Zwei Tage nachdem der Bundesrat die Vernehmlassung zur Revision des Stromversorgungsgesetzes gestartet hat, sprach die scheidende Bundesrätin Doris Leuthard an der Universität Bern. Nach der richtungsweisenden Entscheidung zur Liberalisierung des Strommarktes hätte man erwarten können, dass das Thema in der Diskussion mit den Studierenden im Mittelpunkt stehen würde. Doch die Veranstaltung lief unter dem Motto „Politisches System der Schweiz“ und im Zentrum stand die Selbstbestimmungsinitiative der SVP. Diese schütze unser Erfolgsmodell nicht, sagte die Vorsteherin des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK). Sie sei vielmehr „ein gefährliches Experiment“.
Widersprechen mag man der CVP-Magistratin in dieser Sache nicht. Doch mit der von ihr vorangetriebenen Strommarktliberalisierung rüttelt die UVEK-Vorsteherin selbst am Erfolgsmodell Schweiz — und setzt mit ihrem eigenen fahrlässigen Experiment die Umweltziele des Bundesrats und den Service Public in der Stromversorgung aufs Spiel.
Die zwei Gesichter der Liberalisierung
Es ist nicht der erste Anlauf für eine vollständige Liberalisierung der Stromversorgung in der Schweiz. Seit 2007 sieht das Stromversorgungsgesetz (StromVG) eine Marktöffnung vor. In einem ersten Schritt wurde 2009 der Markt bereits für GrosskonsumentInnen, die über 100’000 kWh im Jahr beziehen, liberalisiert. Doch damit die Stromversorgung vollständig dem freien Markt übergeben werden konnte, brauchte es einen referendumsfähigen Bundesbeschluss. Die Rückmeldungen, die der Bundesrat zu diesem Beschluss erhielt, waren so vernichtend, dass er das Experiment 2016 vorerst zurückstellte. Einige sahen die Konkurrenzfähigkeit der Schweizer Stromversorger gefährdet, viele sorgten sich um die Energiewende. Aber schon damals war klar: Der Bundesrat wird an dem Vorhaben festhalten, denn es ist eine Voraussetzung für ein Stromabkommen mit der EU. Das bilaterale Stromabkommen zwischen der Schweiz und der EU, welches seit 2007 in Verhandlungen ist, würde der Schweiz Zugang zum deregulierten europäischen Strommarkt gewähren. Nun folgt der nächste Versuch.
Genau wie die GrosskonsumentInnen sollen nun auch die KleinkonsumentInnen in Zukunft jedes Jahr die Möglichkeit haben, aus der regulierten Grundversorgung auszutreten und in den freien Markt wechseln zu können – schliesslich seien 99% der BezügerInnen in der Grundversorgung „gefangen“. Das schreibt das UVEK in einer Medienmitteilung.
Die Liberalisierung kann immer mittels zweier Geschichten erzählt werden. Man kann von der Befreiung der einfachen KonsumentInnen vom Joch der staatlichen Regulierungen sprechen. Oder von der Untergrabung der Grundversorgung im Dienst des entfesselten Marktes. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte, doch das UVEK hat sich bewusst für die erste Version entschieden.
Verschlechterung der Finanzlage für die Grundversorgung
Soweit die Versuchsanordnung für den zweiten Anlauf dieses Experiments. Das Problem ist: Egal, wie oft man ein Experiment auch durchführt – wenn die Grundannahmen falsch sind, wird das Experiment immer wieder schieflaufen. Falsch ist bei dem Experiment „Vollständige Liberalisierung des Schweizer Strommarktes“ folgendes: Die Unternehmen, die neu am Strommarkt mitwirken würden, werden kaum KleinkonsumentInnen anwerben. Das vorgesehene Nebeneinander zwischen staatlichen Versorgern und Marktanbietern wird dazu führen, dass die weniger attraktiven KleinkundInnen in die regulierte Grundversorgung abgeschoben werden – was zu einer Verschlechterung ihrer Ertragslage führen kann. Trifft das zu, dann werden die Tarife für diese KundInnen steigen.
Das ist kein prophezeiender Blick in die Glaskugel, sondern entspricht den Erfahrungen aus der Deutschen Marktliberalisierung. Fünf Jahre nach deren Öffnung waren bei unserem Nachbarn nur noch 30% aller StromkundInnen in der Grundversorgung. Diese 30% sind aber keine heterogene Masse: Gerade KleinkonsumentInnen mit kleinem Budget bleiben in Deutschland in der Grundversorgung hängen. Das Versprechen sinkender Tarife hielt genau zwei Jahre – seitdem steigen diese kräftig. Zwar ist die Tarifsteigerung zu einem grossen Teil durch Faktoren erklärbar, die nicht direkt durch den Markt verursacht werden. Aber Studien zeigen deutlich, dass die Tarifsteigerungen überproportional auf die KleinkonsumentInnen abgewälzt werden, während sich die Tarife für GrosskonsumentInnen kaum verändern.
Die drohende Verschlechterung der Finanzierung der regulierten Grundversorgung ist jedoch nur eines der Dinge, die beim Experiment Strommarktliberalisierung in die Hose gehen könnten: Eine Entwicklung in Richtung Privatisierung führt zu einer Abwanderung von Geldern aus einem Bereich des Service Public an private AktionärInnen. Diese sind – zusammen mit den GrosskonsumentInnen – die grossen GewinnerInnen dieser Revision. KleinkonsumentInnen, BezügerInnen von Strom aus erneuerbaren Energieträgern und die übergeordneten ökologische Ziele und Versprechen des Bundesrats haben hingegen das Nachsehen.
Die Mär der mächtigen Konsumentin
Private Anbieter müssen sich nicht an politische und ökologische Zielsetzungen halten. Für Leuthards UVEK scheint das kein Problem zu sein, denn: Durch die freie Wahl können die KundInnen die „Weiterentwicklung der Stromversorgung“ beeinflussen. Konkret bedeutet das: Kauft euch doch ökologischen Strom, wenn ihr den Klimawandel bekämpfen wollt! Diese Individualisierung der Verantwortung für die grossen Probleme dieser Welt ist nichts Neues, sondern ein gebräuchliches, fast abgenutztes Mittel für Unternehmen und PolitikerInnen, sich unter dem Vorwand der Liberalisierung der Eigenverantwortung zu entziehen. Die KonsumentInnen seien doch am längeren Hebel und könnten ja durch Angebot und Nachfrage die Produkte nachhaltiger und umweltverträglicher gestalten. Wenn sie das dann nur wollten.
Das Problem dieser individualisierten Verantwortung beim Thema Energiewende liegt in der Markthierarchie. Normalerweise setzt moralische Verantwortung voraus, dass man tatsächlich die Möglichkeit hat, einen bedeutungsvollen Einfluss zu nehmen. Während KleinkonsumentInnen unbestritten mit ihrer Entscheidung einen Einfluss auf den Strommarkt haben können, ist dieser ungleich kleiner als die Möglichkeiten, welche der Politik und der Wirtschaft zur Verfügung stehen. In den Sitzungszimmern der Unternehmen und Politik – den Zentren von Kapital und Macht – wird die Verantwortung für die Energiewende und die Bekämpfung des Klimawandels überhaupt mit dem Kampfbegriff der „Liberalisierung“ an die KonsumentInnen abkommandiert. Die Gewinne kommen – wie immer – den AktionärInnen zu. Und weil Herr und Frau Schweizer in Zukunft ja die Wahl hatten zwischen grünem und nicht-grünem Strom, kann man die Dividendenausschüttung auch noch ohne schlechtes Gewissen geniessen.
Dass die Mär der allein verantwortlichen Konsumentin ihren Weg von der Teppichetage in einen Bundesratsbeschluss gefunden hat, darf längst nicht mehr überraschen. Doch mit der vollständigen Öffnung des Strommarktes setzt der Bundesrat seine eigenen Klimaziele und den Service Public aufs Spiel. Ein gefährliches Experiment.
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