Es ist Freitagabend und die Tische des kleinen Lokals im Zürcher Seefeld sind bis auf den letzten Platz besetzt. Drei Personen in weissen Oberteilen und schwarzen Schuhen balancieren hastig und gekonnt stapelweise Geschirr von einem Ende des Raumes zum anderen. Sie lächeln mit vollen Händen den hungrigen Gesichtern entgegen, geben Menüempfehlungen und erwidern den Smalltalk der Kundschaft. „Das eine ist die körperliche Anstrengung, die allein bereits extrem hart ist, der andere Teil ist die emotionale Arbeit, die wir leisten müssen“, erzählt uns Kim* (22). Seit drei Jahren ist Kim Teil des kleinen Familienbetriebs mit Bar und Restaurant.
Die Ausführung dieser emotionalen Arbeit wird als selbstverständlich erachtet, ihre Vergütung ist jedoch nicht geregelt. „Theoretisch werden wir für diese Bemühungen mit Trinkgeld bezahlt, was aber leider zu hundert Prozent vom subjektiven Empfinden sowie den Erwartungen und Ansprüchen der Kundschaft abhängt“, erzählt Kim und ergänzt: „Von Vorgesetzten wurde mir schon explizit gesagt, dass ich dafür da sei, dass Gäste ihre Sorgen bei mir abladen können.“
Arbeit, die nicht als solche anerkannt wird
„Das, was wir emotional leisten, wird überhaupt nicht anerkannt“, findet auch Rahel* (27), die seit neun Jahren in verschiedenen Betrieben als Kellnerin arbeitet. Dieses Problem fände man nicht nur im Gastgewerbe, es sei vielmehr ein gesamtgesellschaftlicher Missstand. „Ähnliche Zustände sehen wir etwa in Pflegeberufen,“ Hinzu käme, dass diese Form der Arbeit vor allem von FTIQ* (Frauen, Trans, Inter und genderqueeren) Personen geleistet würde: „Sich um andere zu kümmern, wird, sei es auch unbewusst, von Frauen, oder Menschen, die als Frauen gelesen werden, erwartet, als läge es in ihrer Natur.“
Diese lang internalisierten Erwartungen an bestimmte Personengruppen und die Vorstellungen davon, was Arbeit eigentlich bedeutet, machen es Frauen und genderqueeren Personen besonders schwer, sich zu wehren. Aus diesem Grund ist Kim auch Teil des Gastra-Kollektivs, das sich für Anliegen von FTIQ* Personen im Gastgewerbe einsetzt. Das Kollektiv hat sich in Zusammenhang mit dem feministischen Streik am 14. Juni 2019 gebildet. Dieser Zusammenschluss war besonders wichtig, da das Gastrogewerbe gewerkschaftlich nur schwach vertreten ist und lediglich durch den Landes-Gesamtarbeitsvertrag geschützt wird. So wurde endlich eine Plattform geschaffen, um sich über strukturelle Missstände und persönliche Erlebnisse im Gastgewerbe auszutauschen, sich zu organisieren und gemeinsam gegen die bestehende Situation anzukämpfen.
Der Chef im Raum
Das gesellschaftliche Empfinden, dass Männer mehr Autorität ausstrahlen als Frauen, beeinflusst den Arbeitsalltag im Gastrogewerbe massgeblich. „Die vereinzelt männlichen Kellner in unserem Betrieb müssen sich viel weniger von unfreundlichen Gästen bieten lassen, weil sie schneller ihre Grenzen aufzeigen dürfen und im übertragenen Sinn auf den Tisch hauen“, sagt Kim. Männer können sich dieses Verhalten leisten: Ihnen wird die direkte Verteidigung als positive Eigenschaft angerechnet. „Menschen hingegen, die weiblich sozialisiert wurden, lernen schon früh, dass von ihnen erwartet wird, sich anzupassen und es stets allen recht zu machen.“ Somit ist es für FTIQ* mit der reinen Nachahmung männlichen Verhaltens nicht getan. Vielmehr muss sich die allgemeine Wahrnehmung und Erwartung an genderspezifisches Verhalten ändern.
Dass es für Männer ein Vorteil ist, autoritärer wahrgenommen zu werden, ist auch die Erfahrung von Jannik* (26), der seit einigen Jahren neben dem Biologie-Studium in verschiedenen Bars in Zürich arbeitet: „Ich erlebe oft, wie mir als Mann mehr Respekt entgegengebracht wird. Es kam schon vor, dass sich Gäste unmöglich gegenüber Mitarbeiterinnen benahmen, durch meine blosse Präsenz aber plötzlich kooperativ wurden.“ Allerdings würden seine weiblichen Kolleginnen oft mehr Trinkgeld erhalten als er, was auch einem sexistischen Grundgedanken geschuldet sei. Dazu sei mehr Trinkgeld ein geringer Vorteil, da Jannik auch schon oft erlebt habe, dass männliche Mitarbeiter wie selbstverständlich befördert wurden, obwohl sie bloss „einen Bruchteil der Arbeitserfahrung“ ihrer Kolleginnen hatten.
So sei es auch Gang und Gäbe, dass „die männliche Person im Raum automatisch für den Chef gehalten wird“, sagt Mara* (24) und erzählt uns ein Erlebnis, das illustriert, wie die Fähigkeiten von Frauen heruntergespielt werden: „Meine Lieblingsgeschichte zu dem Thema ist die einer befreundeten Köchin und Sous-Chefin eines angesehenen Restaurants in Zürich“, beginnt die Vierundzwanzigjährige, die neben ihrem Studium als Umweltingenieurin in der Gastronomie gearbeitet hatte, ihre Geschichte. „Sie erzählte mir einmal, wie sie auf dem Gemüsemarkt war, um einzukaufen, als einer der Verkäufer anfing, mit ihr über Nahrungsmittel zu fachsimpeln. Sie erwähnte, dass sie Köchin sei und der Verkäufer erwiderte, dass auch er Koch sei und insistierte: „aber ein richtiger“. Darauf entgegnete die Köchin, dass auch sie eine „richtige“ Köchin sei. Der Verkäufer jedoch versuchte vehement den Unterschied zwischen ihnen beiden zu zementieren und ergänzte, dass er allerdings eine Ausbildung gemacht und in diversen Restaurants gearbeitet habe. So endet die Geschichte, denn die gelernte Köchin war zu baff, um zu antworten. Eine nachvollziehbare Reaktion und eine gefährliche Situation. Denn die Überheblichkeit gewisser Menschen versetzt andere in eine mundtote Schockstarre, sodass man verführt sein könnte, zu denken, sie hätten nichts zu sagen. Was wollte der Mann der Köchin gerade weismachen? Dass eine Köchin eben kein Koch ist! Denn immerhin sind alle Frauen zuhause Köchinnen. Wobei diese Arbeit nicht nur selbstverständlich ist, sondern auch weniger Wert hat, als ausser Haus fremde Leute zu bekochen.
Übergriffe haben viele Gesichter
Neben diesen sprachlichen Abwertungen kommen Diskriminierungen im Gastgewerbe vielschichtig daher: „Übergriffe jeglicher Art, innerhalb der Abhängigkeiten von Arbeitnehmenden, sind ein grosses Thema“, meint Kim. Sie kämen beispielsweise in Form von Chef*innen, die die Arbeitsrechte missachteten, indem sie keine Pausen erlaubten oder das Trinkgeld nicht auszahlten, weil es ein zu grosser zeitlicher Aufwand wäre, es genau zu berechnen. Was ebenfalls immer wieder vorkommt, sind sexistische Sprüche: Vom Klassiker „Lächle doch mal ein bisschen mehr!“ bis hin zu „Der Wein ist zu kalt, möchtest du ihn nicht zwischen deinen Schenkeln wärmen?“, sei alles dabei.
„Viele Leute scheinen auch zu denken, dass die Menschen, die im Gastrogewerbe arbeiten, nicht sehr intelligent sind“, meint Jannik. „Ich glaube, das verstärkt, dass uns gewisse Leute von oben herab behandeln und so ihre Rolle als Kund*innen ausnutzen. Meiner Erfahrung nach sind das vorwiegend Männer.“ Ähnlich sieht das auch Kim und führt aus: „Einige Menschen benehmen sich so, als stünden sie über uns, weil es unsere Aufgabe ist, sie zu bedienen.“ Natürlich gäbe es auch immer tolle Gäste, dieses Muster lasse sich aber trotzdem feststellen. Arbeitnehmende, gerade in Tieflohnsektoren, befinden sich durch ihre ökonomischen Situation in einer für sie ungünstigen Machtdynamik, die ausgenutzt werden könnte. „Die Menschen wissen ja, dass wir uns während der Arbeit nicht so benehmen und wehren können, wie wir es vielleicht privat tun würden.“
Die Schwierigkeit, sich angemessen zu verhalten, illustriert Kim an einem Beispiel, das vor einigen Monaten stattfand: „Es gab eine Situation, in der ein paar Stammgäste an der Bar standen, während ich und eine weitere Person hinter der Bar arbeiten mussten, als ein Gast mit Sehbeeinträchtigung dazu kam.“ Daraufhin hätten drei der männlichen Stammgäste begonnen, dem Blinden zu beschreiben, wie Kim und die andere Mitarbeitende aussahen: wie gross sie waren, welche Farbe ihre Haare hatten oder ob sie geschminkt waren. „Das war total unangenehm! Woher nahmen sie sich das Recht, das zu machen?“ Zu ihrem Glück schaltete sich daraufhin ihre Chefin ein und gab zu verstehen, dass dieses Verhalten inakzeptabel sei.
Das Wichtigste ist auch das Schwierigste: sich zu wehren
Wenn man sich wehrt, wird riskiert, dass einem noch mehr Gewalt angetan wird – sei es von Gästen, Mitarbeitenden oder Chef*innen – ausserdem kostet es sehr viel Energie, sich solch unangenehmen Situationen direkt zu stellen. Die Befürchtungen, dass man aufgrund eines solchen Verhaltens, das der Aufgabe als bedienende Person diametral entgegengesetzt ist, kein Trinkgeld erhalten könnte, sich über einen beschwert würde, die Gäste nicht wiederkämen oder man gar den Job verlieren könnte, seien omnipräsent. „Das sind furchtbare Situationen“, sagt Kim, „weil wir wissen, dass der einzig richtige Weg wäre, einfach auf den Tisch zu hauen und zu sagen: ‚Nein! So geht es nicht!‘ “
Meistens lasse man den Gästen ihr schlechtes Benehmen jedoch durchgehen. Das sei eine schwierige, aber stetige Gratwanderung: „Dadurch, dass wir im Betrieb untereinander mehr reden und auch unsere Chefin hinter uns steht, habe ich allerdings mehr Selbstvertrauen, mich künftig zu wehren“, sagt Kim bestimmt, aber ergänzt sofort: „Auch wenn ich dies als einzige Möglichkeit sehe, um dieses übergriffige Verhalten zu beenden, verstehe ich jede Person, die nicht auf diese Weise reagieren kann.“ Kims Arbeitskollegin zum Beispiel habe auf die Frage, ob und wie sie Diskriminierung in ihrem Arbeitsalltag wahrnehme, bloss geantwortet, dass sie nicht auch noch über den Sexismus reden wolle, den sie täglich erleben müsse.
Sich zusammenzuschliessen und zu organisieren ist das wirksamste Mittel gegen die Missstände. „Ich habe auch angefangen, Menschen, die im Gastro arbeiten, direkt anzusprechen und ihnen die Kontakte zu unserem Gastra-Kollektiv zukommen zu lassen“, erzählt Kim. Leider sei die Hürde, sich mit mehr oder minder fremden Menschen zu vernetzen, immer noch relativ gross. Ausserdem fehle es vielen Menschen an zeitlichen Ressourcen sowie an Kraft. „Doch es gibt verschiedene Wege sich politisch zu engagieren – und alle sind wichtig!“, versichert Kim zum Schluss. Sich im eigenen Betrieb über die Verhältnisse auszutauschen und Themen wie Lohn transparent zu besprechen etwa, wäre ein Anfang.
*Namen von der Redaktion geändert
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