Deli­very Service oder Menschen im Wider­stand gegen das Migrationsregime.

Politik der Geschwin­dig­keit sei darum all denen empfohlen, die gerne argu­men­tieren, dass in einer so frag­men­tierten Welt wie der unseren ein soli­da­ri­scher poli­ti­scher Kampf kaum mehr möglich sei. Die Frag­men­tie­rung, das zeigt Frick klar auf, ist unter Umständen auch nur ein Instru­ment zur Verschleie­rung von Herr­schaft. Die dahin­ter­ste­henden Mecha­nismen können dagegen erstaun­lich einfach sein, so einfach wie das Prinzip Geschwindigkeit.

Trans­pa­renz: Jonas Frick hat auch schon bei das Lamm publi­ziert. Der Autor unserer Rezen­sion und Frick kennen einander aber nicht persönlich. 

 


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