Es gibt Bücher, die schon im Titel so offensichtlich die gerade angesagten Begriffe zitieren, dass man dem Inhalt von vornherein nicht trauen mag: Die Zukunft nach Corona, Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise, In Zeiten der Ansteckung, Das Virus in uns usw. Eine kurze Online-Recherche fördert Tausende solcher Werktitel zutage.
Daneben aber existieren auch solche Bücher, die mit ihrem Titel an allem vorbei zu zielen scheinen, was die Welt gerade ausmacht. Politik der Geschwindigkeit von Jonas Frick ist so ein Beispiel. Frisch im Jahr 2020 erschienen – dem Jahr von Pandemie, Lockdown, Quarantäne und Stillstand –, trägt es den agitatorischen Untertitel: Gegen die Herrschaft des Schnelleren.
Das hat auf den ersten Blick eine gewisse Komik – steht doch momentan eh alles still –, ist aber mindestens mutig, wenn nicht genial. Und es weckt Interesse. Ein Interesse, das, wie schon mal festgehalten werden kann, die 230 Seiten von Politik der Geschwindigkeit trägt.
Uniseminar oder Streitschrift?
Und das, obwohl sich Jonas Frick erst mal wenig Mühe gibt, die Leser*in mitzunehmen. Sein Buch ist in weiten Teilen eine politikwissenschaftliche Abhandlung mit allen zugehörigen akademischen Ornamenten: endlos aufgefächerte Inhaltsverzeichnisse, die nicht zur Übersichtlichkeit beitragen; seminarartiger Aufbau mit ausführlicher Einleitung, einem Hauptteil mit langem Ausflug in die Geschichte und einem Schluss, der einordnet und nach vorne schaut. Dazu noch die passend abgehobene Sprache – und wir fühlen uns aufgefordert zu interpretieren und zu dechiffrieren.
Wer sich darauf aber einlässt, wird unter dem universitären Duktus mit einer sympathisch aufrührerischen Streitschrift belohnt. Eine kleine Kampfansage an die Herrschaft mittels Geschwindigkeit, oder, wie Frick es nennt: die Dromokratie. Und natürlich passt ein solches Buch in keine Zeit besser als in die Corona-Gegenwart, in der gerade durch das Ausbremsen, durch das gelegentliche Fehlen der Geschwindigkeit deren eigentliche Macht spürbar wird.
In Fricks Analyse ist Dromokratie das spätestens seit den Neunzigerjahren herrschende Weltsystem. Also ein globaler Kapitalismus, der über die Zusammenarbeit von Staaten, Konzernen und Zivilgesellschaft so ziemlich jeden Lebensbereich bestimmt. Was diese Dromokratie von anderen Systemen unterscheidet, ist das zugrunde liegende Herrschaftsprinzip: Wer schneller ist, hat die Macht. „Wir erleben eine aufkommende Hegemonie der Geschwindigkeit“, schreibt Frick, „in der das Rennen um das Höchsttempo zur Grundlage einer staatlichen, wirtschaftlichen wie persönlichen Handlungsmaxime wird.“
Die These ist verlockend einfach. Alles, was wir heute tun, ist darauf ausgelegt, die anderen an Geschwindigkeit zu überbieten. Und wer am schnellsten ist, hat gewonnen. Akteur*innen sind dabei Konzerne wie Amazon, wo die Kund*innen schneller als irgendwo sonst an die Ware kommen, Elon Musk mit seinem Hyperloop Projekt oder – um einen sehr dromokratisch auftretenden Staat zu nennen – China.
Die „Neue Seidenstrasse“ ist in Fricks Augen ein Paradebeispiel für die Funktionsweise der Herrschaft des Schnelleren. Für China besteht der Machtfaktor nicht mehr zuerst in billigerer Produktion, höherer Qualität oder militärischer Gewalt, sondern in einem weltweiten System von Vertriebswegen, das Waren, Menschen und Informationen schneller zusammenbringt, als die Konkurrenz es schafft.
Größenwahn mit Erkenntnisgewinn
Wenn sie dieses grosse Ganze in den Blick nimmt, kommt die fricksche Analyse zum Teil etwas grössenwahnsinnig daher. Sie versucht, die gesamte Welt auf das Prinzip der Geschwindigkeit zu reduzieren, findet Beispiele im Nahostkonflikt genauso wie im um sich greifenden E‑Scooter-Verleih. An solchen Stellen verliert sich das Buch dann auch sehr in der akademischen Selbstgenügsamkeit. Oder anders gesagt: Es bleibt seiner Klasse treu und quasselt dem Bildungsbürgertum nach dem Maul.
Und trotzdem wirft Politik der Geschwindigkeit ein erhellendes Licht auf aktuelle Politik: Vielleicht beissen sich die USA am konkurrierenden Hegemonen China gerade so sehr die Zähne aus, weil sie trotz aller Überlegenheit mit veralteten Waffen kämpfen. In einer Welt des Schnelleren verliert natürlich, wer wie ein Dinosaurier aus dem vergangenen Jahrtausend Zollschranken hochzieht und sich selbst ausbremst.
Wirklich spannend aber wird Politik der Geschwindigkeit, wenn es von der übertrieben grossen Welttheorie in die Details wechselt. Dann zeigt sich erstaunlich plausibel, wie das Dromokratie-Prinzip ins Leben der Menschen hineinregiert – mit teils fatalen Konsequenzen.
Zwei Beispiele bringen es auf den Punkt – und deuten Möglichkeiten zum Widerstand an. Interessant sind sie auch, weil in ihnen das gleiche Prinzip von unterschiedlichen politischen Akteur*innen gutgeheissen bzw. verurteilt wird: das Migrationsregime in der Schweiz und der Drohnenkrieg der USA seit der Obama-Ära.
In beiden Fällen ist das erklärte Ziel, die Abwicklungsgeschwindigkeit soweit wie irgend möglich zu erhöhen, um – wie man mit Frick sagen könnte – den Menschen zu erledigen. Bei der Migration geht es um die Beschleunigung der Asylverfahren, die gerne unter dem humanitären Aspekt schneller und eindeutiger Urteile verkauft wird. Im Drohnenkrieg soll die Reaktionszeit zwischen erkanntem „Problem“ im Krisengebiet und Ausschalten der Gegner*innen immer weiter verkürzt werden. Auch hier wird mit Menschlichkeit argumentiert, gehe es doch darum, aufkommende Kämpfe im Keim zu ersticken und zivile Opfer zu verhindern. Die Geschwindigkeit regiert, im Krieg wie in der Juristerei.
Was in beiden Fällen aber auf der Strecke bleibt – und das kann für das gesamte dromokratische System gelten – ist das Recht des einzelnen Menschen. Es wird ihm oder ihr genommen, weil die immer höhere Beschleunigung der Verfahren keine Zeit mehr lässt für eine adäquate Verteidigung: „In der Welt der Höchstgeschwindigkeit sind keine Rekursmechanismen vorgesehen.“
Keine Zeit für Menschenrechte
Mit Fricks Theorie kann man von einem Migrationssystem ausgehen, das prinzipiell faire Asylverfahren ohne strukturellen Rassismus und ohne die brutalen Lager an den EU-Aussengrenzen ermöglicht (nennen wir es Laborbedingungen), und trotzdem ein Problem in der Fixiertheit auf Geschwindigkeit sehen: Irgendwann geht es so schnell, dass ausgeschafft wird, bevor Einzelne überhaupt in der Lage sind, alle möglichen Verfahrenswege zu kennen, geschweige denn auszuschöpfen. Vergleichbar im Krieg, wo die intelligente Bombe einschlägt, ohne dass Zivilist*innen die Zeit hätten, wenigstens mit einer weissen Fahne auf sich aufmerksam zu machen.
Was die Dromokratie in ihrem Beschleunigungswahn also aus dem Weg räumt, ist nicht ein Haufen verschwendeter Zeit (wie es die Apologet*innen wiederum für beide Beispiele behaupten würden), sondern immer genau die Zeitspanne, die nötig wäre, damit eine Person ihre Rechte geltend machen kann. Was nicht selten bedeutet, sich überhaupt erst als Mensch mit Menschenrechten zu zeigen und zu verteidigen.
Und hier treffen sich dann wieder Weltsystem und Einzelbeispiele. Denn auch im globalen Beschleunigungskapitalismus geht es im Kern darum, das Durchsetzen von Rechten zu verhindern. Man muss nur auf die bekannte Plattformökonomie mit Uber Eats, Deliveroo und all den anderen schauen, in der Liefer- und Arbeitszeiten auf das Minimale verkürzt werden, so dass Streiks schon darum kaum zustande kommen, weil die Arbeiter*innen sich nicht mehr begegnen, nicht mehr austauschen, keine Zeit mehr füreinander finden.
Womit die Dromokratie zu einer perfiden Diktatur wird, die ihre Macht mit der verschleierten Gewalt der Null-Reaktionszeit durchsetzt: Natürlich können alle tun, was sie wollen – es bleibt nur leider keine Zeit dafür.
Kein Rückzug ins Private
Es ist Fricks klar politisch linker Perspektive zu verdanken, dass aus dieser Analyse keine neue Selbstoptimierungstheorie folgt. Für Frick kann Widerstand in der Dromokratie nicht Rückzug in private Freizeiten bedeuten. „Der einzige Weg zu Selbstbestimmung“, schreibt er, „liegt in der Politisierung der Geschwindigkeit und ihrer Zeiterfahrungen.“ Das heisst: nicht Yoga und Meditation als Auszeit für das Individuum, sondern gemeinsamer Kampf, um Zeiträume aufzutun, in denen gemeinsamer Kampf überhaupt erst wieder möglich wird. Mit Blick auf Plattformökonomie und Asylverfahren ist das ein alles andere als abstrakter Ansatz.
Gerne würde man in Politik der Geschwindigkeit mehr darüber lesen. Auch konkretere Beispiele zu Widerstand und Repolitisierung der Zeit wären hilfreich. Dafür etwas weniger von der grossen historischen Perspektive, die für eine glaubwürdige Theorie über dromokratische Herrschaft eher hinderlich ist.
Leider bleibt die Anleitung zum Widerstand – die der Untertitel nun mal verspricht – in Andeutungen und kleinen Rekursen auf linke Protestgeschichte stecken. Früher, heisst es, hätten Aktivist*innen mit Metallklammern auf der Oberleitung Züge sabotiert, um das System auszubremsen. Schon wahr, denkt man da, fühlt sich aber sofort selbst wie die vorsintflutliche Metallklammer im Hyperloop: wirkungslos oder vollkommen fatal? Man weiss es nicht und lernt in Politik der Geschwindigkeit auch wenig über zeitgemässere Sabotageakte.
Trotzdem leistet Jonas Frick mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag zur theoretischen Durchdringung von Arbeitswelt und Weltpolitik. Er schafft es nämlich, beide wieder zusammen zu denken, indem er sie auf den gemeinsam Nenner Geschwindigkeit bringt. Damit öffnet er neue Perspektiven für kommende politisch-ökonomische Kämpfe, sei es für Kurier*innen im Food Delivery Service oder Menschen im Widerstand gegen das Migrationsregime.
Politik der Geschwindigkeit sei darum all denen empfohlen, die gerne argumentieren, dass in einer so fragmentierten Welt wie der unseren ein solidarischer politischer Kampf kaum mehr möglich sei. Die Fragmentierung, das zeigt Frick klar auf, ist unter Umständen auch nur ein Instrument zur Verschleierung von Herrschaft. Die dahinterstehenden Mechanismen können dagegen erstaunlich einfach sein, so einfach wie das Prinzip Geschwindigkeit.
Transparenz: Jonas Frick hat auch schon bei das Lamm publiziert. Der Autor unserer Rezension und Frick kennen einander aber nicht persönlich.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 16 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1092 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 560 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 272 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Löse direkt über den Twint-Button ein Soli-Abo für CHF 60 im Jahr!