Ener­gie­ver­sor­gung: Verzicht muss zum Poli­tikum werden

Die Einschrän­kung des indi­vi­du­ellen Lebens­stils ist eine Stra­tegie, um gegen Ener­gie­knapp­heit vorzu­gehen. Lange Zeit wollte das niemand hören. Neuer­dings fordern aber auch konser­va­tive Stimmen Verhal­tens­an­pas­sungen. Dies könnte der Start­punkt sein für eine längst über­fäl­lige Diskussion. 
Bild, das zeigt, dass Autos stehen gelassen werden müssen.
Damit alle mit weniger Energieverbrauch leben können, braucht es mehr als individuelle Konsumentscheide. Zum Beispiel: Politische Massnahmen, die autofreie Mobilität ermöglichen. (Illustration: Iris Weidmann)

Auto­freie Sonn­tage, Tempo­limit, ÖV ausbauen und Kurz­strecken­flüge redu­zieren: Diese Mass­nahmen könnten aus der Feder des Klima­streiks oder dem Forde­rungs­ka­talog einer grünen Partei stammen. Nur kommen sie dieses Mal von der Inter­na­tio­nalen Ener­gie­agentur (IEA). Die IEA wurde 1973 von der OECD gegründet, um die Ölkrise zu bekämpfen. Heute umfasst die Koope­ra­ti­ons­platt­form 31 Mitgliedsländer. 

Wieder­holt stand die IEA in der Kritik von Umwelt­or­ga­ni­sa­tionen, nicht genug dafür zu tun, die Ener­gie­wende voran­zu­treiben. Doch nun scheint sich der Graben zwischen der IEA und den Umwelt­or­ga­ni­sa­tionen zu verklei­nern. Denn: Neuer­dings stellt die IEA Forde­rungen, die vonseiten der Umwelt­or­ga­ni­sa­tionen schon seit mehr als 20 Jahren wieder­holt werden, bislang aber wenig Gehör gefunden hatten bei der IEA. 

Mitte März veröf­fent­lichte die Agentur einen Zehn-Punkte-Plan, in dem sie reiche Indu­strie­länder dazu auffor­dert, Mass­nahmen zur Reduk­tion des Ölver­brauchs einzu­leiten, um die infolge des Ukrai­ne­kriegs stei­genden Preise abzufedern. 

Die IEA verwendet in ihrer Veröf­fent­li­chung den Begriff „fort­ge­schrit­tene Volks­wirt­schaften“. Damit bezieht sie sich auf Länder, die beispiels­weise über ein hohes natio­nales Einkommen (Brut­to­na­tio­nal­ein­kommen) verfügen. Weitere Kenn­zahlen, die zur Bestim­mung verwendet werden, sind eine tiefe Kinder­sterb­lich­keits­rate sowie eine bestimmte Anzahl Jahre Schul­be­suche pro Kind (siehe Human Deve­lo­p­ment Index). Es gibt jedoch eigent­lich keine klaren Krite­rien, wann ein Land als „fort­ge­schritten“ bezeichnet wird und wann nicht.

Die Eintei­lung von Ländern in „fort­ge­schrit­tene“ und „entwickelnde“ Volks­wirt­schaften wird in den Sozial- und Wirt­schafts­wis­sen­schaften deshalb zuneh­mend hinter­fragt. Diese Eintei­lung entstammt einer­seits einem west­li­chen Verständnis von Fort­schritt und Entwick­lung, ande­rer­seits verän­dern sich die Lebens­be­din­gungen und somit auch gewisse Kenn­zahlen wie die Kinder­sterb­lich­keits­rate stetig. Die starre Eintei­lung von Ländern in „fort­ge­schritten“ und „entwickelnd“ bildet deshalb die globale Vertei­lung von Wohl­stand nicht akkurat ab. So verwendet beispiels­weise die Welt­bank die Begriffe nicht mehr in ihrer Datenanalyse. 

Auch das Lamm hat sich gegen die Verwen­dung dieser Eintei­lung entschieden, weshalb wir in diesem Artikel nicht die Bezeich­nungen aus dem Bericht der IEA über­nommen haben. Statt­dessen verwenden wir den Begriff „reiche Industrieländer“. 

Die zehn Punkte haben es in sich – denn sie sollen nicht nur die Teue­rung abfe­dern, sondern auch Russ­lands Einnahmen aus fossilen Ener­gie­trä­gern verklei­nern, die Nach­frage nach Erdöl in Rich­tung Nach­hal­tig­keit lenken und damit schluss­end­lich mithelfen, die Klima­ka­ta­strophe abzu­wenden. Also sozu­sagen vier Fliegen mit zehn Klappen schlagen. Konkret schlägt die IEA Folgendes vor:

  1. Senkung der Tempo­li­mits auf Auto­bahnen um minde­stens 10 km/h
  2. Möglichst dreimal in der Woche Homeoffice
  3. Auto­freie Sonn­tage in den Städten
  4. Vergün­sti­gung des öffent­li­chen Nahver­kehrs und Anreize für Fuss- und Radverkehr
  5. Wech­selnde Fahr­ver­bote für Privat­autos in Grossstädten
  6. Fahr­ge­mein­schaften und weitere Mass­nahmen zur Senkung des Kraftstoffverbrauchs
  7. Förde­rung von kraft­stoff­spa­rendem Fahren im Güterstrassenverkehr
  8. Hoch­ge­schwin­dig­keits- und Nacht­züge statt Flug­ver­kehr, wo möglich
  9. Vermei­dung von Geschäfts­flügen bei alter­na­tiven Optionen
  10. Mehr Nach­druck bei der Einfüh­rung von Elektro- und kraft­stoff­spa­ren­deren Fahrzeugen

Viele dieser Mass­nahmen sind nicht neu. Unge­wöhn­lich ist jedoch, dass diese von der IEA kommen. Denn mit Forde­rungen nach Verhal­tens­än­de­rungen war die IEA bislang sehr zurückhaltend.

Würden sich die Schweiz und alle anderen reichen Indu­strie­na­tionen ziel­strebig daran machen, diese Empfeh­lungen der IEA umzu­setzen, könnte die Ölnach­frage um 2,7 Millionen Fässer pro Tag gesenkt werden. Ein Fass entspricht 159 Liter. Umge­rechnet sind das also rund 430 Millionen Liter Öl pro Tag. Zum Vergleich: Die Schweiz verbrauchte 2020 im Tages­schnitt 27 Millionen Liter Erdöl

Erst­mals wird eine Verhal­tens­än­de­rung gefordert

Zum ersten Mal fordert die IEA also, dass wir unser Verhalten tatsäch­lich ändern, um Ölver­brauch und CO2-Emis­sionen zu redu­zieren. Sie fordert nicht nur, auf E‑Autos umzu­steigen, sondern das Auto stehen zu lassen. Sie fordert nicht nur, mehr in die Entwick­lung erneu­er­barer Treib­stoffe zu inve­stieren, sondern den Treib­stoff­ver­brauch durch ein Tempo­limit zu reduzieren. 

Das ist eine über­ra­schende Umori­en­tie­rung, bestä­tigt Irmi Seidl, Titu­lar­pro­fes­sorin für Umwelt­öko­nomie an der Univer­sität Zürich und Lehr­be­auf­tragte an der ETH: „Hier wird grade eine heilige Kuh geschlachtet: Die IEA hat mit diesem Zehn-Punkte-Plan einen Bruch mit einem Para­digma begangen.“

Die IEA fordert in ihrem Zehn-Punkte-Plan Dinge, die von liberal-konser­va­tiver Seite lange Zeit beisei­te­ge­schoben wurden. Doch diese Zeiten scheinen vorbei zu sein: „Wenn es die IEA sagt, kann es nicht mehr als über­zo­gene Forde­rung der Klima­be­we­gung abgetan werden und muss ernst genommen werden“, bestä­tigt Seidl. „Der Zehn-Punkte-Plan zeigt, dass die Nach­frage ein Hebel ist, um gegen die Klima­krise vorzu­gehen, unsere energie- und ressour­cen­in­ten­sive Lebens­weise bleibt nicht mehr unhinterfragt.“

Die Umset­zung des Zehn-Punkte-Plans ist nicht nur ein Appell der IEA an die Bevöl­ke­rung, sondern vor allem auch eine direkte Auffor­de­rung an die Politik. Weil die Schweiz IEA-Mitglied ist, kann sie deren Empfeh­lung nicht igno­rieren. Damit der Zehn-Punkte-Plan umge­setzt werden kann, würde es Verord­nungen, Mass­nahmen und allen­falls Verbote bedürfen, sagt Seidl.

Und die IEA ist nicht die einzige konser­va­tive Stimme, die seit Kriegs­aus­bruch die Umstel­lung auf einen spar­sa­meren Lebens­stil forderte. Der ADAC, die Auto­lobby aus Deutsch­land, ruft zu Fahr­rad­fahren und Tempo­re­duk­tion auf. In der Schweiz reichte Othmar Reich­muth, Natio­nalrat aus der Mitte-Partei, im März 2022 eine für seine Partei unge­wöhn­liche Motion ein. Darin fordert er den Bundesrat auf, Ener­gie­spar­mass­nahmen zu treffen. Konkret fordert er Mass­nahmen, die sich auf die Ände­rung von Gewohn­heiten konzen­trieren. Ist also tatsäch­lich ein Umdenken in Sicht?

Es wäre zu wünschen. Denn auch der im April erschie­nene dritte Teil des neusten Klima­be­richts fordert die Politik nicht nur dazu auf, die Ener­gie­wende voran­zu­treiben, sondern auch konkrete Mass­nahmen zu treffen, welche tatsäch­liche Verhal­tens­än­de­rungen zum Ziel haben. 

Verzicht – von der Privat­sache zum Gesellschaftsproblem 

Neu geht es also auch in konser­va­tiven Kreisen vermehrt um Verzicht, um das Ändern von Gewohn­heiten und um einen mass­vol­leren Umgang mit Ressourcen. Kurzum: Es geht um Suffi­zienz. Suffi­zient zu leben, bedeutet, durch Verhal­tens­än­de­rungen einen möglichst tiefen Rohstoff- und Ener­gie­ver­brauch anzu­streben. Das Problem: Bis jetzt fehlt es uns an einer gesell­schaft­li­chen Umsetzung.

Ein Blick in die natio­nale Ener­gie­stra­tegie 2050 ist bestes Beispiel dafür. Denn die Ener­gie­stra­tegie beinhaltet vor allem zwei Ziele: Ener­gie­ef­fi­zienz stei­gern und erneu­er­bare Energie fördern. Suffi­zienz bleibt als mögliche Stra­tegie aussen vor. Felix Nipkow der Co-Leiter vom Fach­be­reich Klima und erneu­er­bare Ener­gien der Schwei­ze­ri­schen Energie-Stif­tung hat die Erar­bei­tung der Ener­gie­per­spek­tiven 2050+ begleitet. Diese bilden die Grund­lage für die Weiter­ent­wick­lung der Ener­gie­stra­tegie 2050, mit der die Schweiz das Netto-Null-Ziel errei­chen will. „Bei der Ener­gie­per­spek­tive 2050+ wurden Mass­nahmen rund um Suffi­zienz bewusst nicht berück­sich­tigt“, bestä­tigt er. 

Ein Konzept, wie ein mass­voller Rohstoff- und Ener­gie­ver­brauch in die Realität umge­setzt werden könnte, hat die ETH Zürich entwickelt: Die 2000-Watt-Gesell­schaft. Das Konzept wird mitt­ler­weile auf natio­naler Ebene ange­wandt und ist Teil des Programms Ener­gie­Schweiz. Das Ziel: den Ener­gie­ver­brauch pro Kopf auf 2000-Watt zu redu­zieren. Momentan befinden wir uns in der Schweiz bei 5000-Watt pro Kopf. 

Im Leit­kon­zept der 2000-Watt-Gesell­schaft werden Stra­te­gien wie das Sanieren von Gebäuden oder der Einsatz von erneu­er­baren Ener­gien benannt, also Mass­nahmen, die nichts mit dem indi­vi­du­ellen Lebens­stil zu tun haben. Diese werden zwar mit indi­vi­du­ellen Mass­nahmen wie Flug­ver­zicht, Konsum­re­duk­tion oder regio­nalem Einkaufen ergänzt. Aber: Diese Mass­nahmen sind so formu­liert, dass deren Umset­zung und somit auch die Verant­wor­tung bei den einzelnen Konsument*innen bleibt.

„Es geht darum, Suffi­zienz poli­tisch zu machen“

„Das liegt daran, dass Suffi­zienz als ein indi­vi­du­elles Problem darge­stellt wird. Von Politiker*innen in der Schweiz wird es bis anhin höch­stens in Sonn­tags­reden erwähnt, um an die Eigen­ver­ant­wor­tung der Bevöl­ke­rung zu appel­lieren“, sagt Nipkow. Dabei gehe es darum, Suffi­zienz poli­tisch zu machen. Nur so werde sie durch die breite Bevöl­ke­rung umge­setzt und nicht nur durch die Wenigen, die ihr Leben bereits frei­willig umstellen würden, so Nipkow.

Ohne poli­ti­sche Mass­nahmen beginnt nur ein kleiner Teil der Bevöl­ke­rung suffi­zi­enter zu leben. Das bestä­tigt auch eine Studie der Zürcher Hoch­schule für Ange­wandte Wissen­schaften (ZHAW) von Ende 2021. Sie unter­suchte den mögli­chen Effekt von frei­wil­ligen Mass­nahmen auf die Reduk­tion von Treib­haus­gasen in der Schweiz und zieht zwei zentrale Schlüsse daraus. 

Wenn alle in der Schweiz lebenden Personen ihren Lebens­stil anpassen würden, könnte man damit die Treib­haus­gas­emis­sionen um etwa die Hälfte redu­zieren. Die Studie besagt aber auch, dass ein Szenario, in dem alle frei­willig auf Flüge verzichten und ihre Ernäh­rung umstellen, relativ unrea­li­stisch ist. Die Autor*innen gehen davon aus, dass höch­stens 20 Prozent der Bevöl­ke­rung dazu bereit sind, ihren Lebens­stil frei­willig anzupassen.

Die Studie zeigt, was Umwelt­be­we­gungen schon lange betonen: Eigen­ver­ant­wor­tung und tech­ni­sche Lösungen reichen nicht für Netto-Null.

Verzicht muss orga­ni­siert werden

Wird über Suffi­zienz disku­tiert, ist meist die Rede von Produkten oder Tätig­keiten, auf die verzichtet werden soll: weniger Fleisch, weniger Kaffee, weniger Auto­fahren. Seidl ist jedoch der Meinung, dass wir die Frage nach dem Verzicht präziser betrachten müssen: „Es geht nicht nur darum, suffi­zient zu leben und zu verzichten. Sondern auch darum, wer vor allem suffi­zient leben sollte, damit es spür­bare Wirkung hat und allen etwas bringt.“

Gegen­wärtig kann jede Person selber entscheiden, ob sie etwas zur Abschwä­chung der Klima­krise oder zur Siche­rung der Ener­gie­ver­sor­gung beitragen möchte oder nicht. Denn es gibt bis jetzt keine gesell­schaft­li­chen Spiel­re­geln dazu, wer wie viel Kosten oder Verzicht in Kauf nehmen muss. In anderen poli­ti­schen Berei­chen, wie zum Beispiel bei den Steuern, ist gesetz­lich fest­ge­legt, wer wie viel dazu beitragen muss, dass die Strassen instand gehalten werden können, die Klär­an­lagen laufen und das Verwal­tungs­per­sonal seinen Lohn bekommt.

Auf die Frage, wie genau solche Regeln zum gesell­schaft­lich orga­ni­sierten Verzicht aussehen könnten, gibt es wohl keine einfache Antwort. Was aber bereits jetzt klar ist: Es sind vor allem die reichen Indu­strie­länder, die nun liefern müssen. Denn laut der IEA machen sie fast 45 Prozent der welt­weiten Ölnach­frage aus. Ihr Anteil an der Welt­be­völ­ke­rung ist hingegen gering: Es sind nur etwa 15 Prozent. Die Umset­zung des Zehn-Punkte-Plans lohnt sich also vor allem hier, in den west­eu­ro­päi­schen Ländern. 

Mit einem vergün­stigten ÖV-Ticket macht Deutsch­land nun einen ersten kleinen Schritt: Ab Anfang Juni kann während drei Monaten jede*r für ledig­lich neun Euro pro Monat sämt­liche Regio­nal­züge besteigen. Das günstige Ticket soll Anreize setzen, um auf den ÖV umzu­steigen. Das Angebot ist aber auf drei Monate begrenzt. Ob weitere Länder nach­ziehen und gar lang­fri­stige Mass­nahmen wagen, wird sich zeigen. 


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