Das Bundes­ge­richt betreibt frau­en­feind­liche Symptombekämpfung

Künftig haben Frauen nach einer Schei­dung keinen grund­sätz­li­chen Anspruch mehr auf Unter­halts­zah­lungen des Ex-Part­ners – so will es das Bundes­ge­richt. Ein weiterer Schritt Rich­tung Gleich­stel­lung? Kaum. Denn was modern anmutet, ist in Wirk­lich­keit frauenfeindlich. 
Das Bundesgericht hat entschieden: Geschiedene Frauen sollen künftig noch weniger Geld haben. (Illustration: Jana Hofman, @janatschinski)

Das Bundes­ge­richt hat in einer Serie von Urteilen diverse Schutz­mass­nahmen für Frauen nach der Schei­dung ausge­he­belt: Künftig werden weder gemein­same Kinder noch ein fort­ge­schrit­tenes Alter als Grund für eine Unter­halts­zah­lung akzep­tiert. Neu sei immer der Einzel­fall entscheidend.

Was von Verbänden wie männer.ch und Alli­ance F gelobt und von Medien als „Revo­lu­tion“ beschrieben wird, ist eigent­lich nur eines: frau­en­feind­liche Symptombekämpfung.

Ja, in einer gleich­ge­stellten, fort­schritt­li­chen Gesell­schaft könnten sich Frauen und Männer scheiden lassen und ihren Lebens­un­ter­halt selbst­ständig bestreiten. Die Realität sieht jedoch anders aus: Viele verhei­ra­tete Frauen gehen keiner Lohn­ar­beit nach oder arbeiten Teil­zeit, insbe­son­dere wenn sie Kinder haben.

Einer­seits, weil unbe­zahlte Care-Arbeit immer noch als „Frau­en­ar­beit“ gilt und der gesell­schaft­liche Druck hoch ist, eine gute Haus­frau und Mutter zu sein. Ande­rer­seits, weil der Ehemann tenden­ziell mehr verdient und es sich deswegen schlichtweg lohnt, dass er mehr Lohn­ar­beit auf sich nimmt.

Nach einer Schei­dung stehen Frauen also meistens finan­ziell schlecht da. Die Gründe dafür sind viel­fältig: Erstens ist es schwierig, nach jahre­langer unbe­zahlter Care- oder Teil­zeit­ar­beit plötz­lich einen Voll­zeitjob zu finden. Zwei­tens sind Frauen oft in schlecht bezahlten Bran­chen tätig, etwa im Detail­handel, der Kinder­pflege oder dem Gesund­heits­be­reich. Und drit­tens werden Frauen syste­ma­tisch schlechter bezahlt als Männer.

Wie ein Pfla­ster auf einer Schusswunde

Das alles führt dazu, dass für geschie­dene Frauen das Risiko, Sozi­al­hilfe bean­tragen zu müssen, dreimal höher ist als für geschie­dene Männer. Und das war schon bisher so, also in einer Zeit, in der Unter­halts­zah­lungen des Mannes an die Ex-Frau üblich waren.

Nun hat das Bundes­ge­richt entschieden: Unter­halts­zah­lungen, die in den letzten zwei Jahr­zehnten sowieso immer seltener gespro­chen wurden, sollen künftig die Ausnahme darstellen. Das Bundes­ge­richt bekämpft so ledig­lich ein Symptom der fehlenden Gleich­stel­lung in der Schweiz – auf Kosten der geschie­denen Frauen.

Jetzt darauf zu hoffen, dass die Urteile die Politik unter Druck setzen werden, mehr Mass­nahmen für die Verein­bar­keit von Beruf und Familie zu ergreifen, ist zynisch. Aktivist*innen und NGOs kämpfen schon seit Jahren für Mass­nahmen wie bezahl­bare Kinder­be­treuung, die Schlies­sung des Gender-Pay-Gaps und eine gleich­be­rech­tigte Eltern­zeit.

Und wer jetzt mit Sätzen wie „Bleibt erwerbs­tätig!“ und „Inter­es­siert euch fürs Geld!“ an die Eigen­ver­ant­wor­tung von Frauen appel­liert, hat wohl ein biss­chen zu viel neoli­be­rale „Boss-Girl-Feminismus“-Luft geschnuppert.

Diese Bundes­ge­richts­ur­teile und insbe­son­dere die mediale Ausein­an­der­set­zung damit sind für die Gleich­stel­lung in der Schweiz etwa so nütz­lich wie ein Pfla­ster auf einer Schuss­wunde. Die Folge davon: Das Armuts­ri­siko für geschie­dene Frauen wird weiter steigen. Und einige Frauen werden sich dreimal über­legen, ob sie sich die Schei­dung leisten können und ob die schlechte bis gefähr­liche Ehe nicht doch das klei­nere Übel ist.


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